Der Sportverein – Eine nicht nur private Erinnerung

Eine für mich wichtige Begegnung mit dem Sport war jener Tag, als mein erster Trainer mir ein schwarzes Spieltrikot – damals noch ohne Nummer – überreichte, damit ich wenige Minuten später in diesem Hemd mein erstes Spiel für „meinen Verein“ bestreite. Gerade elf Jahre alt war ich zu diesem Zeitpunkt, und der Sportverein bedeutete für mich lediglich Handball, eine Übungshalle, den Sportplatz und das gezielte Üben und Trainieren auf die samstäglichen Wettkämpfe und Turniere. Mein Handeln war dabei ausgerichtet an den Spielern unserer 1. Mannschaft und hier vor allem an einem Nationalspieler, dessen Erfolge ich in der Zeitung auf Schritt und Tritt verfolgte und der nicht nur mich als Vorbild bis hinein in unsere Trainingsabende begleitete. Seinen Laufstil und seine Wurftechnik versuchten wir ebenso zu imitieren wie seine Sportkleidung und sein äußeres Auftreten. Was hat meine erste Sporterinnerung mit dem Sportverein zu tun? Inwiefern ist diese Erinnerung typisch? Worin liegt ihr deutender Wert für die aktuelle Situation der deutschen Sportvereine?

Zunächst ist es lediglich eine Kindheitserinnerung, die mir als dem Schreibenden dieser Zeilen sehr wichtig geworden ist. Seit dieser Trikotübergabe bin ich Mitglied in ein und demselben Verein geblieben und habe viele Freunde in diesem Verein gefunden, die mir auch heute, trotz vielfältiger beruflicher Veränderungen und häufigen Wohnortwechsels, immer noch als Freunde gelten. Heute ist der Nationalspieler, an dem sich damals die Elfjährigen orientierten, mehr als achtzig Jahre alt und sechzig Jahre sind vergangen, seitdem ich mein erstes Spiel für die C-Jugend meines Vereins bestritt. Spiele in der B- und A-Jugend, in verschiedenen aktiven Mannschaften und nicht zuletzt die Meisterschafts- und Turnierspiele in der Altherrenmannschaft haben mir zwischenzeitlich eine Vielzahl an wichtigen Erfahrungen im Sport ermöglicht. Nicht zuletzt war es meine Begegnung mit dem Sport in der Jugend, die mich veranlasst hat, mich auch beruflich mit dem Sport auseinanderzusetzen. Die dabei erforderliche Distanz macht es mir möglich, den Sportverein in seiner Allgemeinheit, aber auch meinen eigenen Verein sehr viel differenzierter zu betrachten. Aus pädagogischem Blickwinkel zeigt sich der Sportverein dabei nicht weniger schillernd in seiner Wirkung als aus einer soziologischen Perspektive.

Eines scheint dabei sicher zu sein: Die gängigen Klischees von der Vereinsmeierei und der Leistungsfabrik treffen auf die alltägliche Situation des Sportvereins nicht zu und haben vermutlich auch noch nie zugetroffen. Gewiss ist auch heute noch der deutsche Sportverein eine Besonderheit, die auf historischer Tradition beruht, und in der Geselligkeit und Gesinnung ebenso ihren Platz haben, wie ein modern organisierter Wettkampfbetrieb. Die historische Auseinandersetzung zwischen den Turnvereinen auf der einen und den Sportvereinen auf der anderen Seite ist jedoch längst überwunden. Schadete 1923 dem Turnen die „Reinliche Scheidung“ weit mehr als dem Sport, so können heute die deutschen Sportvereine zumeist nachhaltig vom Ideenreichtum und von der Vielfalt ihrer Turnabteilungen profitieren. Mittlerweile gibt es mehr als 90000 Turn- und Sportvereine in der Bundesrepublik Deutschland und mehr als 30 Millionen betreiben in den verschiedenen Abteilungen dieser Vereine Sport. Von Vereinsmüdigkeit kann also nicht die Rede sein, wenngleich es offensichtlich ist, dass die Vielzahl der neuen Vereinsgründungen sich auch im Konflikt zur traditionellen Vereinsstruktur beschreiben lässt
Dem Sportverein als Massenphänomen – das kann kaum überraschen – wird mittlerweile eine Vielfalt von sozialen Funktionen zugewiesen. So nimmt der Deutsche Olympische Sportbund als die Dachorganisation der deutschen Vereine für sich in Anspruch, den größten Beitrag zur Gesundheit des deutschen Volkes zu leisten und er glaubt, mit der Stärkung des Gemeinschaftsbewusstseins eine wichtige soziale Funktion und volkspädagogische Aufgabe zu erfüllen. Auf der Grundlage dieser Auffassung wird vom Gesetzgeber den deutschen Sportvereinen der Status der Gemeinnützigkeit zugebilligt, und daraus resultiert auch die Forderung nach Unterstützung beim Bau der Sportstätten und der Vereinsheime.
Die traditionsreiche Idee der Sportvereine ist dabei jene moderne Idee, die heute in vielen Bürgerinitiativen zum Tragen kommt. Der Sportbetrieb in den Sportvereinen ist eine Sache der Initiative freier Bürger. Deshalb fordert die deutsche Vereinsbewegung, dass neben den eigenen Leistungen (Mitgliedsbeiträge) zu diesem Zweck subsidiär öffentliche Mittel bereitgestellt werden und die Bewirtschaftung dieser Mittel in eigener Regie erfolgt. Turn- und Sportvereine beschäftigen auf diese Weise haupt- und nebenamtliche Übungsleiter[1] und unterbreiten ein vielfältiges Freizeitangebot für die Bürger von Gemeinden. Das Prinzip der Subsidiarität, das sich auch in anderen gesellschaftlichen Sektoren bewährt hat, kennzeichnet auf diese Weise das Verhältnis der deutschen Sportvereine zur Gesellschaft und zum Staat.

Das tragende Prinzip der Vereine ist jedoch nach wie vor das „Tun um seiner selbst willen“, das selbstlose sich einsetzen für die Belange des Sports und hier vor allem für den Sport der Jugendlichen, das Prinzip der Ehrenamtlichkeit also.
Jüngste Entwicklungen machen freilich deutlich, dass beide Prinzipien durchaus gefährdet werden können. Die wachsende politische Bevormundung des Sports gefährdet das Prinzip der Subsidiarität, und der Modernisierungstrend, dem nahezu alle Vereine mittlerweile ausgeliefert sind – insbesondere die kaum noch zu übersehende Kommerzialisierung -, rüttelt am Prinzip der Gemeinnützigkeit. Werden die deutschen Sportvereine in der Zukunft Handelsgesellschaften sein? Müssen sich zukünftig Vereinsmitglieder zwangsläufig als lebende Litfasssäulen zur Verfügung stellen? Solche und ähnliche Fragen stellen sich bereits heute in all jenen Vereinen, die sich in ihrer Finanzierung von der Basis des Mitgliedsbeitrages und der öffentlichen Zuschüsse gelöst und neue risikoträchtigere Finanzierungsquellen erschlossen haben.
Dessen ungeachtet sind auch heute noch die Turn- und Sportvereine bedeutsame „intermediäre Gebilde“, die zwischen dem Individuum und unserer Gesellschaft vermitteln, anregen, ausgleichen und integrieren können und die große Kluft zwischen privatem und öffentlichem Raum überbrücken helfen.
Ohne Zweifel stellt das Sporttreiben im Verein für den Sporttreibenden selbst einen wichtigen Ausgleich und eine Regenerationsmöglichkeil gegenüber den Belastungen durch die industrielle und bürokratisierte Arbeitswelt dar. Ausgleich und Regeneration bietet er aber nicht nur für all jene, die stundenlang eine sitzende Tätigkeit am Schreibtisch, vor einer Maschine oder im Wagen ausüben, er kann auch alten Menschen, Schülern und Jugendlichen, unter bestimmten Umständen auch Arbeitslosen, eine Ausgleichs- und Regenerationsmöglichkeit bieten.
Gewiss wird die Gesundheitsfunktion des Sports in unserer Gesellschaft (aber auch von Sportfunktionären) überschätzt; doch zweifelsohne trägt ein aktives Tun im Sport zum Wohlbefinden bei, und Herz-Kreislauf-Erkrankungen kann durch ein geregeltes Engagement zumindest nachhaltig vorgebeugt werden. Heute ist es mehr denn je zuvor ein Motiv, Sport aus Gesundheitsgründen zu treiben Ein langfristiges Engagement im Sportverein als aktiver Sportler ist jedoch meist nur sehr selten mit diesem Motiv allein zu erklären.
Die Möglichkeit zu körperlicher Bewegung im Sportverein ist immer auch eine Gelegenheit zur seelischen und erzieherischen Weiterentwicklung. Wer Samstag für Samstag in einer Wettkampfmannschaft um Punkte spielt, erfährt und übt das Spannungsverhältnis von Konkurrenz und Solidarität auf eine spielerische Weise.
Insofern kann dem Sportverein eine charakterprägende Wirkung zugesprochen werden. Hinzu kommt, dass im Sportverein die soziale Begegnung und Integration unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, das heißt unterschiedlicher Berufs- und Bildungsschichten, in unterschiedlichem Lebensalter und verschiedenen Geschlechts, möglich ist.
Doch auch diese Möglichkeit wird von den Verantwortlichen im deutschen Sport häufig überschätzt; soziale Unterschichten sind bis heute unterrepräsentiert, wenngleich gerade in den letzten Jahren hier ein positiver Wandel zu beobachten ist. Ohne Zweifel ist es jedoch den Vereinen gelungen, einen wichtigen Beitrag zur Integration von Heimatvertriebenen und Ausgebombten nach dem II. Weltkrieg zu leisten und auch heute gelingt es ihnen noch, bei einer zunehmenden beruflichen und örtlichen Mobilität der Bevölkerung, Zugereisten, in jüngster Zeit aber immer häufiger auch Geflüchteten eine heimatliche Eingewöhnung zu bieten und eine Eingliederung in das Gemeinwesen der Gemeinde zu eröffnen. Insofern stellen Sportvereine einen „Verdichtungs- und Aktivitätskern“ – so der Soziologe Wurzbacher – im gemeindlichen Leben dar. Mit den Namen von Gemeinden werden nicht selten Vereinsnamen verbunden, die im Wettkampf besonders erfolgreich abgeschnitten haben. Gemeindemitglieder identifizieren sich mit den Erfolgen der Vereine und die geselligen Veranstaltungen der Vereine sind bedeutsame Termine im kulturellen Jahreskalender vieler Gemeinden. Schließlich bietet der Verein seinen Mitgliedern auch ein Feld für die Einübung wichtiger sozialpolitischer Handlungsmuster. Im Verein können sich Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens bewähren, politisches Handeln kann im Verein gelernt werden, zumal alle deutschen Sportvereine über ihre Satzungen die entsprechenden Ziele und Verfahrensweisen aufweisen. Demokratische Formen der Führung und Verwaltung kommen täglich in der Vereinspraxis zum Tragen, wobei dies alles auf der Basis der Ehrenamtlichkeit geschieht. Auf diese Weise ist der Sportverein ein bedeutsames Symbolsystem für unsere Gesellschaft, in dem ein „Tun um seiner selbst willen“ möglich ist und nicht zwangsläufig das Prinzip Arbeit gegen Bezahlung im Vordergrund zu stehen hat. Dies wird auch zukünftig ein wichtiges Überlebensprinzip der deutschen Sportvereine sein. Möglicherweise kann gerade in den Sportvereinen aufgezeigt werden, wie menschliches Zusammenleben auch vor dem Hintergrund knapper werdender Ressourcen möglich ist.
Kommen wir noch einmal auf meine Kindheitserinnerung zurück. Bei aller differenzierten Betrachtungsweise, die zusätzlich in Bezug auf die Geschichte des Sportvereins, dessen aktuelle politische und organisatorische Verfasstheit notwendig wird, weist diese Erinnerung auf wesentliche Aspekte des deutschen Sportvereinsgedankens hin. Im Mittelpunkt des Vereins stand und steht bis heute der sportliche Wettkampf und dessen implizite Idee, dass eine faire Auseinandersetzung mit dem Gegner immer nur dann möglich ist, wenn man erkennt, dass man auch auf den Gegner angewiesen ist. Die Erinnerung macht auch deutlich, dass das Sportvereinsmitglied seinen Verein in erster Linie über eine Sportart erlebt. Die Sportabteilung ist gleichsam der Verein im Verein; in ihr lebt die Idee des deutschen Sportvereins. Schließlich macht das Beispiel auch deutlich, dass sich im Zentrum der Organisation des Vereins die Wettkampfmannschaften der Aktiven befinden. An ihnen orientiert sich der Jugendsport, und von ihrer Qualität hängt es ab, ob es auch nach Beendigung der aktiven Sportlerkarriere noch einen aktiven Vereinssport für die älteren Vereinsmitglieder gibt. Die Kindheitserinnerung macht aber auch deutlich, wer die wichtigen Personen im Vereinsleben sind. In erster Linie sind es die Aktiven selbst; sind sie erfolgreich, so sind sie die Idole der Kinder und Jugendlichen. Daneben sind es die Jugendleiter und Trainer, mit denen man als Vereinsmitglied ganz unmittelbar in Berührung treten kann. Weit weniger bedeutsam sind die so genannten Funktionäre, jene Männer und Frauen im Hintergrund, die es ermöglichen, dass im Verein Sport getrieben werden kann. Damit verweist das Kindheitsbild auch auf die aktuellen Probleme der Vereinsorganisation. Ehrenamtliche Mitarbeiter zu rekrutieren, ohne ihnen Anerkennung anbieten zu können, scheint zunehmend zu einem Problem der Vereine geworden zu sein. Findet sich relativ leicht ein Kandidat für den Posten des Vereinspräsidenten, der die Möglichkeit zur Repräsentation nach innen und außen hin verspricht, so sind die weniger attraktiven Posten im Verein nicht selten lediglich mit Hilfe von Überredungskünsten zu besetzen.
Die Annahme, dass man für jedes Amt einen Experten benötigt, und die damit verbundene Zunahme der Anforderungen, die an ein Amt im Verein gestellt werden, haben die Einstellung der Mitglieder zum Ehrenamt beeinflusst und verrändert. Nicht mehr die Bereitschaft ein Amt zu übernehmen, ist entscheidend, erst muss die Angst überwunden werden, den überzogenen Erwartungen der Mitglieder nicht gewachsen zu sein. Gerade in diesem Zusammenhang wurde meines Erachtens in den letzten Jahren erheblich gesündigt. Man sollte sich in Zukunft vor Augen halten, dass in der Organisation des Sports ein hohes Maß an Koordinationsbedarf erforderlich ist, wie es in Organisationen anderer Systeme eher die Ausnahme darstellt. In den Vereinen wirft man sich dies meist gegenseitig vor und verweist auf bessere Organisationsmodelle aus dem Bereich des Geschäftslebens, hierbei wird aber meist übersehen, dass eine Sportvereinsorganisation mit professionellen Organisationssystemen außerhalb des Sports eigentlich nicht vergleichbar ist. Der Sport ist kein Produkt vergleichbar mit einem Waschmittel, das ein Industriebetrieb produziert. Ein Sportverein ist eine freiwillige Organisation, die in erster Linie auf dem Prinzip der Ehrenamtlichkeit basiert. Sind einem diese Merkmale wichtig, und ich meine, sie sollten es sein, so wird sich eben vieles weniger leicht organisieren und anbieten lassen als in einer technisch perfekten Organisation. Dafür lassen sich in unseren Vereinen aber Einstellungen und Werte tradieren, die – so meine ich – heute mehr denn je wichtig geworden sind. Es wäre fatal, würden wir die Effizienz unserer Vereine nur noch an den Mitgliederzahlen messen. Effizienzkriterien, die sich Vereine selbst zu stellen haben, sollten in erster Linie am Auftrag der Vereine orientiert werden, und der heißt keineswegs, dass wir mit möglichst geringem Aufwand möglichst viele Menschen durch die Sportangebote unserer Vereine schleusen. Dort, wo Vereine nur noch unter dem Aspekt der Rationalisierung und ökonomischen Wirtschaftsführung handeln, wo sie also einem allgemeinen Modernisierungsdruck unserer Gesellschaft nachgeben, dort ist in der Regel die Ehrenamtlichkeit gefährdet.
Tun das die Vereine, und einige haben es ja getan, so wird die ehrenamtliche Organisation auf lange Sicht kaum überleben können. Die Vereinsarbeit wird dann nämlich Qualifikationen erfordern, die nur noch wenige Ehrenamtliche erbringen werden. Wer sie erbringt, unterliegt dabei der Gefahr, durch sein zeitaufwendiges Engagement im Verein Erfolge und Karriere im Beruf zurückstehen zu lassen. Für die Mitglieder wären die Konsequenzen aber ebenso weitreichend. Nimmt das Zugehörigkeitsgefühl zu einem Sportverein ab, so verringert sich auch die Möglichkeit, im Verein seine emotionalen Bedürfnisse auszuleben. Bereits heute kann man erkennen, dass in Vereinen, die lediglich auf Mitgliederzuwachs gesetzt haben, wichtige Erlebnisse und Erfahrungen verloren gegangen sind, die man einstmals in diesen Vereinen noch machen konnte. Solche Vereine haben nur noch begrenzt sozialintegrative Wirkungen, sie sind nur noch selten das lokale Informationssystem einer Gemeinde, wo man das Neueste am Vereinsstammtisch aushandelt, und nur noch am Rande sind solche Vereine ein Erprobungsfeld für den Erwerb wichtiger demokratischer Fähigkeiten. Es wird nicht mehr unmittelbar erfahren, wie Entscheidungen getroffen werden, wie delegiert und gewählt wird, wie die Finanzmittel verteilt werden, wie also im Kleinen demokratisch regiert wird. Sollen sich unsere Vereine durch diese Merkmale auszeichnen, so können sie dies freilich nur, wenn wir akzeptieren, dass nicht alles perfekt sein kann, wenn Ehrenamtliche einen Verein führen. Es ist dann zu akzeptieren, dass auch skurrile Persönlichkeiten Vereinsämter ausfüllen, dass manche Posten mit „Nieten“ besetzt sind und dass sich ehrenamtliche Funktionäre eben auch ganz einfach irren können.
Meine Kindheitserinnerung ist freilich dennoch nicht objektiv. Als Jugendlicher, für den sein Sportengagement nur an einem Ziel ausgerichtet war, nämlich einen Platz in der Bundesligamannschaft seines Vereins zu finden, war ich kurzsichtig genug, eine Vielzahl von Problemen zu übersehen, die sich bereits zu jener Zeit um mein Engagement herum in vielen Sportvereinen entwickelt hatten. Meine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Sports macht es mir jedoch möglich, heute auch einige weniger positive Erinnerungen wachzurufen. Erinnere ich mich richtig, so sind zum Beispiel die aktuellen Probleme der Jugendvereinsarbeit auch die historischen Probleme des Sportvereins. Das Angebot in den Jugendabteilungen ist meist ein Abklatsch des Erwachsenenangebots. Die Sportdisziplinen der Erwachsenen betreiben auch die Jugendlichen, und sie tun dies meist nach den gleichen Prinzipien und Organisationsformen. Es geht also um Konkurrenz und Leistung, man trainiert und betreibt Wettkämpfe. Der ökologische Rahmen der Jugendarbeit entspricht meist ebenfalls dem des Erwachsenensports. Die Hallen und übrigen Sportanlagen haben – wenn überhaupt – internationale Erwachsenenmaße. Die Sportgeräte werden an den Erwachsenenmaßen ausgerichtet Die Sportgaststätten sind in erster Linie die Begegnungsstätten für Erwachsene und so sind sie auch konzipiert. Auf einen Nenner gebracht heißt das: Die Vereinswelt wird von Erwachsenen dominiert, und zwar so dominant, dass davon selbst die Farbe der Wände, das Mobiliar, die Sitzordnung, die Musik bei den Vereinsgeselligkeiten und das Essen in den Vereinslokalen bestimmt werden.

Von besonderer Problematik ist die Situation der weiblichen Jugendlichen im Verein. Das ausgeprägte Mittelschicht-Syndrom deutscher Sportvereine zeigt sich bei dieser Gruppe besonders deutlich. Das Sportangebot ist offensichtlich für Mädchen unterer sozialer Schichten nicht attraktiv; das pubertätsbedingte verstellte Verhältnis zur körperlichen Bewegung wird bei dieser Gruppe nur selten aufgefangen und bewirkt meist eine völlige Bewegungsabstinenz. Dies hängt nicht zuletzt auch damit zusammen, dass die Jugendlichen in den Vereinen nach echten Sportlern und „Flaschen“ sortiert werden. Der Verlust weiblicher Jugendlicher ist auch deshalb um ein Vielfaches höher als der männlicher. Keineswegs neu ist auch das Problem der Kommerzialisierung, die Frage der Konkurrenz zwischen Freizeit- und Wettkampfsport, und bereits zu jener Zeit stellte sich die Frage, inwieweit der Sportverein seiner Integrationsaufgabe gerecht wird. Jugendliche, die in unsere Vereinsübungsabende kamen, die aber weniger leistungsfähig als die Stammspieler gewesen sind, wurden nicht selten mit Unterstützung der Übungsleiter, von dem Verein „getrennt“.

Sport wurde von uns Jungen als „Männersache“ empfunden, er war ein Männlichkeitsritual, das nicht zuletzt auch durch alkoholische Zeremonien gefeiert wurde.
Sehr früh stellte sich auch die Frage nach der Entschädigung für das sportliche Tun. Fahrtkostenerstattung war das moderne Thema und kostenlose Sportkleidung (was schon damals mit Werbetätigkeit gekoppelt war) der hohe Anreiz für ein höheres Trainingspensum. Der Abstieg aus der Bundesliga und die damit verbundenen Bemühungen um einen Wiederaufstieg machten zu dieser Zeit bereits auch drastisch deutlich, dass mit guter Aufbauarbeit im Jugendbereich im nationalen Wettkampfsport nur noch im Ausnahmefall Lorbeeren zu ernten sind. Spielerabwerbungen, Spielereinkäufe, die Suche nach finanzkräftigen Sponsoren, der Versuch einer Finanzierung über Banden- und Trikotwerbung zeigten bereits damals, wo langfristig Probleme der Sportvereine liegen werden. Meine Abteilung hat sich dabei für den Weg der ehrenamtlichen Selbstfinanzierung entschieden. Sie hatte sich gegen das Modernisierungskonzept ausgesprochen, das sich zu dieser Zeit auf dem Siegeszug befand. Dies hat zum Verlust der Wettbewerbsfähigkeit geführt. Wenige Jahre später spielte die 1. Mannschaft dieser Abteilung nur noch in der Kreisklasse mit mehr oder weniger großem Erfolg. Das Vereinsleben wird geprägt durch gemeinsame Ausflüge, Jahresfeiern, Frühlingsfeste, Tanzabende. Bergtouren und Radwanderfahrten ergänzen das Programm. Noch immer ist es eine dominante Männergesellschaft, Frauen sind gleichsam zierliche Garnierung.
Angesichts des allgemeinen Wertewandels in unserer Gesellschaft scheint es heute sehr viel schwieriger zu sein, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob diese Abteilung den richtigen Weg gegangen ist. Jene Vereine, die dem Modernisierungstrend folgten, konnten ganz ohne Zweifel den Konkurrenzansprüchen des modernen Wettkampfsports besser genügen. Letztlich wird in diesen Mannschaften jedoch auch nur Handball gespielt. Die Frage muss gestellt werden, in welchen Spielen die Akteure mehr den eigentlichen Sinn des Spielens erfahren. Gewiss tragen die Wettkampfspiele der kommerziell geführten Mannschaften durch ihren Unterhaltungswert dazu bei, dass Menschen Spaß am Sport finden.
Das Spiel der Akteure selbst ist jedoch zunehmend ergebnisorientiert. Im Extremfall führt dies bereits soweit, dass selbst die Mitspieler der eigenen Mannschaft als Konkurrenten betrachtet werden, da es ja um Geldprämien und um Karriere geht. In vielen Fällen hat diese Entwicklung dazu geführt, dass die gesellige Funktion des Sporttreibens auf der Strecke bleibt und nach Beendigung der sportlichen Karriere die Sportgemeinschaft aufgelöst wird.
Will man beide Entwicklungen bilanzierend miteinander vergleichen, so scheint eines ganz ohne Zweifel feststellbar zu sein: Der Vereinssport befindet sich in einer konfliktträchtigen Auseinandersetzung. Widmet er sich in letzter Konsequenz dem Spitzensport, so gefährdet er seinen selbstgestellten sozialpolitischen Auftrag. Gibt er sich jedoch nur dem sog. Freizeitsport hin, so entzieht er sich jener Idee, die bis heute seine Identität gekennzeichnet hat: Der Idee des Wettkampfs und der sportlichen Leistung. Die Zukunft des Sportvereins wird nicht zuletzt dann gesichert sein, wenn er zwischen diesen Aufgaben vermittelnd balancieren kann. Das eine tun heißt das andere nicht lassen.
Auch heute brauchen Jugendliche möglicherweise mehr denn je ihre Vorbilder und auch heute kann es ein elementares Erlebnis für Kinder und Jugendliche sein, wenn sie zum ersten Mal das Sporttrikot einer Mannschaft tragen dürfen. Die fröhlichen Augen von Kindern, die Samstag für Samstag diese für sie neue Erfahrung machen, sind ein hinreichendes Indiz dafür, dass der Vereinssport eine große Zukunft hat. Nicht weniger strahlend sind jedoch die Augen all der Behinderten, der motorisch Gehemmten oder all jener Menschen, die aus Altersgründen in ihren motorischen Fähigkeiten eingeschränkt sind. Bei ihnen geht es nur bedingt um das Überbieten, um das Bessersein, um den Tabellenstand, um den Rekord, wenn sie Sport treiben. Individuelles Leisten im Sport muss sich nicht in Sportarten vollziehen. Dies zeigt sich bei einer Stuhlgymnastik im Altersheim und bei einem geglückten einbeinigen Halteversuch von Behinderten ebenso wie bei einer gekonnten Vorführung einer Kinderspielgruppe bei der Vorweihnachtsfeier. Auch darin liegt die Zukunft der Sportvereine.
Die strahlenden Augen dieser Menschen und die strahlenden Kinderaugen begründen auch zukünftig den Auftrag der Sportvereine, ein Sportangebot nach dem Bedürfnis der Menschen zu unterbreiten. Dies alles ist jedoch nur dann möglich, wenn es auch künftig jene Menschen in den Sportvereinen gibt, die um nichts als um der Ehre willen sich für andere Menschen engagieren.
Auch in unseren Sportvereinen zeigt sich zunehmend eine Einstellung, dass man alles nur fordert. Die Mitglieder fordern die perfekte Ausstattung ihrer Übungsabende; die qualifizierten Übungsleiter, die das Angebot auf dem Tablett zu servieren haben; die perfekten Vorstände; perfekte Sportstätten und perfekte Verbände, die für eine kontinuierliche Finanzierung dieser Arbeit sorgen. Diese Forderungen mögen nicht unberechtigt sein. Wenn aber Fordern und Erfüllen der Forderungen zum alleinigen Handlungsmuster der Vereine wird, so wird meines Erachtens langfristig einiges von dem auf der Strecke bleiben, worauf die Vereine der Vergangenheit zu Recht stolz waren. Dazu gehört auch, dass sich die Verantwortlichen in den Vereinen den großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit stellen.
Was uns heute gefährdet, ist weniger die fehlende Fitness und Abhärtung als die übermächtig ungesunden Verhältnisse, in denen wir leben. Sport lediglich als Immunisierungsmaßnahme veranstaltet, lenkt vom Kampf gegen die Vergiftung, Verödung, Verstraßung unserer Umwelt ab, mahnte bereits 1972 der Bielefelder Pädagoge Hartmut von Hentig und fügte hinzu: „Welcher Sportverein ließe sich nicht durch eine schöne Halle, ein automatisch gereinigtes Schwimmbecken, ein geschlossenes Sportzentrum korrumpieren, während draußen die Axt an die Wälder gelegt und der See wegen Verschmutzung durch die benachbarte Industrie gesperrt wird?“ Ich glaube, dass diese Frage auch heute noch beispielhafte Bedeutung hat.
Vereine sind, das sollte man nicht übersehen, immer auch politische Institutionen, und vieles deutet darauf hin, dass Vereine einen entscheidenden Beitrag zu der Frage leisten können, welche Wertvorstellungen in einer Gemeinde oder in einer Stadt vorherrschen Dabei zeigt sich die Macht der Vereine meist nicht bei der Fassung konkreter Entscheidungen, vielmehr ist es eher so, dass durch ein vorherrschendes Wertesystem ganz bestimmte Themen erst gar nicht zugelassen werden, andere Themen werden als utopisch, als nicht machbar oder als unsachlich abgestempelt. Gerade in diesem Zusammenhang scheint es mir angebracht zu sein, derartige Entscheidungen erneut zu prüfen. Vereine werden auch in Zukunft eine dringende Notwendigkeit sein. Unsere Gesellschaft drängt vermehrt auf Komplexität und gerade die Komplexität drängt auf die Gründung überschaubarer Bezugssysteme, wie sie unsere Vereine darstellen. Vereine bieten eine Möglichkeit, die gleichermaßen innere wie äußere Verhaltensunsicherheit vieler Menschen auszugleichen, welche im Gefolge der immer noch zunehmenden Differenzierungsprozesse unserer Gesellschaft entstanden ist. Deshalb sind Zeiten gehäufter Vereinsgründungen immer auch Phasen starken gesellschaftlichen Wandels. Vieles deutet darauf hin, dass wir uns im Moment in einer derartigen Phase befinden.

¹  Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letzte Bearbeitung: 23.8.2022