In einem Jahr wird sich ganz Europa der sogenannten 68er-Bewegung erinnern. In Frankreich, in Italien, nicht zuletzt aber auch in Deutschland und hier vor allem in Frankfurt und Berlin war es im Jahr 1968 an den Universitäten äußerst unruhig geworden. Dort, wo die angeblichen oder tatsächlichen zukünftigen Eliten zu Hause waren, wurde die deutsche Nachkriegsgesellschaft auf den Prüfstand gestellt. Den Muff von 1000 Jahren glaubte man über Bord werfen zu müssen. Dem nach wie vor latent existierenden Nationalsozialismus wurde der Spiegel vorgehalten. Die kapitalistische Gesellschaft wurde in ihren Grundfesten erschüttert. Im Sozialismus und Kommunismus wurde ein neues Gesellschaftsmodell gesehen, durch das die Menschen sich von dem Joch der Unfreiheit befreien können und mit dem die bourgeoise Unterdrückung des Proletariats überwunden werden kann. In Deutschland wurde die neue studentische Bewegung vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund angeführt, der in einem Manifest „Hochschule in der Demokratie“ bereits 1961 mehr Mitbestimmung für die Studierenden an den Hochschulen gefordert hatte und auf Stipendien für Kinder aus Arbeiterfamilien drängte. 1962 war es dann in München zu den „Schwabinger Krawallen“ gekommen. 1965 kam es zu den ersten „sit-ins“ von Westberliner Studenten an der FU. Fritz Teufel, Rainer Langhans und später auch Uschi Obermaier lebten in der Kommune 1 in Berlin. 1967 wurde Benno Ohnesorg erschossen. Studentenproteste wurden daraufhin zu einem Massenphänomen. An einigen Universitäten wurden kritische Gegenuniversitäten ausgerufen. Die Parole „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ machte Karriere. 1968 findet dann die erste internationale Vietnamkonferenz statt und im April wird Rudi Dutschke bei einem Attentat schwer verletzt.
In jüngster Zeit wird auffällig häufig mit der 68er-Bewegung abgerechnet. Sie wird nicht nur für den Baader-Meinhof-Terrorismus verantwortlich gemacht. In ihr sehen die Kritiker dieser Bewegung vor allem die Ursache, dass aus einer konservativen Republik einer Mitte-Links Republik der Boden bereinigt wurde, die zu einem umfassenden Werteverfall der deutschen Gesellschaft geführt hat. Erst jüngst (Juni 2017) bot selbst die Wochenzeitung „Die Zeit“ Maxim Biller ein ganzseitiges Forum, um mit den Meinungsführern der 68er-Bewegung abzurechnen. Obgleich Biller erst sechs Jahre alt war, als Ohnesorg in Berlin erschossen wurde, maßt er sich an am Beispiel seines Schulbesuches in Hamburg die gesamte Bildungssituation in Deutschland beurteilen zu können. Seine Kritik gipfelt in der Behauptung, dass die sogenannten 68er gleichsam an allem Schuld sind: Am Elend des Journalismus, am Rassismus einfacher Leute und an einer pseudolinken Politik, die behauptet Aufklärung zu leisten, aber das Gegenteil tut. Biller strotzt bei seiner Kritik mit einem narzisstischen Selbstbewusstsein, das kaum übertroffen werden kann. Es wird von ihm eine Feindbild gepflegt, dass man in seiner Einseitigkeit wohlwollend als wertkonservativ bezeichnen kann. Sein Hass, der in seinen Ausführungen zum Ausdruck gebracht wird, scheint jedoch paranoid zu sein. Biller ist mit seiner Kritik gewiss nicht alleine. In jüngster Zeit ist es geradezu Mode geworden sich in vergleichbarer Weise über die 68er-Bewegung zu äußern. Ebenfalls im Juni widmet „Cicero“, das Magazin für politische Kultur, den 68ern Dutschke, Fischer, Ströbele und Cohn-Bendit das Titelblatt mit der Überschrift: „Die 68er: Bilanz einer selbstgerechten Generation“. Der Schriftstellerin Sophie Dannenberg, Geburtsjahr 1971, wird dabei die Möglichkeit eingeräumt, über mehrere Seiten mit ihren angeblichen anti-autoritären Kindheitserlebnissen und mit den Dogmen ihrer Eltern abzurechnen. Dabei wäre eine kritisch-distanzierte Auseinandersetzung über diese Zeit, die sich auch an empirische Fakten hält, durchaus und nach wie vor wünschenswert. Dabei müssten vor allem die Verhältnisse betrachtet werden, wie sie vor diesem Aufbruch an den deutschen Universitäten geherrscht haben. Zu fragen wäre, wer mit welchen Privilegien an diesen Universitäten vor 1968 studiert hat? Wie studiert wurde? Von welcher Didaktik die Lehre an den Universitäten geprägt war? Welche Rolle die NS-Vergangenheit nach wie vor an den deutschen Hochschulen spielte? Und welche Barrieren für Kinder aus Arbeiterfamilien bestanden hatten, um ein Studium an einer deutschen Hochschule aufnehmen zu können? Die Verhältnisse vor 1968 müssen mit den Verhältnissen in den 70er- und 80er Jahren verglichen werden und die Jahre während der 68er-Bewegung müssen sehr viel genauer in den Blick genommen werden, als dies bei Biller oder Dannenberg der Fall ist.
Ich selbst habe während dieser Zeit an der Universität Tübingen studiert. Das Jahr 1968 war für mich in jeglicher Hinsicht das spannendste und aufregendste Jahr meiner Studienzeit. Als Student der Germanistik und der Sportwissenschaft waren für mich zunächst die Auseinandersetzungen zwischen konservativen Studentenorganisationen und linken Studentengruppen, mit dem SDS oder den Marxisten-Leninisten eher befremdlich. Täglich wurde man mit Flugblättern in der Mensa überschüttet. Während der einzelnen Lehrveranstaltungen kam es zu Demonstrationen, zu „sit-ins“, nahezu monatlich fand eine Demonstration statt. All dies ereignete sich an einer relativ ruhigen, eher behäbigen schwäbischen Universität im Vergleich zu den sich nahezu wöchentlich überstürzenden Ereignissen an den Universitäten in Berlin und Frankfurt. Es wurden Streiks ausgerufen, ohne dass einem ausreichend klar war mit welchem Ziel gestreikt wurde und ob es dabei auch einen Nutzen für das eigene Studium geben könnte.
Zunächst war es die Germanistik, die mich den Problemen und Fragestellungen näher brachte, die in dieser Zeit politisch behandelt wurden. Es gab von Studenten für Studenten organisierte Lehrveranstaltungen. Aber auch einige Dozenten waren für die neuen Themen offen. Für mich war das wichtigste Thema, das in dieser Zeit in den Kanon der Lehre aufgenommen wurde, das Sprachbarrierenproblem, wie es schon längst in den Vereinigten Staaten umfassend untersucht wurde. In Deutschland wurde es hingegen erst durch die 68er-Bewegung zu einer diskussionsfähigen Problemstellung. Der Begriff „Sozialisation“ wurde plötzlich zu einem zentralen wissenschaftlichen Thema, das mich von da an bis heute noch beschäftigen sollte. Autoren wir Oevermann, Bernstein, Chomsky, Habermas, Marcuse erweckten bei mir ein Leseinteresse wie es mir zuvor völlig fremd war.
Frantz Fanon aus Martinique machte mit seinem wegweisenden Buch „Die Verdammten dieser Erde“ (161) auf die koloniale Gewalt und Gegengewalt in Afrika aufmerksam und für mich wurde damit die Frage der Unterentwicklung, die sogenannte Dritte Welt, und die deutsche Entwicklungshilfe zu einem wichtigen Anliegen, das mich bis heute nicht losgelassen hat.
Diese Beispiele sollen verdeutlichen, dass in dieser Zeit zumindest an meiner Universität eine Atmosphäre entstanden war, in der viele neue Themen das Interesse der Studierenden erregten, äußerst engagiert diskutiert wurde, über das Studienpensum hinaus man sich wissenschaftlichen Fragen widmete und dass es vor allem eine Lese- und Buchkultur in dieser Zeit gegeben hat, wie sie zuvor und danach nie mehr in Deutschland anzutreffen war. Bücher machten einen neugierig, Bücherläden gab es an jeder Ecke, in der Mensa wurden täglich interessante Bücher zur Psychoanalyse, zur Soziologie, zur Psychologie, zur Philosophie zum Verkauf angeboten. Wer neugierig war konnte sich selbst in ein Studium Generale einladen, das möglicherweise in seiner Literaturauswahl etwas einseitig war, jedoch insgesamt zu einer Atmosphäre führte, die für mich an einer deutschen Universität erwünscht sein sollte. Neugierige Studierende setzen sich über ihr Pflichtpensum hinaus mit gesellschaftspolitischen Fragen und Problemstellungen ihrer Gesellschaft auseinander und waren bereit, gemeinsam mit anderen nach Lösungen zu suchen.
Da zu dieser Zeit nahezu sämtliche Studierende des Faches Sportwissenschaft sich auf das höhere Lehramt vorbereiteten und deshalb mindestens noch ein zweites Fach an der Universität zu studieren hatten, war es nicht überraschend, dass der Funke der 68er-Bewegung auch auf das Institut für Sportwissenschaft übersprang. Flugblätter, Streiktage und Streikzeitungen begleiteten von nun an das sportwissenschaftliche Studium. Die Fachschaften der deutschen Institute für Sportwissenschaften trafen sich zu Bundesversammlungen. „Marxistische Theorie“, „Klassiker des Marxismus-Leninismus“, „Geschichte der Arbeiterbewegung“, „Schriften zum internationalen Klassenkampf“ wurden für manche zur Pflichtlektüre. Das sportwissenschaftliche Studium, das bis zu diesem Zeitpunkt unter theoretischen Gesichtspunkten eher als bescheiden und langweilig zu bezeichnen war, wurde plötzlich durch neue Lehrinhalte bereichert. Es ist wohl keine Übertreibung wenn man die 68er-Bewegung als wichtigen Urheber einer Sportwissenschaft betrachtet, so wie man sie heute kennt. Nicht weniger haben die sportwissenschaftlichen Einzeldisziplinen während dieser Zeit eine enorme Bereicherung erfahren. Eine ständige Reform des Curriculums der Studieninhalte stand deshalb immer an vorderster Stelle auf der Tagesordnung. Die Funktionen des Sports in der industriellen Gesellschaft wurden aus einem völlig neuen Blickwinkel betrachtet. Kritische Sporttheorie war en vogue und selbst die renommiertesten Verlage wie Suhrkamp, Hanser, Hallweg, Europäische Verlagsanstalt, Rowohlt, Pieper und Fischer überboten sich mit Neuerscheinungen zu einer kritischen Theorie des Sports. „Sport in der Klassengesellschaft“, „Sport und Industriegesellschaft“, „Anti-Olympia – ein Beitrag zur mutwilligen Deformierung und Destruktion der Olympischen Spiele und andere Narreteien“, „Soziologie der Olympischen Spiele“, „Sport und Kapitalismus“, „Die vertrimmte Nation oder Sport in rechter Gesellschaft“, „Fußballsport als Ideologie“, „Sport-Kritisch“ waren die Titel. Ausgangspunkt waren die Philosophen Plessner und Habermas mit ihren Thesen zu einer Ausgleichstheorie zum Sport, die sie 1967 zum ersten Mal publizierten. Dem Sport wurde dabei unter den bestehenden kapitalistischen Herrschafts- und Gesellschaftsverhältnissen eine Kompensations- und Ablenkungsfunktion zugeschrieben. Der Sport hat gleichsam Ventilfunktion. Durch dessen Ventil können gefährliche Aggressionen und Frustrationen abgelassen bzw. gemeistert werden, die aus der entfremdeten Arbeit resultieren, die für die kapitalistischen Gesellschaften typisch sind. Viele wichtige Einzelaspekte der modernen Sportentwicklung wurden dabei von diesen Kritikern erörtert und manches relevante Thema wurde zum ersten Mal für die deutsche Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt. Alexander Rost schrieb vom „Sport und den Medien“ oder „Weltrekord als Ware“. Brian Glanfield kennzeichnete „Die Pathologie des Sports“ und Ulrike Prokop zeichnete erste Wege zur Emanzipation der Frauen im Sport. Hartmut Lüdtke setzte sich kritisch mit den Zuschauern, den sogenannten „Voyeursportlern“ auseinander. Horst Geier stellte die Repräsentationsfunktion des Sports als Stellvertreter der Nation in Frage. Bero Rigauer kennzeichnete den Leistungssport in seinem Arbeitscharakter.
Gert Eichler stellte die Trimm-Bewegung auf den Prüfstand. Erik Ertel zeigte am Beispiel des Sportjournalismus, wie der Leistungssport auf seinen Begriff gebracht wird. Und Wolfgang Zwick stellte die Frage nach den Verbindungen zwischen Militär und Sport. Naheliegend war dabei, dass man sich vor allem mit den Olympischen Spielen und mit dem Fußballsport kritisch auseinandersetzte, standen die Olympischen Spiele München 1972 doch unmittelbar bevor. Gehard Vinnai’s ideologiekritische Abhandlung zum Fußballsport, geschrieben für fußballspielende Genossen, ist dabei auch heute noch lesenswert. Gleiches gilt für die Soziologie der Olympischen Spiele, wie sie von Ulrike Prokop vorgetragen wurde. Der von ihr gebrandmarkte Fetischcharakter der Olympischen Spiele verweist auf Beobachtungen, wie sie auch heute noch zu machen sind.
Liest man aus der Sicht von heute noch einmal die Flugblätter und die sogenannten Handouts, wie sie damals am Institut für Sportwissenschaft von den marxistischen Studentengruppen verteilt wurden, so wird allerdings sehr schnell deutlich, dass nicht jede Diskussion in dieser Zeit angemessen und zielführend war, dass die Gefahr bestand, dass die Studierenden mit einer politischen Propaganda konfrontiert wurden, die unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten weder hinnehmenbar noch zu entschuldigen war. War das Buch „Sport im Spätkapitalismus – zur Kritik der gesellschaftlichen Funktion des Sports in der BRD“ von Böhme/Gadow/Güldenpfennig/Jensen/Pfister für manchen Studierenden der Sportwissenschaft noch ein erster Anstoß sich in seinem Studium mit dem Sport nicht nur aus der Perspektive der Eigenrealisierung, sondern auch aus einer Perspektive kritischer Distanz auseinanderzusetzen, so kam es sehr schnell auch an den Instituten für Sportwissenschaft zu einer Radikalisierung. Aufrufe wie „Kämpft mit dem Stein um euren Schein“, „Jagt Euren Institutsdirektor davon und ergreift selbst die Macht“, „Erlangt den Beruf im Klassenkampf und nicht im Sumpf der Sportkameraderie“, die Forderung das Wort Sport durch die Vokabel Sensomotorik zu ersetzen, lassen dabei eine Radikalisierung erkennen, wie sie auch außerhalb der Sportwissenschaft stattgefunden hat. Das intellektuelle und ethische Niveau solcher Hetzparolen war bereits damals inakzeptabel und kann auch aus der Sicht von heute nicht entschuldigt werden.
Wer jedoch bereit ist diese kritische Zeit der Sportentwicklung etwas genauer zu beleuchten und wer dabei das Kreuzfeuer der Kritik im Blick hat, in dem der Sport in dieser Zeit gestanden hat, der muss jedoch erkennen, dass es nicht nur die radikalen Gegner unter der akademischen Jugend gegeben hat, die den Sport zumindest verbal ausrotten wollten. Alexander Rost weist darauf hin, dass neben den radikalen Minderheiten die große Mehrheit der Kritiker vielmehr eine Reform des Sports im Blick hatte, die auch heute noch relevant ist. Manche Erscheinungsform des Sports wurde zurecht als eine Art Opium für das Volk gebrandmarkt. Der Leistungssport weist auch heute noch Parallelen zur entfremdeten Arbeit auf und von einer angemessenen Integration sozial unterer Schichten in den organisierten Sport kann auch heute noch nicht die Rede sein. Rost weist zurecht darauf hin, dass damals diese Probleme wohl nur von Willi Daume ausreichend erkannt wurden. Daume konnte sich wie kaum ein anderer Sportführer als ein Intellektueller bezeichnen, der ohne Hochmut bemüht war, den Sport aus dem Ghetto der Arena hinauszuführen. Deshalb suchte er neue Wege zur Humanisierung des Sports. Er öffnete ihn für die Kunst ebenso wie für die Wissenschaft. Die Architektur und die Musik waren für ihn ebenso Partner wie die Literatur, um mit seinen Olympischen Spielen 1972 in München eine konstruktive Antwort auf die kritischen Fragen der 68er-Bewegung zu finden.
Verfasst: 24.06.2017