Der moderne Sport gefährdet seine kulturelle Identität

Der moderne Sport, der seine Ursprünge im 18. Jahrhundert hat, ist mit der Idee des Wettbewerbs, der Suche nach dem Besten oder der Besten, der Hervorhebung der individuellen Leistung und mit dem Phänomen des sportlichen Siegs und der sportlichen Niederlage auf das engste Verbunden. Die Ideen des englischen Wettkampfsports wurden zur Grundlage des modernen Sports, der sich universell verbreiten konnte. Der moderne Sport hat seinen Siegeszug diesen Ideen zu verdanken, sie sind im wahrsten Sinne des Wortes phänomenal. So wie uns selbst als Kind das Wetteifern faszinierte, so sind es heute Wettkämpfe in aller Welt, die die Kinder aller Nationen faszinieren. Der Wettlauf, der Wettkampf, der Staffellauf, das Spiel um Sieg und Niederlage am Wochenende, beim Volleyball, beim Basketball, beim Fußball, sie machen die Faszination des Kinder- und Jugendsports aus. Der Wettkampfsport ist es auch, der Millionen von Menschen im Training zusammenführt und in Wettkämpfen ihre Leistungen vergleichen lässt. Beteiligt sind dabei Frauen und Männer aller Altersgruppen. Der Wettkampf ist aber auch das Faszinosum, das die Zuschauer an den modernen Sport bindet. Die Olympischen Spiele, die Fußball Weltmeisterschaften, die Weltmeisterschaften der Fachverbände können eindrucksvoll dokumentieren welche faszinierende Strahlungskraft dem Wettkampfsport zu eigen ist.

Der Wettkampfsport lässt sich mit seinen positiven Merkmalen in vielfältiger Weise kennzeichnen: Mit seinen Regeln und seinem Fair Play Prinzip, welches das ethische Fundament dieses Sports darstellt. Nirgendwo ist das Prinzip der persönlichen Leistung authentischer zu erfahren. Die Bereitschaft zur individuellen Verantwortung, zu Disziplin und zum Bedürfnisaufschub können dabei erfahren werden. Es lassen sich noch viele Eigenschaften nennen auf die es im Wettkampfsport ankommt, und für die Sporttreibenden auch in ihrem übrigen Leben eine große Bedeutung haben.

Der Wettkampfsport ist aber ein sehr schillerndes Phänomen, denn so wie er sich konstituiert, ist in ihm selbst immer auch schon die Gefährdung seiner eigenen Grundlagen angelegt. Der Fairness steht die Unfairness gegenüber. Regeln können befolgt werden, gegen Regeln kann verstoßen werden. Leistungen können auf saubere Weise hervorgebracht werden, jedoch besteht ebenso die Möglichkeit zur Manipulation. Betrachten wir die aktuelle Situation des Wettkampfssports und dessen vielfältige Erscheinungsform etwas genauer, so müssen wir erkennen, dass sich die Gefährdungen in den letzten Jahren vervielfacht haben, ja dass man von einer Gefahr der Selbstzerstörung des Wettkampfsports zu sprechen hat. Einige der Gefährdungen können auf eine lange Tradition verweisen und es scheint so zu sein, dass die für den Wettkampssport Verantwortlichen diesen Gefahren nur mehr oder weniger gewachsen sind.

Seit den Anfängen des modernen Sports ist dieser per definitionem mit der Idee verbunden, dass man auf die agonale Auseinandersetzung im Sport Wetten eingehen kann. Auf indirekte Weise wird so mit den Leistungen der Athleten Geld verdient. Das Wettsystem ist ein von außen herangetragenes System, das nach eigenen Regeln erfolgt und das nicht notwendigerweise mit Manipulation verbunden sein muss. Doch die Geschichte lehrt uns, dass das Wetten immer auch mit Wettbetrug einhergeht. Es besteht die Gefahr, dass der sportliche Wettkampf durch die Außeninteressen manipuliert wird, dass man das Prinzip des Fair Play, die Grundlage des Wettkampfsports, außer Kraft setzt. Dieser Gefährdung des Sports kann aus dem Sport heraus mit eindeutigen Regeln und entsprechenden Sanktionen begegnet werden. Teilweise benötigt der Sport dabei öffentliche Hilfe.  Ein ausreichender Schutz gegen diese Gefahr ist möglich.

Das wohl wichtigere Problem des modernen Sports ist darin zu sehen, dass schon in den Anfängen des modernen Wettkampfsports die aktiven Athletinnen und Athleten Interessen eingebracht haben, die aus einer bestimmten Perspektive betrachtet als Fremdinteressen zu bezeichnen sind. Der Wettkampfsport kann idealerweise ohne jegliche Eigeninteressen betrieben werden, die über ihn hinausführen. Auf diese Weise treffen und messen sich auch heute noch Kinder und Jugendliche bei Wettkämpfen überall auf der Welt. Auf diese Weise werden auch von der großen Mehrheit aller Wettkämpfer Wochenende für Wochenende Wettkämpfe durchgeführt. Das Ziel des Wettkampfs liegt dabei im Wettkampf selbst. Materielle Interessen werden von den Beteiligten nicht verfolgt. Im Gegenteil, sie erbringen selbst materielle Leistungen, um ideelle Wettkämpfe durchführen zu können. Doch ähnlich wie beim Wettbetrug war schon bei den Anfängen des modernen Sports zu beobachten, dass Athletinnen und Athleten mit ihren Wettkämpfen Geld verdienen wollten. Die Tendenz zum bezahlten Sport war somit bereits im 18. Jahrhundert zu erkennen. In den vergangenen 200 Jahren wurde es immer selbstverständlicher, dass der Wettkampf als Medium zum Geldverdienen genutzt wird. Er entwickelte sich zum Berufssport, bei dem sich ein professioneller Athlet herausgebildet hat.

In gewisser Weise muss es als Sündenfall des modernen Sports bezeichnet werden, dass die Verantwortlichen für sportliche Wettkämpfe die Bezahlung für sportliche Leistungen zugelassen haben. Die Kopplung der Logik von Sieg und Niederlage mit jener des Gewinns und des Verlusts hat dazu geführt, dass das Geld zur Währung des modernen Sports geworden ist. Die Einführung des Motivs des Geldverdienens der Athleten und Athletinnen kommt der Öffnung der Büchse der Pandora gleich. Der Steigerungsimperativ des sportlichen Wettkampfs wurde zum finanziellen Steigerungsimperativ. Mit der Ermöglichung der Bezahlung der sportlichen Leistung wird die sportliche Leistung selbst zur Ware und ein Teil der kapitalistischen Produktion. Der Wettkampfsport zeichnet sich seitdem durch ein Austauschverhältnis aus: Geld gegen Ware und Geld gegen Leistung werden zu den Leitmaximen der weiteren Entwicklung des Wettkampssports. Das pädagogisch bedeutsame Prinzip der Leistung, des sich Überbieten wollen und des Siegen wollen, wird durch das Prinzip der Habsucht in Frage gestellt. Der Wettkampfsport wird auf diese Weise anschlussfähig für diejenigen gesellschaftlichen Bereiche, die dem gleichen Prinzip unterliegen. Wer immer sein Geld in den Wettkampfsport investiert, möchte eine Rendite erhalten. Der Steigerungsimperativ, der eigentlich nur auf die sportliche Leistung ausgerichtet sein sollte, wird zum Steigerungsimperativ für das gesamte System.

Im Gegensatz zum Problem der Sportwetten, wird das Problem der Habsucht von den Verantwortlichen des Sports nur sehr begrenzt gesteuert und so gut wie gar nicht gemeistert. Vieles deutet darauf hin, dass sich der Wettkampfsport so auf dem Weg zur Selbstzerstörung befindet. Die „Ressource Athlet“ wird immer mehr gefährdet und in Frage gestellt. Der Athlet selbst ist es, der sich ad absurdum führt. Wer das Befolgen der Regeln zur Ausnahme macht und den Betrug zur Normalität, der entzieht sich seine eigene Geschäftsgrundlage. Der Sportler ist es, der unersättlich nur an sich selbst denkt, sich nicht in einer Gemeinschaft von Athleten sieht und der sich selbst als hilflos erweist in Bezug auf den Schutz seiner Sache, der er sich eigentlich verpflichtet fühlen müsste.

Es ist aber nicht nur der Athlet, der sich in eine gefährliche Situation manövriert hat. Es können auch die Funktionäre, die Medien, die Wirtschaft und die Politik eine ähnliche fatale Rolle spielen. Es sind all jene, die heute von den Wettkampfereignissen des modernen Sports profitieren. Die Kommerzialisierung der sportlichen Leistung, das heißt die Verknüpfung dieser mit der Idee der finanziellen Rendite, findet im organisierten Hochleistungssport weitgehend ungesteuert statt. Sie ist wildwüchsig und ungerecht, mit gefährlichen Auswüchsen. Nirgendwo gibt es eine derartige Kluft zwischen reich und arm, wie dies im kommerzialisierten Wettkampfsport der Fall ist. Nirgendwo wird Leistung so ungleich belohnt und damit jenes demokratische Leistungsprinzip mit Füßen getreten, das den Wettkampfsport eigentlich auszuzeichnen hat.

Gewiss ist es ein Glück, dass die große Mehrheit des Wettkampfsports von der Kommerzialisierung nach wie vor nicht betroffen ist. Gewiss ist es auch als ein Glück zu bezeichnen, dass Millionen von Sporttreibenden Wettkämpfe bestreiten und dabei nichts Anderes suchen als den ideellen Sieg. Doch auch dieser massenhafte Wettkampfsport ist schon längst durch die ungezügelte Kommerzialisierung bedroht. Die Auswirkungen sind dabei bis in die untersten Leistungsklassen hinein zu beobachten. Immer mehr Sportarten werden aus ökonomischer Sicht abgekoppelt. Die Reichen werden noch reicher, die Armen noch ärmer. Immer mehr Sportarten beklagen das Phänomen des Betrugs. Immer mehr Sportarten sind von Gewaltdelikten betroffen. In immer mehr Sportarten kommt es zu Korruption und Manipulation sportlicher Leistung.

Der Wettkampfsport ist ohne Zweifel das Faszinosum der modernen Gesellschaft. Er fasziniert Kinder und Jugendliche. Erwachsene, Männer und Frauen jeglichen Alters betreiben ihn mit Begeisterung. Der Wettkampfsport ist einer der sinnvollsten Freizeitinhalte, die in der menschlichen Kultur anzutreffen sind. Er ist aber gleichzeitig ein Paradoxon besonderer Art, er ist ein schillerndes Phänomen. Er ist mit Gefährdungen konfrontiert, die nur unzureichend wahrgenommen und ganz selten gemeistert werden. Es gibt immer häufiger Bedrohungen, die ihn selbst zerstören können. Wer den Wettkampssport von seinen schönen Seiten erfahren und erleben konnte, dem müsste es ein wichtiges Anliegen sein, dass den Gefahren engagiert entgegengetreten wird. Die kulturelle Identität des modernen Sports ist bedroht, weil sich immer mehr Verantwortliche des Sports seiner kulturellen Bedeutung nicht bewusst sind. Gefordert ist deshalb eine kontroverse Diskussion in den Sportorganisationen, mit dem Ziel einer neuen Standortbestimmung des erwünschten Wettkampfsports zu Gunsten unserer Gesellschaft.

Letzte Bearbeitung: 16.07.2020