Der Kampf gegen Doping ist alternativlos

Der Leistungssport befindet sich in einer Krise. Dies gilt für den Leistungssport in der Bundesrepublik Deutschland gleichermaßen, wie für den Leistungssport, wenn man ihn aus einer globalen Perspektive betrachtet. Manche kritischen Symptome werden erkannt, es gibt Bemühungen ihnen entgegenzutreten, andere haben sich verschärft und scheinen unlösbar zu sein. Trotz dieser Probleme ist der Leistungssport jedoch eine Wachstumsbranche erster Ordnung. Als Wirtschaftssektor weist der Leistungssport Wachstumsraten auf, wie sie in den Ökonomien dieser Welt nur noch ganz selten anzutreffen sind. Wer mit dem Sport Geld verdienen will, für den ist ein „weiter so“ deshalb naheliegend. Bei einem Leistungssport der für Massen relevant sein soll, spielen Fragen der Moral und Ethik keine Rolle. Die Zuschauermassen scheinen unersättlich zu sein, die materiellen Gewinne für die Protagonisten des Leistungssports, für die Wirtschaft und für die Massenmedien scheinen bei dieser Entwicklung auf Dauer gesichert zu sein. Das Dopingproblem, das aus der Sicht vieler Experten das größte und schwierigste Problem des Leistungssports darstellt, scheint angesichts dieser Situation ebenfalls nur eine sehr marginale Bedeutung zu haben. Betrachten wir dabei noch die Entwicklungen, die sich in der Umwelt des Hochleistungssports ereignen, so kann es kaum überraschen, dass immer mehr Verantwortliche im Hochleistungssport die neue „Ethik der Machbarkeit“ für den Sport in Anspruch nehmen und eine Sportpolitik in Frage stellen, bei der man bemüht ist, den Sport als eine autonome Insel gegenüber seiner Umwelt zu erhalten. „Gebt Doping frei“, „lasst die Menschen mit ihrem Körper machen was sie wollen“ ist dabei die naheliegende Maxime. Wird dies mit professioneller Unterstützung durch die Medizin gesteuert, so sind die Risiken kalkulierbar, der Hochleistungssport kann dabei nur noch attraktiver werden. Die Masse „Zuschauer“ möchte Gladiatorenkämpfe sehen, die Auseinandersetzung zwischen Zwerg und Riese ist attraktiv, Skandale sind interessant, Spektakuläres ist erwünscht, Rekorde müssen unendlich sein.

Auch für mich selbst stellen sich diese Fragen. Nach den Olympischen Spielen 1976 in Montreal wurde mir zum ersten Mal das Ausmaß des Dopingbetruges im deutschen und internationalen Hochleistungssport bewusst. Seit nahezu vierzig Jahren kämpfe ich nun gegen den Betrug durch medizinische Manipulation. In nationalen Anti-Dopingkommissionen, im Präsidium des wichtigsten olympischen Fachverbandes, in Gremien des Deutschen Olympischen Sportbundes, in internationalen Gremien des Sports, bei Kongressen und bei vielen Veranstaltungen war ich bemüht, Gründe für einen verantwortungsvollen Anti-Dopingkampf vorzutragen, aufzuklären und die Instrumente zu schärfen, mit denen Doping bekämpft werden kann. In allen Massenmedien habe ich mich zu diesen Fragen zu Wort gemeldet. Ich habe zu diesen Themen Bücher geschrieben, und mehr als hundert Zeitschriften- und Zeitungsbeiträge veröffentlicht. Betrachtet man die Situation des Hochleistungssports nach der zweiten Dekade im neuen Jahrtausend, so muss man zu der Erkenntnis gelangen, dass der Kampf gegen Doping bislang nur kleine Erfolge aufzuweisen hat. Was meinen persönlichen Kampf betrifft, so verspüre ich Resignation. Angesichts der immer krimineller werdenden Formen des Betruges verspüre ich Hass und Ekel gegenüber den Betrügern. Betrüger werden hofiert, sie profitieren von ihrem Betrug, eine Ächtung findet so gut wie gar nicht statt. Das naturwissenschaftlich gesteuerte Betrugsnetzwerk befindet sich vielmehr auf dem Siegeszug. Niemand scheint es aufzuhalten. Die Kontrollsysteme können allenfalls diesen Prozess verlangsamen, die abschreckende Wirkung der Strafen ist völlig unzureichend. So spiele auch ich mit dem Gedanken, den aussichtslosen Anti-Dopingkampf aufzugeben, den Steuerzahler aus seiner paradoxen Situation zu entlassen, dass er einerseits den Anti-Dopingkampf zu finanzieren hat, anderseits er aber genau jene Zuschauermasse repräsentiert, für deren Interesse am spektakulären Hochleistungssport ethisch und moralische Fragen ohne Bedeutung sind. Auch ich prüfe die Auffassung, ob tatsächlich der Sport nicht besser sein kann, als die Gesellschaft in der er betrieben wird. Mit diesem Argument haben ja viele Funktionäre in den vergangenen Jahrzehnten sich zu rechtfertigen versucht, wenn Verfehlungen im Sport offen gelegt wurden. Auch ich stelle mir die Frage, ob der Sport ein Menschenbild aufrechterhalten kann, das in der Gesellschaft kaum noch Bedeutung hat. Das Menschenbild eines humanen Sports wurde dort längst von einem Menschenbild abgelöst, bei dem es um die Perfektionierung des Menschen geht, wobei nahezu jedes Mittel erlaubt ist. Kann der Sport weiter eine Insel von Scheinheiligen sein, die vorgibt, etwas anderes als die Gesellschaft zu tun, um jedoch gleichzeitig das große Forschungslabor jener neuen Päpste zu sein, die uns eine völlig neue Schöpfungsgeschichte erzählen? Vermutlich würde es von vielen verstanden, wenn man angesichts dieser Entwicklungen und Fragen nach einem mehr als vierzigjährigen Bemühen seinen Misserfolg eingesteht, sich den neuen Realitäten beugt, sich zurückzieht und das Feld den optimistischen Optimierern überlässt, die das Projekt der Perfektionierung des Menschen zu verantworten haben.

Doch genau hierzu bin ich nicht bereit, genau dies darf nicht geschehen. Dies gilt nicht nur für mich. Dies gilt gleichermaßen für jeden, der Verantwortung im Leistungssport übernommen hat. Der Weg und der Auftrag, den der Sport zu Gunsten unserer Gesellschaft übernommen hat, ist alternativlos. Der Leistungssport, wie er vor mehr als 200 Jahren in England kreiert wurde und wie er seitdem von Athletinnen und Athleten erfolgreich betrieben wird, ist untrennbar mit dem Prinzip des Fair-Play verbunden. Diesen Leistungssport kann es nur auf einer besonderen Insel innerhalb unserer Gesellschaft geben und es ist die anstrengende und schwierige Aufgabe jener, die auf dieser Insel leben, Einflüsse, die von außen die Insel bedrohen, mit aller Entschiedenheit abzuwehren. Ob der Sport besser oder schlechter ist als die übrige Gesellschaft ist dabei nicht die Frage. Der Sport konstituiert sich jedoch durch die Vereinbarung jener, die ihn betreiben. Er ist per se weder natürlich noch gesund. Er ist vielmehr ein künstlich geschaffenes Kulturgut. Die Menschen, die dieses Kulturgut hervorbringen, verbinden dabei mit ihrem Handeln unterschiedlichste Intentionen, machen verschiedenste Erfahrungen und haben dabei vielfältige Erlebnisse. Sie können gut oder schlecht sein, beispielhaft oder abschreckend, sie können gesund sein, sie können aber auch Verletzungen hervorrufen und krank machen. Man kann mit diesen Handlungen Geld verdienen. Sie können aber auch selbstlos sein. Entscheidend ist, dass diese Kultur auf Konventionen beruht. Leistungssport ist künstlich. Er wurde und wird von Menschen gemacht, er wurde von Menschen verändert und er kann auch heute von Menschen verändert werden. Er kann auch zukünftig von Menschen verändert werden. Die Regeln, die dabei vereinbart werden, werden im Leistungssport kodifiziert. In Regelbüchern sind sie schriftlich niedergelegt, konstitutive und strategische Regeln lassen sich dabei unterscheiden. Definitorisch entscheidend für das Kulturgut „Leistungssport“ sind jedoch jene Maximen, die all den schriftlichen niedergelegten Regeln zugrunde liegen. Auf der Insel der Kultur des Leistungssports wird eine besondere Kultur des Wettbewerbs betrieben. Die Wettkämpfe in Sportarten sind die wertvollen Inhalte dieser Kultur. Bei diesen Wettkämpfen, so will es die Konvention der Beteiligten, soll der Ausgang des Wettkampfes vor Beginn des Wettkampfes offen sein. Bei den Wettkämpfen soll das Prinzip der Leistung zu seinem Recht kommen. Nicht Geschlecht, nicht Herkunft, nicht Alter, nicht Aussehen, nicht Rasse, nicht Glaube oder Religion sollen dabei ausschlaggebend sein. Vielmehr sollen die Wettkämpfer auf ihr eigenes Können angewiesen sein, ihr eigenes Talent ist gefragt. Jeder Wettkämpfer zeichnet sich durch seine Individualität aus, Wettkämpfer sind somit per se ungleich und dennoch soll Chancengleichheit und -gerechtigkeit den Wettkampf prägen. Jeder Wettkämpfer soll möglichst über die gleichen Start-Chancen verfügen. Im Wettkampf selbst soll die Würde des Gegners geachtet werden. Die Unversehrtheit des Menschen ist dabei ein wichtiges humanitäres Prinzip, das in dieser Kultur des Leistungssports zu beachten ist. Auch dies verlangt die vereinbarte Konvention der Beteiligten. Die Achtung und der Respekt, die man dem Gegner entgegenbringt, sind nicht weniger unverzichtbar. Das Gebot der Fairness ist die ständig zu beachtende Maxime, die diesem Kulturgut eine besondere Qualität verleiht.

Wenn heute die Ergebnisse von Wettkämpfen vorweg abgesprochen werden, so handelt es sich dabei nicht um Leistungssport. Wenn Wettkämpfer mit unerlaubter medikamentöser Leistungsmanipulation ihre Gegner betrügen, so betreiben sie keinen Leistungssport. Wenn Verletzungen des Gegners willentlich in Kauf genommen werden, so wird dabei etwas anderes als Leistungssport betrieben. Wenn Athleten, wie im Radsport geschehen, mehrheitlich die Anti-Dopingregeln nicht beachten und damit einen anderen Radsport betreiben, als jener, der in den schriftlichen Regeln vereinbart wurde, so haben sie keinen Platz auf dieser Insel des Kulturguts Leistungssport.

„Catchen“, „Ultimate fighting“ und wie auch immer die Vielfalt des neuen Körperspektakels zu benennen sein wird, sie alle haben mit Leistungssport, so wie er sich selbst konstituiert hat und wie er sich definiert, nichts zu tun. Für sie gibt es keinen Platz in einem menschenwürdigen Leistungssport. Der Weg, den die Protagonisten des Leistungssports, den die Hüter dieser besonderen Insel zu gehen haben, ist somit alternativlos. Es kann keine Freigabe des Dopings geben. Es kann nicht akzeptiert werden, dass der Sport ein Labor einiger Enhancementphilosophen darstellt. Showwettkämpfe haben keinen Platz in einem ethisch verantwortbaren Leistungssport und müssen deshalb von der Insel ferngehalten werden. Die Zukunft des Leistungssports liegt vielmehr in seiner Künstlichkeit, in seinem konventionellen Charakter, in seiner dialogischen Struktur, die durch die vereinbarten Regeln zum Ausdruck gebracht werden. Die Zukunft des Leistungssports liegt in seiner Eindeutigkeit, in seiner Klarheit und in seiner Verlässlichkeit. Die Zukunft des Leistungssports liegt vor allem darin, dass jene, die in ihm Verantwortung übernommen haben, bereit sind, diese Verantwortung zu tragen. Die Zukunft liegt darin, dass jene, die in diesem Hochleistungssportsystem Macht besitzen, diese Macht zugunsten dieses Kulturguts verwenden. Die Zukunft liegt vor allem auch darin, dass jene, die aktiv den Leistungssport betreiben, sich ihrer Sache bewusst und bereit sind, sich für die eigene Sache einzusetzen. Im eigenen Interesse, aber auch im Interesse jener, die nach ihnen Hochleistungssport betreiben wollen, ist der Kampf gegen Betrug und Manipulation somit alternativlos. Der Kampf geht weiter!