Das IOC – Beobachtungen von und über Richard Pound

Richard Pound war und ist eine der ganz wenigen Olympischen Sportfunktionäre¹, der in seiner sportpolitischen Arbeit und in seinem engagierten Wirken zu Gunsten der Entwicklung der modernen Olympischen Spiele den Werten und Ideen des modernen Olympismus verpflichtet war und ist, wie sie von Pierre de Coubertin geprägt worden sind. Nur sehr wenige Mitglieder des IOC sind vergleichbar kompetent was sowohl seine juristische als auch seine sportpolitische Kompetenz betrifft. Pound ist durch und durch ein Demokrat. Sein umfassendes Wissen macht es ihm möglich, zu vielen Fragestellungen und Problemen eine eigene Meinung zu haben und diese auch öffentlich zu äußern; wohl wissend, dass er sich damit in seiner langen beruflichen und politischen Karriere nicht nur Freunde machte. Mit seinen Meinungsäußerungen „eckte“ er nicht selten an. Seine Kritiker konnten dabei durchaus zu Recht auch anderer Meinung sein. Doch die Meinungsäußerungen von Pound waren fachlich kompetent begründet und waren immer auch konstruktiv.
In diesen Tagen hat Pound ein bemerkenswertes Interview dem Sportinformationsdienst „Sport Intern“ gegeben. Seine Aussagen in diesem Interview sind es wert, dass sie noch einmal akzentuiert und einem weiteren Kreis von Interessenten zugänglich gemacht werden, dem die Olympischen Spiele und deren Zukunft ein wichtiges Anliegen ist. In diesem Interview zeigt sich uns Richard Pound in gewissem Sinne als eine „gescheiterte Olympische Persönlichkeit“, die aufgrund spezifischer historischer Bedingungen ihr besonderes Lebensziel hat nicht erreichen können: Das Amt des IOC-Präsidenten. Er war wohl zunächst der Wunschkandidat Samaranchs für dessen eigene Nachfolge. Doch angesichts der damaligen kritischen politischen Weltlage um die Jahrtausendwende wurde dann doch von Samaranch der europäische Kandidat unterstützt. Für das Amt des IOC-Präsidenten wäre Pound ohne Zweifel bestens geeignet gewesen – mehr als viele ehemalige Präsidenten des IOC in dessen mehr als 100-jährigen Geschichte – und es könnte ein interessantes theoretisches Gedankenspiel sein, wenn, anstelle von Jacques Rogge, Richard Pound im Jahr 2001 zum IOC- Präsidenten gewählt worden wäre.
Sportpolitisch bedeutsam sind in diesem Interview zunächst die eindeutigen und klaren vergleichenden Beurteilungen der Leistungen und Errungenschaften der jüngeren IOC- Präsidenten Samaranch und Rogge und des aktuellen IOC-Präsidenten Bach. 

Nach Auffassung von Pound ist es Samaranchs einundzwanzigjährigen Präsidentschaft zu verdanken, dass das IOC zu jener globalen Weltorganisation hat heranwachsen können, wie wir sie heute kennen. Zuvor war das IOC keineswegs eine globale sportpolitische Organisation und das IOC befand sich in einer sehr viel größeren Abhängigkeit zur staatlichen Politik als dies heute der Fall ist. Ausgangspunkt für Samaranchs neue Sportpolitik war der Boykott der Vereinigten Staaten und einige seiner Verbündeten der Olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau. Er war das Alarmsignal für seine nicht nur aus Pounds Sicht sehr erfolgreiche IOC-Reformpolitik. Samaranch hatte es sofort begriffen, dass in der damaligen kritischen Krisensituation es darauf ankommt, dass die Olympische Bewegung zusammenhält und dass sie mit einer Stimme zu sprechen hat. Samaranch gelang es, dass es in vielen kleinen Nationen zur Neugründung von Nationalen Olympischen Komitees kommen konnte und es damit möglich wurde, dass das IOC heute 206 NOKs zu seinen Mitgliedern zählen kann. Allein 50 NOK- Neugründungen fallen in die Amtszeit von Samaranch Die zweite herausragende Leistung Samaranchs sieht Pound darin begründet, dass er ein nahezu insolventes IOC, das bei jeder Ausrichtung seiner Spiele vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig war, zu einer finanziell unabhängigen internationalen Organisation umgestaltete. Grundlage hierfür war der Verkauf der Fernsehrechte der Olympischen Spiele 1984 an einen amerikanischen Fernsehsender, wodurch Samaranch klar wurde, welche außergewöhnlichen Einnahmequellen für das IOC sich eröffnen, wenn es den Verkauf der Fernsehrechte zukünftig in eigener Regie betreibt. Damit wurde auch die Einführung eines Vermarktungsprogramms für alle Rechte möglich, über die das IOC zu dieser Zeit verfügen konnte. Zur Globalisierungsstrategie von Samaranch gehörte auch, dass die Olympischen Spiele zukünftig auf jedem Kontinent dieser Erde ausgerichtet werden sollen. Die Entscheidung des IOC, die Spiele im Jahr 2008 an Peking zu vergeben, wäre ohne Samaranchs vorbereitende Leistungen nicht möglich gewesen.  

Im Vergleich zur Amtszeit von Samaranch beurteilt Pound die Amtszeit von Jacques Rogge eher mit Skepsis und mit einer kritischen Distanz, was verständlich ist, da er selbst ein möglicher Kandidat für das Amt des IOC- Präsidenten vor der Wahl von Jacques Rogge gewesen ist. Doch die weltpolitische Lage und auch die Mehrheitsverhältnisse innerhalb des IOC ließen seine Wahl jedoch – zumindest aus heutiger Sicht – als aussichtslos erscheinen. Seine Kritik an der Amtszeit von Rogge ist jedoch nicht persönlicher Natur, sondern sie beschreibt meines Erachtens die Entwicklung des IOC während dieser Amtszeit äußerst treffend und mir scheint auch seine Kritik an dieser Amtszeit mehr als berechtigt zu sein. Rogge war während seiner Amtszeit ein allseits beliebter IOC- Präsident, der das IOC mit einem ausgeprägten demokratischen Verständnis sehr gewissenhaft führte und der es möglich machte, dass vermehrt auch Frauen in Führungspositionen des IOC und dessen Kommissionen berufen und gewählt wurden. Unter Rogge wurden auch die Anliegen der sogenannten „Dritten Welt“ sehr ernst genommen hat. Er setzte sich auch im Kampf gegen Doping sehr eindeutig für den Schutz des Fair Play Prinzips und für das Prinzip der Unversehrtheit der Athletinnen und Athleten ein. Gegen die in seiner Amtszeit zunehmend wachsende moralische Krise des IOC und das teilweise dadurch bedingte nachlassende Interesse an der Ausrichtung zukünftiger Spiele waren jedoch während der Amtszeit von Jacques Rogge keine wegweisenden Initiativen zu erkennen. Die Einführung der Olympischen Jugendspiele sind nicht nur aus der Sicht von Pound als eine eher unnötige Errungenschaft zu bezeichnen, die in Bezug auf das angeblich zu lösende Problem keine Erfolge aufzuweisen hat. Pound macht in Bezug auf die Olympischen Jugendspiele keinen Hehl aus seiner Auffassung, dass es unter seiner Führung diese Spiele nicht gegeben hätte. Unter ökonomischen Gesichtspunkten war die Entwicklung des IOC während der Amtszeit von Jacques Roge durch Stagnation und durch das Verwalten des Erreichten geprägt. Innovationen und neue Erfolge können nicht aufgezeigt werden. 

Bereits in der Vergangenheit war Richard Pound ein begehrter Interviewpartner, wenn die Massenmedien eine Persönlichkeit gesucht haben, von der klare Worte und insbesondere auch scharfe Kritik an der Politik des IOC zu erwarten war. Dies galt vor allem auch für deutsche Medien, für das öffentlich-rechtliche Fernsehen und für die führenden Tageszeitungen FAZ und SZ. Dabei konnte man jedoch beobachten, dass Pound sich nie dazu hergegeben hat, die von deutschen Medien schon seit über einem Jahrzehnt üblich gewordene unsachliche und polemische „Thomas Bach-Schelte“ zu unterstützen oder gar mit kritischen Argumenten zu untermauern. Dies zeigt sich erneut in dem jüngsten Interview mit „Sport intern“ in dem Pound ausdrücklich seine Sympathie für Bach und dessen IOC- Politik zum Ausdruck bringt und auf die schwierige Situation hinweist, die Bach bei seiner Wahl zum IOC-Präsidenten in der Welt des internationalen Sports angetroffen hat. Pound weiß die „Agenda 2020“ und die „Agenda 2020 +5“ zu schätzen und sieht auch die unbestrittenen weiteren Erfolge, die Bach in seiner Amtszeit als IOC- Präsident bis heute aufzuweisen hat. Als Olympionike und als einer der wenigen wirklichen Kenner der Inhalte der Olympischen Charta teilt Pound auch die Position von Bach in Bezug auf die Teilnahme individueller und neutraler Athletinnen und Athleten an den Spielen in Paris im Jahr 2024. Er sieht jedoch auch die aktuelle Spaltung der olympischen Bewegung, die der terroristische Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine bewirkt hat. Er sieht zu Recht die Zukunft der Olympischen Spiele durch diesen Konflikt in einer Weise bedroht, wie dies in der Vergangenheit noch nicht der Fall gewesen ist. Er sieht sich selbst nicht in der Lage, eine Lösung und einen Ausweg aus der aktuellen Krise anzubieten. Er glaubt allerdings, dass dann, wenn der Krieg bis hinein in das Jahr 2024 andauert, eine Teilnahme russischer und belarussischer Athletinnen und Athleten bei den Spielen in Paris nicht möglich sein wird, obgleich er sich selbst die Teilnahme individueller neutraler Athleten mit russischem Pass – unter den vom IOC vorgeschlagenen Bedingungen – an diesen Spielen wünschen würde. Der Arbeit von Thomas Bach zollt Pound – gerade auch im Umgang mit der Frage der Teilnahme neutraler Athleten an den Spielen in Paris – größten Respekt. Er sieht das Dilemma, in dem sich russische Athletinnen und Athleten befinden, die dann, wenn sie sich gegen den Angriffskrieg Russlands öffentlich aussprechen gegen ein russisches Gesetz verstoßen und in Russland bestraft werden. Seine Sympathie gilt gerade auch deshalb den für den Krieg unschuldigen russischen Athletinnen und Athleten und deren Start als neutrale Athleten bei den Spielen in Paris wird von ihm ausdrücklich erwünscht. Er sieht aber auch die Gefahr der Spaltung der olympischen Bewegung und er betrachtet mit Sorge die weitere Zukunft der Olympischen Spiele angesichts der fragwürdigen staatlichen Interventionen, die vor allem Europa betreffen. Pound geißelt dabei meines Erachtens zu Recht die offensichtliche Heuchelei der staatlichen Politik, die mit ihren eigenen politischen Maßnahmen der komplexen und gefährlichen internationalen Krisensituation nicht gewachsen ist und nun aber für sie ein leichtes ist, „den starken Mann zu spielen“ und ihre Athleten zu opfern („to throw the athletes under the bus“), anstatt eine dringend notwendige internationale Friedenspolitik zu gestalten.
Für Pound sollen und sollten auch in der weiteren Zukunft die Olympischen Spiele eine „Insel des Friedens“ sein, auch wenn diese Insel immer nur 30 Tage lang bestehen kann. Seiner Meinung nach waren es mit Ausnahme der Nazi- Spiele 1936 nie die Athleten, sondern immer die Staaten und deren staatliche Politik, die zum Boykott Olympischer Spiele aufgerufen haben, ohne dabei zu lernen, dass derartige Boykottmaßnahmen wirkungslos sind. Die friedenspolitische Idee der Olympischen Spiele war immer stärker als alle Boykottversuche. Die Olympischen Spiele von Moskau 1980 und Los Angeles 1984 haben dies auf eindrucksvoller Weise gezeigt.
Eine Verlängerung der Amtszeit von Thomas Bach hält Pound für höchst unwahrscheinlich, da dies eine erneute Änderung der Charta notwendig machen würde. Er geht davon aus, dass dies auch nicht ein Wunsch von Bach ist, sondern dass dies angesichts der unermüdlichen und aufopfernden Arbeit von Bach und angesichts seiner besonderen Leistungen vor allem von vielen IOC-Mitgliedern gewünscht wird. Man sollte Bach wünschen, dass er sich von niemandem für eine weitere Amtszeit überreden lässt, denn eindeutige zeitliche Begrenzungen für die Amtszeiten von Führungsämtern in den Organisationen des Weltsports haben sich mehr als bewährt. Die viel zu lange Amtszeit von Samaranch sollte für keinen der zukünftigen IOC- Präsidenten ein Vorbild sein. 

Was die Frage nach dem nächsten IOC-Präsidenten betrifft, macht Pound auch keinen Hehl daraus, dass er sich wünschen würde, dass der zukünftige IOC- Präsident nicht notwendigerweise wieder aus Europa kommen muss und dass man vor allem auch dringend in Erwägung zu ziehen hat, dass nicht nur eine Frau aus der immer größer werdenden Zahl von fachlich kompetenten weiblichen Mitgliedern in den IOC- Kommissionen und im IOC selbst für ein derartiges Amt geeignet sein könnte. Angesichts der Tatsache, dass von den bisherigen neun IOC-Präsidenten alle weiß, alle männlich und alle Europäer (mit einer US- amerikanischen Ausnahme) gewesen sind, ist es für ihn ganz offensichtlich, dass dieses Modell kein nachhaltiges Konzept für die Zukunft des IOC sein kann. Den Hinweis, dass ein Präsident einer Sportorganisation, die sich selbst als wichtigster olympischer Sportfachverband betrachtet, mit verschiedenen oppositionellen Maßnahmen gegenüber dem amtierenden Präsidenten seine eigene Kandidatur für das Amt des IOC-Präsidenten befördern möchte, wird von Pound bewusst nicht kommentiert. Er weist lediglich darauf hin, dass dieser Kandidat, sollte er gewählt werden, bereits während seiner ersten Amtszeit die vorgesehene Altersgrenze überschreitet. Wer in diesen Tagen die von diesem Verband veröffentlichte neue Weltrekord-Liste zur Kenntnis nehmen und erkennen musste, dass es nun 57 verschiedene Weltrekorde in 57 verschiedenen Disziplinen dieser Sportart geben soll und mit dem jüngsten Beschluss dieser Organisation 16 neue Weltrekordmöglichkeiten dem ohnehin viel zu umfangreichen Angebot hinzugefügt wurde, der kann in diesem Zusammenhang nur konstatieren, dass dieser olympische Verband ganz offensichtlich die „Agenda 2020 und 2020 +5“ und die ökologischen Herausforderungen des olympischen Sports einschließlich der dringend notwendigen Begrenzung des olympischen Programms noch nicht verstanden hat und deshalb sich selbst disqualifiziert, aus ihren Reihen den zukünftigen IOC- Präsidenten bzw. die zukünftige IOC- Präsidentin zu stellen. 

Der ehemalige Olympiateilnehmer Richard Pound war nicht nur über viele Jahre einer der wichtigsten IOC- Vizepräsidenten in der jüngeren Geschichte des IOC, er war auch der erste Präsident der Welt-Antidoping- Agentur (WADA) und hat in dieser auf verantwortungsvolle Weise wegweisende Entscheidungen zu Gunsten eines glaubwürdigen und engagierten Anti-Dopingkampfes auf den Weg gebracht. Auch bei der Erfüllung dieser wichtigen und schwierigen Aufgabe war Pound ein äußerst kritischer Wegbegleiter der internationalen olympischen Organisationen und auch des IOC selbst. Aus der Sicht von Pound war für das IOC der spektakuläre Dopingfall Ben Johnson bei den Olympischen Sommerspielen 1988 in Seoul ein „Erweckungserlebnis“. Pound setzte sich dabei im IOC mit seiner Auffassung durch, dass ganz gleich wie spektakulär eine sportliche Leistung ist, ganz gleich in welcher Olympischen Sportart diese Leistung erbracht wird und ganz gleich welcher Nation der olympische Athlet angehört muss immer die Maxime gelten: „If you cheat you are out“, („Wer betrügt fliegt raus“). Pound hatte geglaubt, dass dies eine „machtvolle Botschaft“ sei, doch wurde er in den folgenden Jahrzehnten bis heute immer wieder durch gegenteilige Sachverhalte enttäuscht. Der Dopingbetrug hat sich bis heute immer weiter ausgebreitet, was auch durch die von ihm initiierte Gründung der Welt -Anti-Doping -Agentur (WADA) im Jahr 1999, dessen erster Präsident er auch werden konnte, nicht verhindert wurde. Pound ist sich dieses Sachverhalts durchaus bewusst. Für ihn war es ein Ärgernis, das es vor allem die eurozentrierten Olympischen Fachverbände waren, die mit ihren Präsidenten einen wirkungsvollen Anti- Dopingkampf über mehrere Jahrzehnte verhindert und verschleppt haben. Erinnert man sich an die damaligen Präsidenten des Internationalen Leichtathletik-, Radsport-, Gewichtheber-, und Schwimmverbandes so kann dieser Auffassung wohl kaum widersprochen werden.
Keiner der Olympischen Werte war für ihn bedeutsamer als das Prinzip des Fair Play, das von den Athleten zu beachten ist und das von den Verantwortlichen des Sports geschützt werden muss. Für Pound war dies eine seiner wichtigsten Lebensaufgaben und die olympische Charta war dabei sein besonderes Leitbild. Dies wird einmal mehr in diesen Tagen sichtbar, wenn es um die Frage der Teilnahme von individuellen neutralen Athleten und Athletinnen bei den Olympischen Spielen in Paris 2024 geht. 

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letzte Bearbeitung: 8.6.2023