Das Dopingproblem und die Verantwortung der Wissenschaften

Doping- und Medikamentenmissbrauch hängen eng zusammen und beide haben eine lange Geschichte. Doping findet in den regelgeleiteten Sportarten des Hochleistungssports statt und ist als ein Verstoß gegen die in den jeweiligen Sportarten weltweit geltenden und kodifizierten Regeln zu definieren. Medikamentenmissbrauch zeichnet sich dadurch aus, dass Medikamente nicht zu dem vorgesehenen Zweck, nämlich zur Heilung von Krankheiten benutzt werden.

Medikamentenmissbrauch findet sich in vielen Lebensbereichen, vorrangig jedoch bei der Arbeit und in der Freizeit. Dabei versuchen Menschen durch die Einnahme von Medikamenten z.B. ihren Körper zu formen und einem von der Gesellschaft vorgegebenen Schönheitsideal zu folgen. Dieses Schönheitsideal kann möglicherweise nur dadurch erreicht werden, indem man sich missbräuchlich verschiedener Medikamente bedient. Künstler und Wissenschaftler können sich durch Medikamente zu künstlerischen und wissenschaftlichen Höchstleistungen stimulieren. Medikamente machen es möglich, dass wir unsere Arbeitskraft bis zur Erschöpfung ausnutzen können. Mit Medikamenten kann die Regenerationszeit nach anstrengenden Belastungen verkürzt werden. Auch Konzentration, Kreativität und Wahrnehmungsfähigkeit lassen sich mittels Medikamenten verbessern. Dies ist in unserer Gesellschaft üblich, weil es nicht verboten ist. Der Gesetzgeber lässt es sogar zu, dass Menschen sich selbst zerstören: Selbstmordversuche sind nicht strafbar.

Der Dopingbetrug ist hingegen eine besondere Form des Medikamentenmissbrauchs. Er bezieht sich nur auf das System des Leistungs- und Hochleistungssports, und er ist an die Tatsache gebunden, dass in diesem System schriftlich fixierte Regeln herrschen, die auf einer Vereinbarung der Beteiligten beruhen. Zu diesen Regeln gehört das Verbot der Leistungsmanipulation durch Medikamente und andere unerlaubte Hilfsmittel.

Unterscheidet sich somit der Dopingbetrug vom Medikamentenmissbrauch über die kodifizierten Regeln, so haben doch beide gesellschaftlichen Phänomene eine Gemeinsamkeit aufzuweisen. Ermöglicht, verstärkt und verursacht werden sie – insbesondere im 20. und 21. Jahrhundert – ganz wesentlich durch die Wissenschaft, vornehmlich durch die Pharmakologie, die Chemie und die Medizin. Von ihnen werden die Substanzen entwickelt und anwendungsreif gemacht, zwar zu einem anderen Zweck, aber eben auch zum Dopingbetrug verwendbar.

Betrachten wir die Entwicklung der Wissenschaften in den vergangenen Jahrhunderten und beobachten wir dabei die Entwicklung der Naturwissenschaften etwas genauer, so können wir erkennen, dass es im 20. Jahrhundert zu einem „Take-off“ der Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie, der Chemie, der Physik und der Medizin gekommen ist. Wenn wir daher von Medikamenten reden, so gewinnen Pharmakologie und Medizin zunehmend an Bedeutung. Ihr Einfluss auf die Gesellschaft wächst, und mit dem Wachstum dieser Wissenschaften kommt es zu einem Wachstum ihrer Industrien, der pharmazeutischen Industrie und der Medizinindustrie. Deren Erfolge können gewiss immer auch als Erfolge unseres Gesundheitssystems bilanziert werden: Neu entwickelte Medikamente ermöglichen die Heilung von Krankheiten, die zuvor als unheilbar gegolten haben. Mittels Medikamenten lassen sich viele Krankheiten präventiv abwenden. Medikamente mildern Beschwerden, die zuvor als unerträglich wahrgenommen wurden.

Doch der Erfolg der medizinischen und pharmazeutischen Industrie hat auch andere Seiten. Mit dem Wachstum und dem Erfolg wächst der Medikamentenmissbrauch. In der Welt des Sports ist in der Tat zu erkennen, dass Umfang und Formen des Dopingbetruges in direkter Beziehung zu den Fortschritten der medizinischen und pharmazeutischen Industrie stehen. Man könnte sogar behaupten, dass es ein modernes Dopingproblem ohne diese Disziplinen nicht geben würde.

Mittlerweile stellt sich das Dopingproblem für die Organisationen des Sports als eine nahezu ausweglose tödliche Falle dar. Der Hochleistungssport ist längst zum „Skandalon“ geworden. Nahezu täglich wird in den Massenmedien über einzelne Fälle des Dopingbetruges berichtet. Immer häufiger verdächtigen sich Athleten gegenseitig, und fast sämtliche sportliche Höchstleistungen sind suspekt. Neuen Rekorden begegnen Experten und Zuschauer gleichermaßen mit Misstrauen. Funktionäre der Sportverbände werden immer öfter der Lächerlichkeit preisgegeben, wenn sie so unverständlich handeln, wie dies bei vielen Delikten der Fall ist. Sportärzte werden als Dealer überführt. Pharmakologen entwickeln Substanzen, mit denen Athleten ihre Leistung steigern können, ohne dass es möglich ist, sie bei Anti-Dopingkontrollen positiv zu testen. Immer mehr Staaten verabschieden gesetzliche Regelungen zur Bekämpfung des Dopingbetrugs, die sich jedoch meist als wirkungslos erweisen. Moralische Rhetorik hat Konjunktur.

Das Problem des Dopingbetruges erweist sich dabei jedoch als äußerst komplex. Es ist in seiner Reichweite nicht definierbar, sein Ausmaß kann nur erahnt werden. Verlässliche Lösungen sind bis heute nicht in Sicht. Es ist naheliegend, dass angesichts dieser Situation die Frage gestellt werden muss, welchen Beitrag jenes System zur Lösung dieses gravierenden gesellschaftlichen Problems erbringt, das sich in differenzierten Gesellschaften durch einen besonderen Auftrag auszeichnet. Zu fragen ist, welche Erkenntnisse, welches Wissen, welche Verfahren und im weitesten Sinne welche Problemlösungen das System der Wissenschaft zur Lösung des Dopingproblems derzeit anbietet, anbieten könnte und möglichst anbieten sollte. Aus naheliegenden Gründen ist diese Frage vor allem an drei Wissenschaften zu richten. Zunächst müssen die Pharmakologie und die Medizin gefragt werden, welchen Beitrag sie zur Lösung dieses komplexen Problems beisteuern. Desgleichen muss diese Frage aber auch an die Sportwissenschaft gerichtet werden; denn sie ist jene Wissenschaft, die sich dezidiert auf das System des Sports ausgerichtet hat bzw. die darauf ausgerichtet sein sollte und deshalb mit Blick auf die erwünschten Problemlösungen in diesem Zusammenhang gefordert sein muss; bloße Erklärungen reichen dazu nicht aus.

Es ist nicht das Ziel dieses Beitrages, die Forschungsleistungen der Biochemie, der Pharmakologie und der Medizin in Bezug auf das Dopingproblem einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Es soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass eine universitäre Erforschung des Dopingproblems durch die entsprechenden Institute medizinischer Fakultäten so gut wie nicht existiert. Aber auch die pharmazeutische Industrie mit ihren Forschungseinrichtungen und mit den dort tätigen Forschungsexperten hat sich an einer Erforschung des Problems bislang gar nicht oder nur in Ausnahmefällen beteiligt. Die Erforschung des Problems liegt somit fast ausschließlich in den Händen jener Experten, die in den vom IOC akkreditierten Labors als Biochemiker oder Pharmakologen arbeiten. Dabei sind durchaus beachtenswerte Ergebnisse erzielt worden. Dies gilt insbesondere für die Nachweismöglichkeiten von verbotenen Substanzen. Ein wesentlicher Beitrag zur grundlegenden Lösung des Problems ist jedoch von den Naturwissenschaften bisher nicht erbracht worden. Nach wie vor befinden sich sowohl die Medizin als auch die Pharmakologie in dem Dilemma, dass es Mitglieder der eigenen „scientific community“ sind, die den Dopingbetrug durch ethisch nicht fundiertes wissenschaftliches Handeln begünstigen und sich die Standesorganisationen dieser Wissenschaften als unfähig oder unwillig erwiesen haben, dieses Problem ernst zu nehmen und zu einer Lösung beizutragen.

Kaum erfreulicher erscheint die Bilanz, wenn man nach dem Beitrag der Sportwissenschaft zur Lösung des Dopingproblems fragt. Die Sportwissenschaft hat sich wohl in ihrer organisierten Form mit zwei Erklärungen zum Anti-Dopingproblem zu Wort gemeldet, die jedoch in ihrer Allgemeinheit und Folgenlosigkeit kaum zu übertreffen sind. Ansonsten kann die Sportwissenschaft als Organisation und Institution in ihrer nunmehr nahezu 50-jährigen Geschichte so gut wie keinen Beitrag aufweisen, der als bedeutsam im Kampf gegen Doping bezeichnet werden könnte. Angesichts der Entwicklung der Sportwissenschaft ist dies jedoch nicht überraschend. Die Sportwissenschaft hat sich nämlich entgegen einer gut gemeinten Absicht ihrer Gründungsväter zu einer losen Sammlung von wissenschaftlichen Einzeldisziplinen entwickelt, deren Kommunikation untereinander nur sehr begrenzt stattfindet, und vermutlich wird dies auch zukünftig kaum anders sein. Will man die Frage, welchen Beitrag die Sportwissenschaft zur Lösung des Dopingproblems erbracht hat, genauer beantworten, so ist eine Überprüfung der einzelnen Teildisziplinen notwendig. Dabei ist festzustellen, dass die Bilanz nur unwesentlich positiver ist.

Die Bewegungswissenschaft und Biomechanik melden Fehlanzeige. Von der Sportpsychologie gibt es lediglich erste Skizzen, die darauf hinweisen, dass das Problem auch als psychisches Problem ein beachtliches Ausmaß angenommen hat. Pädagogik und Erziehungswissenschaft haben das Feld der Prävention noch nicht einmal in Anfängen betreten. Betrachtet man dabei die Institute für Sportwissenschaft der deutschen Universitäten, die ja in hohem Maße einer sportpädagogischen Ausbildung verpflichtet sind, so wird das Thema in der Lehre nur am Rande und in der Forschung so gut wie gar nicht bearbeitet. In soziologischen Studien wurden Systemzwänge des Hochleistungssports offen gelegt, die der Hochleistungssport über seine Systemlogik aufgebaut hat. Sportökonomen übertragen theoretische Modelle, die sie in anderen Ökonomiefeldern angewandt haben, auf das Phänomen des Dopingbetruges und versuchen damit, Alternativen zum Kontrollsystem und zur Bestrafung anzubieten. Die philosophisch-ethische Diskussion wird von ethisch-theoretischen und philosophischen Beiträgen geprägt, die von einer Bagatellisierung des Problems bis zur entschiedenen moralischen Verurteilung reichen. Alle diese Beiträge erfolgen punktuell, sind abhängig von einzelnen Forschern, die sich aus Interesse dem Thema zuwenden, die jedoch genauso schnell zu ihren traditionellen Forschungsschwerpunkten zurückkehren. Auf diese Weise bleibt sowohl für den einzelnen Forscher als auch für die jeweilige Disziplin das Dopingproblem ein Randthema, das nicht systematisch bearbeitet wird.

Bilanziert man die mehr als 30-jährige sportwissenschaftliche Forschung im Hinblick auf das Dopingproblem, so kann man deshalb zu keinem anderen Ergebnis kommen, als dass die Sportwissenschaft über erste Ansätze der Problembeschreibung und -analyse bislang nicht hinausgekommen ist. Ein interdisziplinäres Vorgehen ist nicht zu erkennen, und so kann es kaum überraschen, dass in Bezug auf die dringend geforderten Problemlösungen der Beitrag der Sportwissenschaft als gering oder gar als nichtig zu bezeichnen ist. Über einige Zeitschriften, Handbuch- und Lexikonartikel ist die Sportwissenschaft in Bezug auf dieses Problem nicht hinausgekommen. Intelligente, originelle und vor allem praxisrelevante Lösungen sind bis heute nicht in Sicht.

Dabei stellt sich das Problem des Dopingbetrugs als eine Herausforderung dar, wie sie für die Sportwissenschaft kaum interessanter sein könnte. Der Staat, gemeinsam mit den Sportorganisationen optimiert derzeit ein Kontrollsystem, wohl wissend, dass selbst das perfekteste Kontrollsystem von Betrügern unterlaufen werden kann. In den Labors bemüht man sich um Nachweismethoden. Hierzu werden enorme Forschungsmittel aufgewendet. Dabei kann man jedoch davon ausgehen, dass immer dann, wenn eine neue Methode entwickelt wurde, in der Zwischenzeit erfundene neuere Substanzen mit dieser Methode nicht nachgewiesen werden können. In der ethischen Diskussion verlässt man sich auf medizinische Begründungen in Bezug auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Athleten, obwohl man wissen müsste, dass das Gesundheitsargument weder den modernen Sport legitimieren kann, noch ein realistischer Maßstab für das Handeln von Athleten ist. Beim Verbot von leistungssteigernden Substanzen beruft man sich auf das Fair Play Gebot, obwohl klar ist, dass durch den Einsatz und durch die Nutzung anderer Technologien ständig gegen das Fair Play Prinzip verstoßen wird. Der Hochleistungssport als Materialschlacht und als ingenieursmanipulierte Technologieschau ist längst Realität geworden. Aus ethischen und medizinischen Erwägungen heraus wird „Substitution“ als akzeptabel erwogen, obwohl die Grenzen zwischen Substitution und Manipulation systematisch nicht zu ziehen sind.

Hinzukommt: Welche Strafen können bei Dopingbetrug z.B. als gerecht bezeichnet werden, wenn sich die Akteure des Betruges sozialstrukturell und unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten erheblich unterscheiden? Welche Abschreckungsmaßnahmen sind notwendig, wenn der Betrug sich in ganz unterschiedlicher Weise als lohnend erweist? Welche organisatorischen und institutionellen Vorkehrungen sind erforderlich, will man den Kampf gegen Doping globaler führen? Diese Art von Fragen könnten nahezu endlos fortgeführt werden. Doch bereits in ihrer begrenzten Darstellung verdeutlichen sie das Ausmaß des Problems.

Betrachtet man das Dopingproblem in seiner gesamten Komplexität, so ist zu erkennen, dass sich ethische, juristische, organisatorische, ökonomische, pädagogische, psychologische und soziologische Fragen geradezu auftürmen. Es gibt wohl kaum ein Problem, in dem es so offensichtlich ist wie beim Dopingproblem, dass verkürzte einzelwissenschaftliche Zugänge zur Problemlösung wohl eine notwendige Bedingung sein können; sie sind jedoch immer nur ein erster Anfang, will man das Problem auch nur annähernd in den Griff bekommen. Im Kampf gegen das Dopingproblem ist der „gordische Knoten“ zu durchschlagen. Will hierzu die Wissenschaft einen Beitrag leisten, so kann dies nur in einem gemeinsamen Bemühen, in einer koordinierten Aktion, im Forschungsverbund und über herausragende Denkleistungen der Besten der jeweiligen Disziplinen geschehen. Kreativität und höchste Intelligenz sind notwendig, möchte man einen Schritt vorankommen.

Die aktuelle Situation ist vom Gegenteil geprägt: Redundante Wiederholung der immer gleichen Experimente, längst bekannte Aussagen und Erkenntnisse werden kopiert, ohne ihre Quellen zu nennen, Geschwätz, moralische Appelle und Ehrenerklärungen dokumentieren ein Bild von Hilflosigkeit, wie es kaum übertroffen werden kann. In Deutschland entstehen Eliteuniversitäten, Excellenzcluster und Graduiertenschulen werden gebildet. Doch niemand scheint bereit zu sein, dem größten Massenphänomen in unserer Gesellschaft, dem Hochleistungssport, jene wissenschaftliche Referenz zu erweisen, die er dringend benötigt. Ohne eine umfassende wissenschaftliche Hilfe bleibt der olympische Hochleistungssport auf sich allein gestellt, und es besteht die Gefahr, dass er den schon seit längerer Zeit beobachtbaren Weg seiner Selbstzerstörung weiter beschreitet.

letzte Überarbeitung: 26.03.2018

Erstveröffentlichung: Olympisches Feuer 57 (2007) 6, S.38-41.