1. Vorbemerkung
Im Februar 2020 werden in Leipzig die Deutschen Hallen-Leichtathletik-Meisterschaft stattfinden. Mehr als 500 Athleten kämpfen dabei um den Titel eines Deutschen Hallenmeisters in mehr als 20 verschiedenen Disziplinen. 400 dieser jungen Männer und Frauen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren sind Berufstätige, Studenten oder befinden sich in der Ausbildung. Ihre Leidenschaft, ihr Hobby ist die Leichtathletik. Um bei dieser Meisterschaft teilnehmen zu können, haben sie viele Qualifikationen einzulösen, Hessische oder Sächsische, Süddeutsche oder Norddeutsche Meisterschaften sind die Stationen, um die Teilnahmeberechtigung an der Deutschen Meisterschaft zu erwerben. Mehrmals in der Woche wird von diesen Athleten hierfür trainiert. Zur Deutschen Meisterschaft werden viele von ihnen mit dem eigenen PKW fahren, in billigen Unterkünften werden sie sich einquartieren, nicht wenige werden nur in der Jugendherberge wohnen. Nicht mehr als 100 Athleten von 500 sind es, die für ihren Trainings- und Wettkampfaufwand in angemessener Weise entschädigt werden, die Startgelder bei Sportfesten erhalten und die in den Genuss einer umfassenden Sponsorenunterstützung gelangen. Alle übrigen erhalten allenfalls Reisekostenzuschüsse zu den Wettkämpfen, manchmal Unterstützung für ihre mehrwöchigen Trainingsmaßnahmen, kleine Ernährungsbeihilfen, der größte Teil der Athleten finanziert sich selbst. Oft sind sie nicht einmal in Kadern erfasst. Doch nicht nur 100 Leichtathleten, sondern diese 500 Athleten in ihrer Gesamtheit betreiben Spitzensport. Sie sind die Elite der deutschen Leichtathletik, sie sind jenes kulturpolitische Phänomen, das es zu fördern gilt.
Diese Beobachtung legt die folgende These nahe: Ein solides, differenziertes Wissen über die Realität des Spitzensports in der Bundesrepublik Deutschland ist bei jenen, die den Spitzensport steuern bzw. die ihn zu verantworten haben, so gut wie nicht mehr vorhanden. Dies gilt für die Politiker und die Führungseliten in der deutschen Wirtschaft gleichermaßen. Teilweise gilt dies auch für die Sportfunktionäre. Ja, selbst viele Sportwissenschaftler haben einen durch Vorurteile verstellten Blick bezogen auf den Leistungssport. Das Wissen über den Spitzensport in Deutschland ist manipuliert, ist verkürztes Wissen, ist orientiert an wenigen Stars, an horrenden Gagen, an verzerrten TV-Präsentationen. Das Wissen bezieht sich auf die Aspekte des Showbusiness und der Unterhaltungsindustrie, die es im modernen Sport ohne Zweifel gibt. Die alltägliche kulturelle Praxis des Sports wird dadurch jedoch verdeckt, sie ist für die Mehrheit unserer Bevölkerung nicht mehr zugänglich.
Vor dem Hintergrund meiner Beobachtungen und der von mir behaupteten These möchte ich nun sieben Orientierungspunkte empfehlen, an denen sich eine athletenorientierte Sportförderung ausrichten könnte.
2. Sieben Orientierungspunkte
Orientierungspunkt 1: Mündiger Athlet
Ziel jeder Sportförderung sollte der mündige Athlet sein. Der mündige Athlet ist dabei der Repräsentant einer kulturell erwünschten und gesellschaftspolitisch bedeutsamen Leistung. Diese Leistung muss in erster Linie als individuelle Leistung betrachtet werden. Sie ist aber immer auch in eine gemeinschaftliche Leistung eingebunden. Das von Richard Merton in der Wissenschaft angewandte Bild kann auf den Sport übertragen werden. Jeder Sieger ist Sieger auf den Schultern von Riesen. Dieses Bild verweist auf die Notwendigkeit, dass ein mündiger Athlet in ein Wertekonzept unserer Gesellschaft eingebunden sein muss. Er muss sich diesem auch verpflichtet fühlen. Dazu gehört das Prinzip des Fair Play, dazu gehören die Regeln seiner Sportart und dazu gehören vor allem auch die Grundwerte unserer Gesellschaft. Die Idee vom mündigen Athleten kann nie losgelöst von unserer Gesellschaft gesehen werden. Deshalb muss der mündige Athlet seinen Sport als einen Teilbereich unserer Gesellschaft betrachten. Er muss sich der komplexen Umwelt seines Sports bewusst sein. Ein mündiger Athlet ist immer auch Staatsbürger und nicht nur Athlet. Nicht weniger wichtig ist es, dass sich der mündige Athlet der zeitlichen Begrenztheit seines Tuns bewusst ist, er ist immer mehr als nur ein Athlet. Es gibt immer ein ‚Danach‘.
Orientierungspunkt 2: Subsidiarität – Hilfe zur Selbsthilfe
Eine athletenorientierte Sportförderung stellt die individuelle Verantwortung des Athleten in das Zentrum der Förderkonzeption. Hilfe durch andere kann immer nur eine teilweise Hilfe sein. Eigenbeiträge des Athleten sind zwingend erforderlich. Vor allem muss der Athlet sich der Risiken seines Hochleistungssports und seines Tuns im Hochleistungssport bewusst sein. Er muss begreifen, dass subsidiäre Hilfe immer nur eine Teilhilfe sein kann, die nicht entlastet von der Übernahme eigener Verantwortung.
Orientierungspunkt 3: Solidarität
Der mündige Athlet hat seine Leistung als Resultat einer komplexen Sportförderung zu begreifen, die in vieler Hinsicht auch anderen Institutionen, Personen zu verdanken ist. Er sieht sich eingebunden in die Basis des Sports, in den Verein, in die Unterstützung seiner Übungsleiter und Trainer. Er sieht seine sportliche Leistung als Resultat solidarischer Unterstützung. Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, dass der mündige Athlet selbst zur solidarischen Unterstützung jener bereit sein muss, die nach ihm den Weg des Leistungssports gehen. Der erfolgreiche Spitzensportler muss notwendige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Nachwuchskonzeption in seiner Sportart sein. Sportförderung sollte deshalb zumindest teilweise auch Darlehenscharakter haben. Es geht nicht an, dass die sportliche Höchstleistung genossenschaftlich produziert wird, hingegen die erfolgreiche Leistung kapitalistisch-privatwirtschaftlich ausschließlich zum Nutzen des erfolgreichen Athleten verwendet wird. Die vom Sport propagierte soziale Offensive kann nur glaubwürdig sein, wenn die soziale Dimension auch auf der Ebene des Hochleistungssports zum Tragen kommt. Dabei ist eine Konzeption des Altruismus zwingend erforderlich.
Orientierungspunkt 4: Optimales Training
Eine Gesellschaft, die die Idee des mündigen Athleten als förderungswürdig empfindet, hat die Voraussetzungen zu bieten, damit mündige Athleten erfolgreich in ihrem leistungssportlichen Handeln diese Idee repräsentieren können. Dazu gehört vor allem eine optimale personelle Unterstützung durch Trainer, Physiotherapeuten, Ärzte, Trainingswissenschaftler etc. Die vom DOSB gesteuerten Olympia-Stützpunkte sind diesbezüglich eine geeignete Grundlage und bedürfen einer konsequenten Förderung. Ferner benötigt der Athlet optimale Trainingsstätten und Trainingsmaterialien, auch hierzu bedarf es materieller und finanzieller Unterstützung. Wichtig ist aber auch, dass man den Athleten Freiräume eröffnet, um ihnen optimale Trainingszeiten zu gewährleisten. Nicht nur optimales Training und optimaler Wettkampf sind jedoch eine notwendige Voraussetzung für den erfolgreichen mündigen Athleten, es gehört auch die Bereitstellung von optimalen Lebensbedingungen dazu. Bis hinein in den Bereich der spezifischen Ernährung bedarf es dabei der Unterstützung durch die öffentliche Hand. Besonders wichtig ist angesichts der heute üblichen intensiven Trainingsbelastungen, dass dem Athleten auch eine optimale Möglichkeit zur Regenerierung nach sportlichen Leistungen eröffnet wird.
Orientierungspunkt 5: Optimales Wettkampfwesen
Nachhaltige Wettkampferlebnisse sind grundlegende Bedingung für den Weg zum mündigen Athleten. Heute ist die Wettkampfsituation häufig dadurch gekennzeichnet, dass durch zu frühe Wettkämpfe und zu viele Wettkampfbelastungen für den Athleten eine Situation entsteht, die seine Mündigkeit in Frage stellt. Deshalb wäre nicht zuletzt für den Kinderbereich zu empfehlen, dass auf nationale und internationale Wettkämpfe für diese Altersgruppe verzichtet wird, dass im Erwachsenenbereich der Wettkampfkalender sorgfältig gestaltet wird und dass darüber hinaus der Charakter der Wettkämpfe neu geprägt wird, so dass es zu intensiveren Wettkampferlebnissen kommt, als dies in den letzten Jahren der Fall war.
Orientierungspunkt 6: Optimale Sozialisation
Wird akzeptiert, dass Athlet sein immer ein Athlet sein auf Zeit bedeutet, so bedarf es einer sorgfältigen Planung jener Lebensphase, in der der Athlet intensive Belastungen einzugehen hat. Deshalb muss dem Athleten die Gewährleistung einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung eröffnet werden. Schulische Ausbildung ist dabei besonders zu beachten. Die berufliche Ausbildung ist im Blick zu behalten, so dass eine private und soziale Absicherung für den Athleten möglich wird. Eine einseitige Persönlichkeitsentwicklung, die durch intensives Training zwangsläufig nahegelegt ist, muss kompensatorisch ausgeglichen werden.
Orientierungspunkt 7: Die Zeit danach
Sämtliches Handeln einer optimalen athletenorientierten Sportförderung muss die Zeit nach der Beendigung der Karriere im Blick haben. Das Drop-out-Problem während der aktiven Zeit bedarf ständiger Begleitung. Verletzte Athleten bedürfen einer speziellen Betreuung. Es ist gerade auf diesem Gebiet zwingend angesagt, dass die bisher existierenden Lösungen verbessert werden. Wichtiger noch ist jedoch, dass nach Beendigung der Karriere dem Athleten auf eine verantwortungsvolle Weise der Übergang in die Arbeitsgesellschaft ermöglicht wird. Die Laufbahnberatung in den Olympia-Stützpunkten ist hierzu eine willkommene Einrichtung. Ihre Arbeit muss intensiviert werden, insbesondere muss noch gezielter die Zeit danach in den Blick der verantwortlichen Institutionen rücken.
3. Ausblick
Die von mir genannten sieben Orientierungspunkte können allenfalls als Denkanstöße verstanden werden, um in der Diskussion über die athletenorientierte Sportförderung einen kleinen Schritt voranzukommen. Viele Fragen sind in der Diskussion über die athletenorientierte Sportförderung offen und es finden sich nur wenige gute Antworten auf diese Fragen. So ist nach wie vor ungeklärt, ob jede Sportart in vergleichbarer Weise förderungswürdig ist. Gibt es konsensfähige Kriterien, um die Förderungswürdigkeit einer Sportart zu bewerten? Wie stellt sich das Problem der Förderungswürdigkeit der Sportarten angesichts der noch immer stattfindenden dynamischen Ausdifferenzierung des Sportsystems, angesichts der Vervielfältigung der Sportarten? Aber auch die Frage nach den Leistungsnormen, an die die Sportförderung gebunden sein sollte, ist neu zu stellen. Welche Leistungsnormen sind angemessen angesichts eines konsequenten und glaubhaften Kampfes gegen Doping und Manipulation? In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob wir nicht neue Maßstäbe zur kulturellen Bewertung einzelner Sportarten einführen müssen. Sind Sportarten mit fairen Regelsystemen förderungswürdiger als solche Sportarten, die über ihre Regelvorgaben ungleiche Wettkämpfe nahelegen? Ist es sinnvoll, dass Sportarten gefördert werden, in denen die technologische Entwicklung der Sportgeräte für den Erfolg des Athleten von entscheidender Bedeutung ist? Wie verhält sich diese Entwicklung mit dem Prinzip der Chancengleichheit, insbesondere gegenüber den Ländern der Dritten Welt? Wäre es nicht wünschenswerter, dass nur solche Sportarten gefördert werden, in denen die Sportgeräte allen Athleten in gleicher Weise zur Verfügung stehen? Aber auch die Frage nach dem angemessenen Verhältnis zwischen dem Leistungssport für Behinderte und dem traditionellen Leistungssport bedarf einer Diskussion. Ist der letztere förderungswürdiger als der Leistungssport der Behinderten? Wie verhält es sich mit den olympischen Sportarten und den nichtolympischen Sportarten? Auf all diese Fragen gibt es keine schnellen Antworten. Sie bedürfen einer sorgfältigen Diskussion.
Soll abschließend die Situation der Sportförderung bilanziert werden, so kann diese Bilanz nur bruchstückhaft aussehen. Angesichts der sich abzeichnenden ökonomischen Schwierigkeiten unserer Wirtschaft in Deutschland, angesichts der nachlassenden öffentlichen Unterstützung für die Belange des Hochleistungssports, vor dem Hintergrund der Beendigung der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West auf dem Ersatzkriegsschauplatz des Sports stellt sich eine athletenorientierte Sportförderung unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten als neue Herausforderung dar. Viele Fragen sind offen, sie bedürfen einer fundierten Diskussion. Gesucht sind tragfähige, konsensfähige Kompromisse in einem immer pluralistischer werdenden Sportsystem. Es wäre zu wünschen, dass die Diskussion, insbesondere mit den Athleten selbst, erste Lösungen auf diesem Gebiet bringen könnte.
letzte Überarbeitung: 31.12.2019