Leichtathletik auf dem Prüfstand

Alle vier Jahre und zwar bei den Olympischen Sommerspielen steht die Leichtathletik im Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit. Die Olympischen Spiele im Jahr 2021 in Tokyo haben es einmal mehr gezeigt: die Leichtathletik ist ohne Zweifel eine der wichtigsten olympischen Sportarten. Sie kann die meisten Zuschauer im Olympiastadion an sich binden und in ihrer Resonanz in der Presse, im Internet und vor allem im Fernsehen nimmt sie ebenfalls eine herausragende Position ein. Die Olympiasieger¹ der Leichtathletik sind die Stars der Spiele. Usain Bolt wurde auf diese Weise zu einem Megastar des Weltsports.
Das außergewöhnliche Interesse an der Weltleichtathletik ist jedoch nur auf wenige Tage und Wochen beschränkt. Nach der Schlussfeier der Olympischen Spiele beginnt ein leichtathletischer Alltag, der jeweils vier Jahre dauert. In diesen vier Jahren kann die Leichtathletik nur mit wenigen Ausnahmen das Rampenlicht der Weltöffentlichkeit erreichen. Dabei mangelt es der Leichtathletik zumindest auf den ersten Blick betrachtet keineswegs an Auftritten. Der Wettkampfkalender der Leichtathletik ist prall gefüllt. Angeführt wird er von den Weltmeisterschaften, die alle zwei Jahre stattfinden, gefolgt von den Hallenweltmeisterschaften, den Junioren-Weltmeisterschaften, den Jugend-Weltmeisterschaften, den Cross-Weltmeisterschaften, den Halbmarathon-Meisterschaften und dem Continental-Weltcup. Alle zwei Jahre finden nunmehr auch Europameisterschaften statt. Hallen-Europameisterschaften, Europacup, Diamond League, World Challenge und Europa League sind weitere Markenzeichen der Leichtathletik, die jährlich oder alle zwei Jahre angeboten werden.  Länderkämpfe, Meetings mit mehreren Disziplinen, Meetings verschiedener Einzeldisziplinen, Mehrkampfmeetings sind weitere internationale Sportereignisse. Betrachten wir den nationalen Kalender, so ist er nach wie vor zumindest in den großen Leichtathletiknationen überfüllt. Leichtathletikwettkämpfe reichen dabei von Vereinsmeisterschaften über Kreismeisterschaften und Landes- und Regionalmeisterschaften bis hinauf zu einer unzähligen Palette von nationalen Meisterschaften.
Auf den ersten Blick, so scheint es, gibt es noch genügend Interesse an der Leichtathletik, denn wenn all diese Wettkämpfe gelingen sollen, so werden zunächst und vor allem Athleten benötigt, die an diesen Wettkämpfen teilnehmen. Diese müssen von Trainern trainiert werden, die Athleten auf diese Wettkämpfe vorbereiten. Es muss genügend Kampfrichter geben, damit all diese Wettkämpfe organisatorisch gelingen und es müssen auch die notwendigen Mittel bereitgestellt sein, damit diese Wettkämpfe finanzierbar bleiben.
Verlassen wir diese oberflächliche Betrachtung der Leichtathletik und setzten uns etwas genauer mit den Tiefenstrukturen dieser Sportart auseinander, wagen wir einen vergleichenden Blick zwischen den Leichtathletiknationen in Europa, zwischen den Kontinentalverbänden und wagen wir auch einen Vergleich zwischen den einzelnen Landesverbänden einer Leichtathletik- Nation wie der von Deutschland, so müssen wir allerdings sehr schnell erkennen, dass die Quantität der Leichtathletik nur ganz selten mit Qualität einhergeht und dass die Leichtathletik keineswegs jene globale Weltsportart darstellt, wie sie in öffentlichen Reden postuliert wird. Im Folgenden möchte ich deshalb den Blick auf die Leichtathletik etwas schärfen und ich möchte mich einzeln wichtigen Aspekten zuwenden, die für die Weiterentwicklung der Leichtathletik meines Erachtens von großem Interesse sind.
Meine Darstellung und Analyse folgt dabei ressourcentheoretischen Erkenntnissen wie sie von mir zum ersten Mal in einer internationalen Vergleichsstudie zu den acht erfolgreichsten Hochleistungsnationen vorgelegt wurde. Es wird dabei davon ausgegangen, dass einer Nation in grundsätzlicher Weise jeweils drei Ressourcen zur Entwicklung seines Hochleistungssports zur Verfügung stehen.
Als eine Art Hintergrundressource ist zunächst die Gesellschaft zu beobachten, in der sich der Hochleistungssport ereignet (vgl. Abb. 1).

Die Gesellschaft als Ressource für das Hochleistungssportsystem

Die Gesellschaft als Ressource für das Hochleistungssportsystem

Die Gesellschaft kann die Entwicklung des Hochleistungssports begünstigen, sie kann sie aber auch beeinträchtigen oder gar verhindern.

Als zweite wichtige Ressource ist der Hochleistungssport mit seinen wichtigsten Strukturen zu betrachten (vgl. Abb. 2).

Das Sportsystem als Ressource für sportliche Höchstleistungen

Das Sportsystem als Ressource für sportliche Höchstleistungen

Schließlich muss die relevante Umwelt als dritte Ressource in den Blick genommen werden, wenn man die Qualität eines Hochleistungssportsystems beschreiben möchte. Dabei ist der Hochleistungssport in seinem Tauschverhältnis zur Politik, zur Wirtschaft, zu den Massenmedien, zum System der Bildung und Erziehung, zur Wissenschaft und zum Militär zu betrachten, wobei das Militär als Teilaspekt des Staates zu behandeln ist (vgl. Abb. 3).

Die Umwelt des Sportsystem als Ressource für sportliche Höchstleistungen

Die Umwelt des Sportsystem als Ressource für sportliche Höchstleistungen

Wendet man den ressourcentheoretischen Ansatz auf die in einem Spitzenfachverband organisierte Leichtathletik an, so ist in einem ersten Schritt zu fragen, welche Rolle unsere Gesellschaft für die Entwicklung der Leichtathletik spielt. Im zweiten Schritt steht die Organisation der Leichtathletik als Hochleistungssport selbst auf dem Prüfstand und im dritten Schritt ist die Frage zu klären, welche Beiträge die relevanten Partnersysteme zugunsten der deutschen Leichtathletik erbringen.
Die Analyse und Bewertung unserer Gesellschaft, die diese für die Entwicklung der Leichtathletik in Deutschland spielt, möchte ich sehr kurzfassen. Angesichts der außergewöhnlichen wirtschaftlichen Situation Deutschlands, vor dem Hintergrund einer stabilen parlamentarischen Demokratie, mit Blick auf ein differenziertes Bildungswesen, in dem Leibeserziehung und Sportunterricht   eine nahezu zweihundertjährige Tradition aufweist, und angesichts der Sozialstruktur der Bundesrepublik Deutschland, kann von idealen Rahmenbedingungen zugunsten der Leichtathletik in Deutschland gesprochen werden.
Betrachten wir die zweite wichtige Ressource des Hochleistungssports mit ihren wichtigsten Strukturen, d.h. betrachten wir die organisatorischen Strukturen der deutschen Leichtathletik, so ergibt sich ein sehr viel differenzierteres Bild als dies in Bezug auf die erste Ressource der Fall ist. Es empfiehlt sich dabei einzelne Faktoren etwas genauer zu betrachten. Für mich sind dabei die folgenden Faktoren von besonderer Relevanz:

  1. Interesse an der Leichtathletik und Teilnahme am aktiven Leichtathletikbetrieb
  2. Organisation und Verwaltung der Leichtathletik
  3. Hauptamtliches Personal der Leichtathletik
  4. Finanzierung der Leichtathletik
  5. Talentsuche und Talentförderung
  6. Athleten
  7. Trainer
  8. Kampfrichter
  9. Training und Vorbereitung auf Wettkämpfe
  10. Wettkampfstruktur
  11. Sportstätten
  12. Doping- Bekämpfung

Mit den 12 ausgewählten Faktoren habe ich versucht die Organisation der Leichtathletik als wichtige Ressource für die weitere Entwicklung dieser Sportart zu kennzeichnen. Das Ergebnis ist schillernd, in vieler Hinsicht muss von einer schwierigen Entwicklung gesprochen werden. Manche Aspekte weisen krisenhafte Tendenzen auf. Mit Blick auf den gesellschaftlichen Wandel, der sich derzeit in unserer Gesellschaft beobachten lässt, ist eine positive Perspektive für die Leichtathletik so gut wie nicht zu erkennen.
Wenn ich mich nun der dritten Ressource, der relevanten Umwelt der Leichtathletik zuwende, so kann sehr schnell konstatiert werden, dass die für die Leichtathletik relevanten Teilsysteme nur bedingt jenen positiven Beitrag erbringen, den man sich aus der Perspektive der Leichtathletik wünschen möchte. Das gilt für den Beitrag der Politik gleichermaßen, wie für den Beitrag der Wirtschaft, des Erziehungssystems, der Wissenschaft und der Massenmedien. Zufrieden kann man lediglich mit dem Beitrag des Militärs sein. Der Beitrag der Politik ist wohl nach wie vor angemessen, Leichtathletik wird in ausreichendem Umfang durch den Steuerzahler subventioniert. Angesichts allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen und nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Wachstums des Sports und der damit verbundenen Verteilungskämpfe der verschiedenen Sportarten untereinander ist eine vermehrte politische Unterstützung der Leichtathletik allerdings nicht zu erwarten. Gleiches gilt für die Wirtschaft als Kooperationspartner der Leichtathletik. Hier hat die Leichtathletik ihren Zenit erreicht und teilweise bereits überschritten. Neue Partnerschaften mit der Wirtschaft sind eher unwahrscheinlich und angesichts einer unsicheren wirtschaftlichen Entwicklung muss auch davon ausgegangen werden, dass das Sponsorenvolumen zugunsten des Sports nur noch ein geringes Wachstum aufweisen wird und sich dabei die Verteilungskämpfe der Sportarten um dieses Volumen verschärfen werden. Die Unterstützung durch das Bildungs- und Erziehungssystems, aber vor allem auch durch die Wissenschaft scheint verbesserungswürdig zu sein, wobei es sehr viel leichter sein wird, sich die Unterstützung der Wissenschaft zu sichern. Dagegen wird angesichts der Sportartenvielfalt ein gesteigerter Beitrag des Erziehungssystems zugunsten der Leichtathletik eher unwahrscheinlich sein. Problematisch ist auch der Beitrag der Massenmedien zugunsten der Leichtathletik, hier ist von einem Rückgang der Unterstützung zu sprechen. Dies gilt vor allem für die Leichtathletik auf lokaler und regionaler Ebene, auf nationaler Ebene können nur noch spektakuläre Leichtathletikereignisse mit einer medialen Resonanz rechnen. Die Perspektiven sind auch in Bezug auf die Kooperation mit den Medien eher als kritisch zu bezeichnen, zumal sich die Medienlandschaft äußerst fragmentiert darstellt und aus der Perspektive der jüngeren Generationen die Leichtathletik sich nicht als besonders attraktiv erweist.
Ich habe mit meinen ressourcentheoretischen Überlegungen versucht, dem für die Leichtathletik zuständigen Fachverband den Spiegel vorzuhalten. Als Insider habe ich mich dabei um eine Außensicht bemüht, weil ich glaube, dass man die Mängel der deutschen Leichtathletik nur dann erkennen kann, wenn man auf Distanz geht und die Leichtathletik im Vergleich zu anderen sportlichen und gesellschaftlichen Systemen betrachtet. Nimmt man diese Perspektive ein, so ist Nüchternheit angebracht, „Selbstbeweihräucherung“ hat es in der Vergangenheit zu oft gegeben. Die Verantwortlichen in der Leichtathletik müssen erkennen, dass ihre Sportart auf dem Prüfstand steht, sie wird vor allem geprüft von den Jugendlichen und dabei besteht die Gefahr, dass ihr Prüfgewicht immer geringer wird. Eine Sportart die überaltert, eine Sportart, die nicht zur Reform fähig ist, eine Sportart, die eine dringend erforderliche Verbandsreform bereits seit mehr als 10 Jahren vor sich herschiebt, eine Sportart, die nicht das Instrument von Regeländerungen zugunsten einer Attraktivitätssteigerung beherrscht, wird in ihrer weiteren Entwicklung erhebliche Probleme aufweisen. Ich bin davon überzeugt, dass sich all diese Probleme lösen lassen, dass man den Herausforderungen, die sich der Leichtathletik stellen, gewachsen sein kann, dass mit Kreativität und Engagement eine Reform der Leichtathletik auf den Weg gebracht werden kann, die im wahrsten Sinne des Wortes den Namen „Reform“ verdient. Doch dies bedarf sportpolitischer Entscheidungen, dies bedarf Veränderungen des Personals und dies Bedarf auch Veränderungen der Strukturen. Alle Verantwortlichen der deutschen Leichtathletik und auch deren Freunde sind aufgerufen sich an dieser Diskussion zu beteiligen, wird sie offen geführt, so sind Veränderungen naheliegend.

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letzte Bearbeitung: 10.2.2023