Sportarten und ihre Wettkampfkultur

Die meisten Wettkämpfe in den verschiedensten Sportarten zeichnen sich durch eine spezifische Atmosphäre aus, die von einem besonderen Dialog zwischen Athleten im Wettkampf und den sie beobachtenden Zuschauern geprägt ist. Dabei haben sportliche Wettkämpfe in gewissem Sinne immer sowohl eine allgemeine als auch eine spezifische Phänomenologie aufzuwei­sen. In allgemeiner Weise zeichnen sich Wettkämpfe dadurch aus, dass in ihnen die Merkmale Konkurrenz und Assoziierung eine Beziehung entwickeln, welche jene Spannung erzeugt, die für den Athleten die eigentliche Herausforderung in einem Wettkampf darstellt und die nachzuerleben für den Zuschauer höchsten Unterhaltungsgenuss bedeutet. Im Wunsch zu siegen kommt das Merkmal der Konkurrenz zum Tragen, doch Sieger kann man nur sein, wenn es einen Verlierer gibt, und so ist jeder Sieg auf Partnerschaft angewiesen. Noch deutlicher wird dies im Mannschaftssport. Das Siegtor schießt zwar ein Spieler allein, doch ohne die Kooperation aller seiner Mitspieler würde das Fußballspiel nicht gelingen und der erwünschte Sieg nicht möglich sein. In jeder Sportart sind diese allgemeinen Merkmale der Konkurrenz und Assoziierung aber auch auf sehr spezifische Weise anzutreffen. Insbesondere kann das Merkmal des Wettbewerbs durch eine ergänzende Rekordorientierung überlagert werden oder das Merkmal der Assoziierung kann zum tragenden Element des Wett­kampfes selbst erhoben sein, so z.B. in einer 4×100-m-Staffel. Jeder Wettkampf besitzt auf diese Weise seine eigene Qualität: Es gibt langweilige Wettkämpfe, spannende Wettkämpfe, ästhetische Wettkämpfe, barbarische Wettkämpfe. Wettkämpfe können aus sich selbst heraus Bedeutsamkeit erlangen, sie kön­nen jedoch auch in ein Umfeld eingebunden sein, das einen Wettkampf erst zu einer bedeutsamen Sache werden lässt. Auch innerhalb einer Sportart können sich die Wettkämpfe durch vielfältige Merkmale unterscheiden. Kinder-, Jugend-, Junioren-, Erwachsenen- und Seniorenwettkämpfe in der Leichtathletik haben z.B. ihre spezifischen Wettkampfregeln und bedingen auf diese Weise unterschiedliche Wettkampfqualitäten. Die Wettkämpfe können durch Zulassungsvoraussetzungen definiert sein und in ihrer Quantität und Qualität auf diese Weise vorgeprägt werden. Wettkämpfe für Männer und Frauen gibt es nicht nur in der Leichtathletik. Es gibt aber auch Sportarten, in denen die Geschlechter gemeinsame Wettkämpfe bestreiten, was wiederum eigene Wettkampfmerkmale, nicht zuletzt unter ästhetischen Gesichtspunkten, bewirkt, so z.B. beim Eiskunst-Paarlauf oder beim gemischten Doppel im Tennis. Wettkämpfe unterscheiden sich nicht nur innerhalb der jeweiligen Sportart und von Sportart zu Sportart – dabei weisen sie höchst unterschiedliche Qualitäten auf -, es ist auch anzunehmen, dass Wettkämpfe in kulturelle Traditionen, gesellschaftliche Normen und Werte eingebunden sind und somit Wett­kampfkulturen von Kulturkreis zu Kulturkreis unterschieden werden können. Wettkämpfe, bei denen Wetten üblich sind, so z.B. beim Pferdesport, zeichnen sich sowohl aus der Sicht der Athleten als auch aus der Sicht der Zuschauer durch andere Orientierungspunkte aus als Wettkämpfe, bei denen es um Tabellenplätze, Titel oder Meisterschaften geht.

Seit jeher unterliegen Wettkämpfe einem historischen Wandel, sie sind einge­bettet in gesellschaftliche Realitäten und werden von einer je spezifischen Umwelt beeinflusst, die für bestimmte Wettkämpfe mehr oder weniger bedeut­sam sein kann. Schauwettkämpfe haben eine andere Qualität als Meister­schaftswettkämpfe. Wettkämpfe, bei denen Alkohol ausgeschenkt wird, unter­scheiden sich von Meisterschaften in einem nikotin- und alkoholfreien Stadion. Wettkämpfe kombiniert mit Showelementen, Popmusik und Oktoberfestatmo­sphäre, so z.B. Sechstage-Rennen, gehören einer anderen Wettkampfkultur an als beispielsweise Leichtathletik-Sportfeste, die mit einem Gottesdienst begonnen werden und mit einer den Wettkampftag krönenden 4×400-m-Staffel enden.

Betrachten wir die Montagsausgabe einer Tageszeitung und deren Sportteil, so finden wir Berichte über unzählige Wettkämpfe, die in der Zeit von Samstagmittag bis Sonntagabend in der Welt, in Europa, in Deutschland, in der Region und in der Stadt, in dem diese Zeitung erscheint, stattgefunden haben. Volley­ball-Sichtungsturnier, Davis-Cup-Finale, Lokalderby in der Fußball-Amateurliga, Bezirksmeisterschaften der Leichtathleten, Europa-Cup-Gruppenspiel im Handball, German Open im Golf, Tischtennis-Pokalmeisterschaften und Fuß­ball-Bundesliga sind die beispielhaften Bezeichnungen für Wettkämpfe, die von Sportart zu Sportart und von Wochenende zu Wochenende wiederkehren. Diese Wettkämpfe finden in kleinen Hallen, in großen Sportarenen, auf Fuß­ballplätzen, in Olympia-Stadien, auf exklusivem Terrain, im Wasser, in der Luft, in wildem Gelände, aber auch in Hotelhallen, Konzertsälen, auf Flugplätzen und Messen statt. Der Sport mit seinen Wettkämpfen ist an jedem Ort denkbar und kann zu jedem Zeitpunkt stattfinden. Dabei gibt es Wettkämpfe, bei denen 100.000 Zuschauer anwesend sind, aber auch eine große Zahl an Wettkämp­fen, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Viele Wettkämpfe benö­tigen öffentliche Unterstützung, Sicherheits- und Ordnungskräfte, die Hilfe des Staates, andere Wettkämpfe finden hingegen auf höchst informelle Weise nach dem Prinzip der Selbstorganisation statt. Wettkämpfe werden auf der Grundlage kodifizierter Regeln organisiert, sie können aber auch nach dem Prinzip der informellen Regelvereinbarung erfolgen. Wettkämpfe werden mit vielen Kampfrichtern, Schiedsrichtern, Zeitnehmern, Gutachtern und Wer­tungsrichtern durchgeführt, die Akteure können aber auch ihre eigenen Schiedsrichter sein. Sie können ihr Spiel selbst regeln und der Wettkampf kann dennoch gelingen.

Die Frage nach der angemessenen Wettkampfkultur innerhalb einer Sportart ist heute nur noch mit großen Schwierigkeiten zu beantworten. Fast alle Sportarten befinden sich schon seit einiger Zeit unter enormem Modernisierungsdruck. Der Sport, der per definitionem moderner Sport war, weil er wie kein anderes kultu­relles Phänomen die Prinzipien der Moderne auf beispielhafte Weise symboli­sierte, scheint dabei in der Gefahr zu sein, unmodern zu werden. Sportarten werden nach den Merkmalen „in“ und „out“ taxiert und somit – wie für unsere Gesell­schaft im Allgemeinen – ist auch das System des Wettkampfsports einem ständigen Modernisierungsdruck unterworfen, wenn es überleben will. Die entscheidenden Triebfedern der Modernisierung sind dabei in den Pro­zessmerkmalen „Ökonomisierung“, „Verrechtlichung“, „Individualisierung“ und „Utilitarismus“ zu sehen. Sportarten, die diesen Merkmalen nicht entsprechen, befinden sich in der Gefahr, an den Rand gedrängt zu werden, verlorenzugehen oder von anderen Sportarten dominiert zu werden. Die Geschichte der Sportarten dokumentiert eindrucksvoll, was dabei möglich ist. Sportarten, die einstmals populär waren, gehen verloren und werden durch neue ersetzt. Das Barlaufen der 20er Jahre im vergangenen Jahrhundert, der Faustballsport, das Feldhandballspiel konnten einst bei großen Meisterschaften zehntausende von Zuschauern faszinieren. Heute sind diese Sportarten nur noch historisches Relikt. Steht heute eine Sportart unter Modernisierungsdruck – und das gilt für nahezu alle ehemals modernen, heute schon als traditionell zu bewertenden Sportarten – so bedeutet dies meist nicht weniger, als dass Regeln zu verändern sind. Ziel dieser Regelveränderungen ist die Dynamisierung der Sportart, die dann als gelungen zu bezeichnen ist, wenn die Sportart sich durch Telegenität auszeichnet. Telegen ist eine Sportart dann, wenn die Beziehung zwischen Wettbewerb und Assoziierung eine eigene Dramatik erzeugt, die sportlichen Leistungen der Athletinnen und Athleten visuell erfassbar sind, die Qualität der Leistung für den Zuschauer nachvollziehbar ist, schnelle Vergleiche zwischen den verschiedenen Leistungen der Athleten möglich sind und dabei auch indi­viduelle Leistungen herausgestellt werden können, so dass die Präsentation von sogenannten Stars innerhalb einer Sportart erfolgen kann. In vielen Sportfach­verbänden setzt man deshalb auf entsprechende Veränderungen, um diese Telegenität zu erreichen. Spielzeiten werden verkürzt, die Anzahl der Versuche innerhalb einzelner Wettkämpfe zurückgenommen, Bewertungssysteme vereinfacht, Sportgeräte verändert und Sportkleidung fernsehgerecht entworfen.

Neben diesem eher auf interne Veränderung ausgerichteten Weg wird in den Sportfachverbänden meist noch ein zweiter Weg beschritten. Die Sportereig­nisse im engeren Sinne werden in eine angebliche oder tatsächlich erforderli­che neue Erlebniswelt eingebunden. Sportwettkämpfe werden von einem nicht sportspezifischen Vor- und Nachprogramm umrahmt, wobei es hierbei durchaus möglich ist, dass das Vor- und Nachprogramm höhere Aufmerksamkeit hervorruft als der eigentliche sportliche Wettkampf. Teilweise wird der sportliche Wettkampf mit anderen Wettkämpfen gepaart, um auf diese Weise einen Aufmerk­samkeitstransfer zu erzeugen. Pausenwettkämpfe bei einem Fußballspiel oder Einlagewettbewerbe bei einem Leichtathletik-Meeting können beispielhaft zei­gen, wohin dabei der Weg führt.

Solche Versuche sind durchaus als Lösungsversuche zu interpretieren. Das Problem, das dabei gelöst werden soll, ist das der Zuschauerbindung. Angeb­lich oder tatsächlich haben viele Sportarten im Vergleich zu früheren Zeiten Zuschauer verloren. Dabei macht es jedoch Schwierigkeiten, die Frage nach dem Zuschauerschwund exakt zu beantworten. Angesichts der Zunahme von Freizeit in unserer Gesellschaft, der Vermehrung der Sportarten und der Stei­gerung der Anzahl der Wettkämpfe innerhalb der einzelnen Sportarten besteht durchaus die Möglichkeit, dass insgesamt mehr Menschen bei Sportereignissen zuschauen, ohne dass allerdings dabei für die einzelnen Veranstaltungen genü­gend Zuschauer zur Verfügung stehen. In gewisser Weise handelt es sich also bei dem Zuschauerproblem um ein Verteilungsproblem einer potentiell mögli­chen Anzahl von Zuschauern, die sich jedoch auf die noch immer wach­sende Zahl der Wettkämpfe nur einmal verteilen lässt. Allein dieser Sachverhalt macht deutlich, dass manche der nun als neue Problemlösung angebotenen Inhalte vermutlich kaum erfolgreich sein können.

Schließlich existieren auch Versuche der Neuinszenierung von Wettkämpfen, die jedoch meist auf alte Konzepte zurückgreifen. In der Leichtathletik kann beispielhaft die Diamond League erwähnt werden, die auf der Grundlage des bestehenden Grand-Prix-Systems entwickelt wurde, aber auch das Leichtath­letik-Spektakel zwischen Donovan Bailey und Michael Johnson nach den Olympischen Spielen von Atlanta, bei dem sich diese beiden Athleten auf der ungewöhnlichen Strecke von 150 Metern messen wollten, könnte hierzu als Beispiel dienen. Dass die als angeblich neu ausgewiesenen Programminhalte fast ausschließlich Kopien von Wettkampfmustern darstellen, wie sie in der Geschichte der Wettkämpfe schon immer anzutreffen waren, wird angesichts der aktuell üblichen historischen Vergesslichkeit meist nicht erkannt. Insbeson­dere in der englischen Wettkampfkultur, die entscheidend von der Wettfreude des Adels geprägt war, gab es viele ethisch fragwürdige Wettkampfformen zwi­schen Maschine und Mensch, zwischen Tier und Mensch und zwischen Men­schen, die heute von sogenannten Managern als ihre angeblich neuen Kreatio­nen wiederbelebt werden.

Am Beispiel der Leichtathletik lässt sich auch aufzeigen, wie problematisch sich Wettkampfkulturen entwickeln können und wie schwierig es ist, notwendige Veränderungen einzuleiten. Die Leichtathletik ist bei nahezu allen Wettkämpfen auf Rekorde ausgerichtet. Dies bewirkt, dass in Abhängigkeit zu dem jeweiligen Rekordsystem, das für eine Veranstaltung als Bezugssystem zu gelten hat, jede bei einer Leichtathletik-Veranstaltung erbrachte Leistung eines Athleten oder einer Athletin an den entsprechenden Rekorden gemessen wird. Bei Olympi­schen Spielen und Weltmeisterschaften ist das übliche Bezugssystem der Olympische bzw. der Weltrekord, bei Europameisterschaften der Europarekord, bei Deutschen Meisterschaften der Deutsche Rekord etc. Angesichts der Rekordflut im System des Sports, die diesen zwangsläufig auszeichnen muss, haben die Zuschauer ihr Interesse oft nur auf die bedeutsamsten Rekorde ausgerichtet. Eine Leichtathletik-Veranstaltung ist nur dann interessant, wenn Weltrekorde, Olympische Rekorde oder Europarekorde erreicht werden. Dieses Bezugssystem gilt auch für alle nachgeordneten Leichtathletik-Veranstaltungen. Ein Wettkampf ist dabei nicht aus sich selbst heraus spannend, wenn zwei Athleten in äußerst dramatischer Weise um den Sieg kämpfen, vielmehr wird die Spannung dem Zuschauer nur dann als Spannung vermittelt, wenn er den Wettkampf an diesem von außen an den Wettkampf herangetragenen absoluten Bezugssystem orientieren kann. Dies hat allerdings zur Folge, dass sich in vielen Disziplinen der Leichtathletik die Wettkämpfe nur noch durch Spannungslosigkeit auszeichnen können, da die Überbietung des Rekordes höchst unwahrscheinlich oder in weite Ferne gerückt ist. Desinteresse des Zuschauers ist die notwendige Konsequenz, die durch dieses überzogene Rekordsystem bedingt wird. Das Desinteresse wird dabei nicht durch die unzureichenden Leistungen der Athleten erzeugt, sondern vorrangig durch eine unangemessene visuelle Steuerung der Aufmerksamkeit der Zuschauer. Auf der Anzeigentafel werden die aktuellen Zeiten unter Bezugnahme auf die Weltrekordzeit ausgewiesen. Im Innenraum des Stadions werden die Weltre­korde ausgeflaggt und die Zuschauer können bei jedem Wurf bzw. jeder Lauf­leistung über eine vergleichende Bewertung das aktuelle Ereignis mit dem historischen Weltrekordereignis in Bezug bringen. Zuschauen wird auf diese Weise zur Frustration und die Konsequenz ist naheliegend: die Zuschauer blei­ben zukünftig solchen Ereignissen fern. Der Zuschauerschwund in der Leicht­athletik ist nicht zuletzt auf solche Sachverhalte zurückzuführen. Für die Qua­lität einer Wettkampfkultur scheint es somit bedeutsam zu sein, wie das Inter­esse des Zuschauers und dessen Aufmerksamkeit zugunsten der Wettkämpfe gesteuert und geführt wird. Der Idee des Duells im Wettkampf kann dabei eine zentrale Bedeutung zukommen. Der Begriff des Duells sollte dabei nicht im lateinischen Sinne verwendet werden. Es sollte vielmehr der Zweikampf zwi­schen zwei Parteien gemeint sein, wobei zwei Personen ebenso möglich sind wie zwei Gruppen verschiedener Nationen oder Staffeln. Der Zweikampf als verabredeter Kampf mit gleichen Waffen hat schon immer dem Zuschauer ermöglicht, sich mit den Kämpfenden zu identifizieren. Spannende Zweikämpfe sind ganz ohne Zweifel jenes Medium, das beim Zuschauer Aufmerksamkeit, Zuwendung und letztlich auch die gewünschte Unterhaltung bewirkt. Mit der Ausrichtung auf das Phänomen des Duells soll aber auch die Ausrichtung auf das Hier und Jetzt, auf das Agonale der sportlichen Handlung gestärkt werden. Im Hier und Jetzt soll dabei die Aufmerksamkeit der Betrachter liegen, nicht in einem Vergleich zwischen gestern und heute oder mit einem Ausblick auf mor­gen. Dabei ist jedoch wichtig, dass sich die Leistungen der Duelle, in denen die Konkurrenz bestritten wird, durch Qualität auszeichnen. Aus der Sicht des Zuschauers zählt dabei die Aktionsleistung des Athleten wie dessen Präsenta­tionsleistung gleichermaßen. Duelle müssen offen, ihr Ausgang muss ungewiss sein. Dem Zuschauer muss das Versprechen gegeben werden, dass die sich am Duell beteiligten Athleten bemühen, ihr Bestes zu geben. Sind solche Bedin­gungen gewährleistet, so kann ein Finale bei einer Juniorenmeisterschaft ebenso faszinierend sein wie bei Olympischen Spielen. Die gemessene Zeit, die erreichte Weite, die übersprungene Höhe sind dabei Evaluationsmerkmale für die Qualität des Duells. Das Duell misst sich jedoch nicht in erster Linie am Rekord. Wird im Duell ein Rekord erbracht, so ist dies eine willkommene Ergänzung, um die Leistung der Athleten mit einer noch höheren Wertschät­zung anzuerkennen.

Will man die Idee des Duells in einer Wettkampfkultur pflegen, so kommt der Kommunikation mit dem Zuschauer über Moderatoren und Stadionsprecher eine vermehrte Bedeutung zu. Moderatoren und Sprecher in den Stadien kön­nen Zuschauer führen, verführen, entführen. Sie können Zuschauer aber auch irreleiten. In fast allen Sportarten gibt es diesbezüglich erheblichen Nachhol­bedarf. Gerade die Qualität der Kommunikation im Stadion ist in vielerlei Hinsicht steigerungsbedürftig, sie bedarf einer eigenen Inszenierung und dabei vor allem einer eigenen Regie. Für eine gelungene Wettkampfkultur ist die Sportanlage selbst die wohl bedeutsamste Bedingung und so ist es nicht überraschend, dass die Geschichte der Sportstätten immer auch eine Geschichte der Wettkämpfe ist, die in diesen Sportstätten stattgefunden haben. Heute ist die Frage nach der Sportstätte der Zukunft von zentraler Bedeutung. Viele große Sportarenen des 20. Jahrhunderts müssen erneuert, umgebaut, abgerissen, neu gebaut werden. Die Frage nach der zukünftigen Sportarena stellt sich dabei nicht nur für den Fußball, sondern für nahezu alle Sportarten. Wie sieht die Basketball-Arena des 21. Jahrhunderts aus, was sind die Bedürfnisse von Leichtathletik-Zuschauern, welche multifunktionalen Sportstätten wird es in der weiteren Zukunft geben? So viel ist dabei heute schon zu erkennen: Der Zuschauer mit seinen Konsum- und Unterhaltungsbedürfnissen, mit seinem spezifischen Wunsch nach Komfort und Kommunikation wird zukünftig noch entschiedener Einfluss auf die Wettkampfkultur nehmen als dies bereits heute der Fall ist. Ein 100-m-Finale aus der Couch heraus mit einem Champagnerglas in der Hand beobachtend ist Teil einer anderen Wettkampfkultur als jenes Finale, bei dem der Zuschauer auf harten engen Plastiksesseln sitzt und froh ist, wenn er durch eine La-Ola zu der notwendigen und erwünschten körperlichen Entspannung findet. Die Inszenierung von interessanten Wett­kämpfen für Zuschauer jeden Alters, jeden Geschlechts und jeder Herkunft scheint in diesen Tagen die besondere Herausforderung zu sein. Das Stadion, die Sportarena, der Sky Dome oder der Olympiapark werden dabei zum Theater, die Athleten sind die Schauspieler auf der Bühne und die Wettkämpfe benötigen ihre eigene Dramaturgie, ihre Hinter- und Vorderbühne, ihre Bühnenarbeiter, Regisseure und Dramaturgen. Jene Verbände, die sich dieser Herausforderung bewusst sind, werden eher die Zuschauer an ihre Sportart binden können als solche, die davon ausgehen, dass jenes, was sich 100 Jahre bewährt hat, sich auch für ein weiteres Jahrhundert durchsetzen kann. Rezepte gibt es dabei nicht. Vielmehr besteht die große Gefahr, dass nachgeahmt wird, was sich längst überlebt hat, Kopiertes als Neues ausgegeben wird und der Zeitgeist kreative und wegweisende Erneuerungen verhindert.

Für die Weiterentwicklung der Wettkampfkulturen des Sports ist der aktuelle Zeitgeist in vieler Hinsicht eine Gefahr. In den von diesem Zeitgeist geprägten Debatten über die Entwicklung unserer Gesellschaft wird offen die elitäre Ausgrenzung erprobt, die sich auch im Sport widerspiegelt. Wichtige Leute (VIP) werden von sehr wichtigen Leuten (WIP) unterschieden. So wie es zu Beginn des Eisenbahnzeitalters Warteräume für die Adeligen, Warteräume für die Bürgerlichen und Warteräume für das Proletariat gegeben hat, so gibt es nun auch Warte- und Aufenthaltsräume in den Sportarenen. Dabei ist nicht mehr von Bourdieus „feinen Unterschieden“ zu sprechen, sondern von gravierenden Unterschieden, die in Bezug auf die Zuschauer angestrebt werden. Vor allem ist dabei zu beobachten, dass man über Eintrittspreise und Sonderetiketten die Frage steuert, wer als Zuschauer bei Sportwettkämpfen erwünscht ist. Die Sportarenen werden auf diese Weise zu dem, was die Oper im 19. Jahrhundert war. Sehen und gesehen werden ist ein wesentlicher Teil der durch den Zeitgeist geprägten Wettkampfkultur. Der Athlet bekommt hierbei eine nachgeordnete Bedeutung, der Wettkampf selbst wird oft nicht verstanden, weil Zuschauer an ihm teilnehmen, die weder regelkundig, noch wirklich am sportlichen Ereignis interessiert sind. Beste Plätze werden nicht besetzt, weil die Eintrittskarten an Sponsoren vergeben wurden, deren Kunden der Einladung jedoch nicht gefolgt sind. Eine Wettkampfkultur, die sich verstärkt durch solche Merkmale auszeichnet, tritt zunehmend in Widerspruch zu den klassischen Idealen des Sports, zu denen vor allem das Merkmal der sozialen Gleichheit zählte. Soziale Ungleichheiten, so wie sie vermehrt auch in unserer Gesellschaft anzutreffen ist, zeichnen sich einerseits durch einen ins Unermessliche wachsenden privaten Reichtum aus. Andererseits steht dem zunehmend ein immer größer werdender Teil der Gesellschaft gegenüber, der sich durch Armut, Ausgrenzung und öffentliche Diskriminierung kennzeichnen lässt. Wenn der Sport sich in seiner Wettkampfkultur vermehrt durch soziale Ungleichheit, soziale Segregation sowie demonstrative Distinktion auszeichnet, dann kann aus gutem Grund vermutet werden, dass er zunehmend seine gesellschaftspolitische Legitimation verliert, die im Wesentlichen in der Integrationsfunktion des Sports zu sehen war und gewiss auch in der weiteren Zukunft gesehen werden sollte. Wer die derzeitigen Wettkampfkulturen des Sports verantwortlich weiterentwickeln will, muss deshalb eine Antwort auf die Frage finden, wie der Sport über seine Wettkämpfe die Integrationsfunktion erhalten kann, die ihn in seiner Geschichte bis heute in zentralster Weise geprägt hat. Verstärkt der Sport mit seiner Wettkampfkultur in der Gesellschaft bestehende soziale Ungleichheit, so kann angenommen werden, dass er seine Legitimation verlieren wird. Anstelle von Integration bewirken sportliche Wett­kämpfe dann soziale Segregation.

letzte Überarbeitung: 12.04.2019