Skizzen zu einem neuen Leitbild des Olympischen Sports

Pierre de Coubertin, Begründer der modernen Olympischen Spiele, war davon überzeugt, dass das wichtigste Kennzeichen des Olympischen Geistes in Antike wie Moderne dessen „Religionscharakter“ sei. Der olympische Athlet „formt seinen Körper durch Leibesübungen, wie ein Bildhauer eine Statue in Stein meißelt. Der Athlet der Antike ehrte die Götter, der Athlet der Moderne verherrlicht sein Vaterland, seine Rasse, seine Flagge. Ich habe deshalb die Erneuerung des olympischen Geistes von Anfang an mit der Wiederbelebung dieses religiösen Gefühls verbunden, das in der Gegenwart durch den Internationalismus und die Demokratie erweitert und umgeformt wurde, und das dennoch jenes ist, das die jungen Hellenen, die den Triumph durch ihre Muskeln im Sinn hatten, vor die Altäre des Zeus führte“. Die von ihm für geeignet gehaltenen Leibesübungen fand er bei einer Reise nach England, wo er u.a. die Städte Rugby und Eaton besuchte und dort die Fecht – und Ruderclubs kennenlernte: „Ich entdeckte etwas Unerwartetes und Verborgenes, die Pädagogik durch den Sport, ein ganzes System geistiger und sozialer Bildung versteckt im Schulsport“. Diese Entdeckung wurde zur Grundlage seines Lebenswerks, das in der Forderung nach einem universellen Menschenrecht auf Sport seinen Höhepunkt erreichte: „Nichts ist erreicht, wenn es nur eine Minderheit erreicht. Das Vergnügen des Muskelspiels, das so viel Freude, Kraft, Ruhe und Reinheit spenden kann, muss in allen Erscheinungsformen, die es durch den Fortschritt der modernen Industrie erfahren hat, jetzt auch dem einfachsten Menschen offenstehen. Das ist der wahre, der demokratische Geist Olympias, dessen Grundstein wir heute legen“.
Die moderne Olympische Idee war für Coubertin ganz offensichtlich in erster Linie eine pädagogische Idee. Der moderne Olympismus muss seiner Meinung nach deshalb pädagogisch orientiert sein, weil ohne eine solche Orientierung auch die modernen Olympischen Spiele auf das Niveau der Gladiatorenwettkämpfe in den Zirkusarenen Roms zurückfallen würden.

Die wichtigsten erzieherischen Ziele Coubertins lassen sich über fünf Prinzipien kennzeichnen, die dieser in seinen Schriften herausgearbeitet hat, und die von Ommo Grupe in seinen olympischen Schriften mit Nachdruck immer wieder akzentuiert wurden:

Erstens das Prinzip einer harmonischen Ausbildung des Menschen: Sport treiben soll dem Ideal einer ganzheitlichen Erziehung folgen. „Muskeltraining“ allein reicht nicht zur Menschenbildung.

Zweitens das Ziel der Selbstvollendung und Selbstgestaltung: Sportliches Können ist als Ergebnis der „Arbeit“ an sich selbst anzusehen.

Drittens das Ideal der Amateurgesinnung: Dabei geht es zum einen um den Schutz des Sports insgesamt vor dem Geist der „Gewinnsucht“, und zum anderen geht es darum, den „Athleten von Olympia“ nicht in einen „Zirkusgladiator“ zu verwandeln.

Viertens die Bindung an sportliche Grundsätze: Das Gebot der Fairness und die Einhaltung sportlicher Regeln bedeuten zum einen, ein nach Regeln geordnetes Sporttreiben überhaupt zu ermöglichen, und zum anderen ungestüme Kräfte und Leidenschaften im Sport so zu kontrollieren, dass sie nicht in „Barbarei“ enden.

Fünftens die Friedensidee des Sports: Ein zentraler Leitgedanke Coubertins handelt von der Notwendigkeit des Friedens zwischen den Menschen und den Völkern. Dieser Friedensgedanke steht nicht im Gegensatz zum sportlichen Leistungs-und Wettkampfprinzip; dieses Leistungs-und Wettkampfprinzip steht vielmehr in seinem Dienst. Coubertin war dabei nicht weltfremd. Damit sich die Menschen achten können, müssen sie sich zuerst kennen lernen.

Seit den ersten modernen Olympischen Spielen in Athen im Jahr 1896 sind mittlerweile mehr als 125 Jahre vergangen und die Welt des Sports hat sich wie auch unsere Gesellschaft während dieser Zeit in vieler Hinsicht und in ganz entscheidender Weise verändert. Die Olympischen Grundsätze, wie sie Coubertin uns mit auf den Weg gegeben hat, sind nur noch bedingt tragfähig. Die Widersprüche zwischen den idealen Vorstellungen des Begründers der Spiele und der aktuellen Realität, wie sie jüngst bei den Spielen in Tokio und in Peking zu beobachten waren, sind mehr als offensichtlich. Oft dienen die Olympischen Grundsätze, wie sie in der olympischen Charta niedergelegt sind, lediglich der Bemäntelung von Fehlentwicklungen und immer häufiger auch der Durchsetzung wirtschaftlicher und medialer Interessen. Grupe wies zu Recht darauf hin, dass die dem Sport zugeschriebenen Werte immer häufiger angesichts seiner Wirklichkeit als Ausdruck einer verantwortungslosen Doppelmoral erscheinen.
Die Olympischen Spiele, die anfangs eher den Charakter von „Provinzsportfesten“ hatten, haben sich mittlerweile zu einem äußerst komplexen Großereignis verwandelt, das organisatorisch nahezu seine Grenzen erreicht hat. Die ökonomischen Herausforderungen dieser Spiele haben längst das „Amateurideal“ von Coubertin ad absurdum geführt. Die Herausforderungen der modernen Gesellschaften sind auch die Herausforderungen des modernen Olympismus: Kommerzialisierung, Individualisierung, Globalisierung, Politisierung, Mediatisierung oder auch Medikalisierung sind Prozessmerkmale eines noch immer andauernden ständigen Modernisierungsprozesses moderner Gesellschaften, wie sie auch im internationalen Hochleistungssport angetroffen werden können. Die eingangs erwähnten Olympischen Werte sind dabei meist nur noch selten oder gar nicht mehr zu erkennen.

Coubertins Olympische Werte können dadurch meines Erachtens jedoch nicht in ihrer Bedeutsamkeit auch für die aktuelle Situation der Olympischen Spiele und für deren weitere Entwicklung infrage gestellt werden. Sie bedürfen vielmehr einer modernen Interpretation. Es muss geprüft werden, ob sie dem Olympischen Sport noch eine ausreichende Legitimation geben, und wir müssen Antworten auf die Frage finden, wie sich der Olympische Sport in der weiteren Zukunft sichern lässt. Somit müssen wir auch fragen, ob im Olympischen Sport alles gemacht werden darf, was gemacht werden kann? Wollen wir weiterhin zuschauen, wie Athleten durch immer größere Trainingsumfänge-und Intensitäten zur Normerfüllung und durch die ständige Ausweitung des Wettkampfkalenders gezwungen sind, Regenerationszeiten zu missachten und damit ihren Körper zu schädigen? Wollen wir weiterhin zuschauen, wenn Athleten und Athletinnen in einigen Sportarten und Disziplinen glauben oder sich gezwungen fühlen, die Leistungsanforderungen zur Teilnahme an internationalen Wettkämpfen nur noch mithilfe von Medikamentenmissbrauch und Dopingmitteln zu erreichen? Wollen wir akzeptieren, dass der Kommerz auch weiterhin über die Moral und der Erfolg über das Gebot der Fairness gestellt wird, wie es in diesen Tagen viel zu oft der Fall ist?

Für die meisten Olympischen Athletinnen und Athleten sind die hier aufgezeigten Veränderungen mit immer höheren Leistungsanforderungen verbunden, die von Ihnen erheblich mehr an zeitlichem Aufwand sowie an körperlicher und psychischer Belastung verlangen als dies früher der Fall war. Kritiker weisen zu Recht darauf hin, dass je beherrschender das oft falsch verstandene Olympische Leitmotiv „schneller, höher, stärker“ wird, desto größer wird die Abhängigkeit von denen, die die Mittel bereitstellen, um dieses Leitmotiv zu verwirklichen. Nahezu zwangsläufig sind deshalb die Belastungen der Athletinnen und Athleten in den letzten Jahrzehnten gewachsen und damit sind sie auch immer häufiger in Versuchung geraten, sich Vorteile durch verbotene medikamentöse Mittel zu verschaffen und somit gegen die zentralen olympischen Werte zu verstoßen. Die Empfehlung von Philosoph und Olympiasieger Hans Lenk, das olympische Motto zu erweitern und dem „citius,altius,fortius“ noch ein „humanius“ hinzuzufügen, ist deshalb nach wie vor relevant. Die wichtige und bedeutsame Erweiterung des Mottos durch IOC – Präsident Bach aus Anlass der Olympischen Spiele in Tokyo 2020 mit dem Adverb „together- gemeinsam“ und dessen Solidaritätsappell wird sich hoffentlich als „wegweisend“ herausstellen. Angesichts der noch immer nicht bewältigten Corona-Pandemie und der Kriege und zahllosen politischen Konflikte auf dieser Welt erscheint dieser Appell aus der Sicht von heute bereits als alternativlos. Suchen wir ein tragfähiges Leitbild für die weitere Entwicklung der modernen Olympischen Spiele, so sollten darin mehrere kennzeichnende Merkmale enthalten sein.

Ich bin dabei überzeugt, dass dieses Leitbild nach wie vor auf einer tragfähigen Erziehungsidee aufgebaut sein muss und somit das erste wichtige Merkmal dieses Leitbildes im Erziehungsauftrag des Olympischen Sports zu suchen ist. Dessen Erziehungsidee hat, wie Grupe immer wieder betonte, „auf Athletik und Können in Verbindung mit Klarheit der Gedanken und Fairness im Handeln“ zu zielen. Die sportlich – olympische Höchstleistung ist ihre schönste Ausdrucksform. Olympisch ist dabei die „Idee der Leistung und des Könnens“. „Aber diese Idee sollte für mehr als nur für das Messbare und Bewertbare stehen, nämlich für die Idee der Selbstgestaltung, der Sport als „Medium“ der Selbsterprobung“.
Das Attribut „olympisch“ ist dabei vor allem der richtige Ausdruck für die Idee der Fairness. „Fairness ist das, was den Sport von bloßem Körpertraining und folgenlosem Zeitvertreib unterscheiden soll. Die Einhaltung sportlicher Regeln bedeutet, den Sport auf eine höhere Stufe zu stellen, und seine Zukunft hängt davon ab, ob er sich von dieser Idee leiten lässt“.

Nicht weniger bedeutsam ist das zweite Merkmal der Olympischen Idee. Es ist die Idee des Friedens, bei der sich die Olympischen Spiele als ein politisches Modell für den Umgang mit Konflikten erweisen können. Dieses Modell kann jedoch nur politisch bedeutsam sein, wenn sich die Olympischen Spiele selbst durch „politische Neutralität“ auszeichnen. Das Besondere Paradoxon muss dabei verstanden sein, dass es sich bei den Olympischen Spielen nur dann um ein hochpolitisches Phänomen handeln kann, wenn diese ihren „unpolitischen Charakter“ schützen und erhalten.
Die weiteren Merkmale dieses Modells liegen in der Akzeptanz des kulturellen Andersseins, in der Toleranz gegenüber weltanschaulichen und religiösen Unterschieden und das Handeln nach diesem Modell richtet sich gegen jede Diskriminierung von Rasse, Geschlecht und Weltanschauung. In diesem Sinne können Olympische Spiele ein Raum für Frieden, eine Welt des „Friedens auf Zeit“ und damit auch eine Idee für zukünftigen Frieden auf dieser Welt sein.

Ein drittes Merkmal, das bei der Ausarbeitung eines neuen Olympischen Leitbildes zu beachten ist, muss sich auf die Reichweite der Olympischen Grundsätze und der Olympischen Werte beziehen. Das große Ziel des sportlichen Trainierens ist wohl ab einem bestimmten Leistungsniveau die Teilnahme an Olympischen Spielen. Für die große Mehrheit aller leistungssportaktiven Menschen bleibt dies aber ein unerfüllbarer Traum. Der olympisch orientierte Sport zielt deshalb auf alle Leistungs- und Wettkampfsport treibenden Menschen. „Olympisch“ kann jedes ernsthafte nachhaltige Streben nach Verbesserung des eigenen Könnens genannt werden. Grupe weist zu Recht darauf hin, dass das „olympische Projekt“ weit über die Spiele hinaus reicht, und er meint, dass es eine Verkürzung olympischer Grundsätze bedeuten würde, wenn man ihren Geltungsanspruch auf den Hochleistungssport und die Olympischen Spiele beschränken würde. Coubertin war ausdrücklich der Meinung, dass der Sport nur dann, wenn er über den Hochleistungssport hinausgehe, einen Beitrag zur „Volkserziehung“ und „Volkskultur“ leisten könne. Die olympische Spitzenleistung hat somit also nur dann ihren besonderen Wert, wenn sie dieser Idee folgt. Das bedeutet allerdings auch, dass manches, was sich heute „olympisch“ nennt, diese Auszeichnung nicht mehr verdient.

Die „Tugend“ der Fairness ist das vierte Merkmal eines Leitbildes, die den regelgeleiteten Sport zu etwas besonderem und ihn von beliebigen sonstigen sportlichen Betätigungen unterscheidbar macht. In Grupes Worten heißt das: „Das Lernen der Einhaltung geschriebener und ungeschriebener sportlicher Regeln, der Verzicht auf unberechtigte Vorteile und auf Leistungsmanipulation auch dann, wenn es um viel Geld geht, bedeuten ja nicht nur den Leistungssport auf eine anspruchsvollere Stufe zu heben, sie begründen auch seine besonderen pädagogischen Möglichkeiten und seinen universellen kulturellen Sinn. Hohe sportliche Leistungen sind in besonderer Weise kulturstiftend. Sie sind Ausdruck der Erkundung der Dimension des Möglichen. Im Leistungssport geschieht dies ausdrücklich unter Beachtung festgelegter Regeln. In ihm ist nicht alles erlaubt, was möglich wäre.

Das fünfte Merkmal, das uns Coubertin für unsere Reformarbeit zu einem neuen Olympischen Leitbild mit auf dem Weg gibt, zielt auf die Internationalität und die Vielfalt des Olympischen Sports. Wenn Internationalität und Universalität wichtige Prinzipien der modernen Olympischen Spiele sind, dann muss die daraus resultierende Vielfalt vor dem Hintergrund einer Welt, die von vielen Kulturen geprägt ist, besonders gepflegt werden. Angesichts der Dominanz der abendländischen Kultur und angesichts einer kaum zu übersehenden „Amerikanisierung“ unserer Welt ist dies für die olympische Bewegung eine schwierige Herausforderung. Doch die weitere Entwicklung der Olympischen Spiele, insbesondere des olympischen Programms, setzt die Akzeptanz der Vielfalt und damit auch des Andersseins voraus. Dies gilt auch für die Frage an welchen Orten und in welchen Ländern in der weiteren Zukunft die Olympischen Spiele stattfinden sollen. Bei der Beantwortung dieser Frage wird der schon seit längerer Zeit zu beobachtende „Eurozentrismus“ wohl kaum einen verantwortungsvollen Weg in die Zukunft eröffnen

Betrachten wir die politischen Konflikte, die in diesen Tagen auf der ganzen Welt zu beobachten sind und oft barbarische Kriege zur Folge haben, so nahm Coubertin mit seinen Ideen ein zentrales Problem unserer heutigen Welt vorweg: Wie lassen sich die wichtigen gesellschaftlichen Werte der Fairness und des friedlichen Zusammenlebens im Erleben, Fühlen, Handeln und in den Erfahrungen der Menschen verankern und wenn möglich weltweit verbreiten. Der Olympische Sport scheint mir dabei nach wie vor ein hilfreiches und bedeutsames Medium zu sein. Die hier vorgelegte Skizze zu einem Olympischen Leitbild könnte es deshalb durchaus wert sein, dass man sie zu einem tragfähigen Leitbild des IOC und der Olympischen Spiele weiterentwickelt. Eine Selbstidealisierung sollte es dabei allerdings nicht geben. Viele Organisationen, Unternehmen, Universitäten, Verbände und Städte haben sich in jüngster Zeit Leitbilder gegeben, die sich nur ganz selten als wirkungsvoll erwiesen haben. Das Leitbild für die Olympischen Spiele benötigt ohne Zweifel eine normative Kraft, die keineswegs harmlos sein darf. Das IOC muss mit diesem Leitbild eine Selbstbindung eingehen und sich dann auch von einer aufmerksamen Öffentlichkeit daran messen lassen. Die Olympische Charta, das Grundgesetz des Olympischen Sports, kann für das erwünschte Leitbild eine hilfreiche Grundlage sein. Gleiches gilt für die Schlussdeklaration des Olympischen Kongresses zur Jahrhundertfeier des IOC in Paris. Bedeutende „Olympier“ wie Willi Daume, Hans Lenk und Ommo Grupe haben uns wichtige Überlegungen für die Formulierung eines neuen Leitbildes überlassen und die „Agenda 2020“ mit ihrer Fortschreibung bis zum Jahr 2025, wie sie IOC-Präsident Bach initiiert und umgesetzt hat, enthält Ideen und Aufträge, die dringend in dieses Leitbild zu übernehmen sind. Sein Solidaritätsappell und die Änderung des olympischen Mottos sind ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Die Reformarbeit hat somit bereits begonnen und sie wird die Entwicklung der Olympischen Spiele auch in den nächsten Jahrzehnten begleiten.

¹Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letzte Bearbeitung: 21.Mai 2022