Seit sechs Jahren ist die deutsche Sportlandschaft von einem „Virus“ betroffen, dem Wissenschaftler¹ und Sportpolitiker den Namen „POTAS“ gegeben haben. Wie mittlerweile immer mehr Leute wissen sind Viren der Ursprung des menschlichen Lebens und in unserem Körper sind auch heute noch viele Viren anzutreffen. Manche haben dabei durchaus positive Wirkungen, andere können äußerst bedrohlich, ja sogar lebensgefährlich sein. Genauso verhält es sich mit dem Virus POTAS in Bezug auf seine Auswirkungen auf die olympischen Sportarten, die von ihm betroffen sind. Für die einen ist das Virus in der weiteren Zukunft eine große Hilfe andere können dabei nahezu in ihrer Existenz gefährdet sein.
In diesen Tagen hat das POTAS-Virus große massenmediale Aufmerksamkeit erhalten. Der Begriff „POTAS“ ist die Abkürzung für eine so genannte Potenzialanalyse, die der Bundesminister des Innern in Auftrag gegeben hat, damit er die potentiellen Erfolgsmöglichkeiten Deutschlands bei zukünftigen Olympischen Spielen besser beurteilen kann. Eine derartige Potenzialanalyse kann durchaus im Interesse des Steuerzahlers sein, denn der stellt immerhin mehr als 300 Millionen € pro Jahr den Olympischen Fachverbänden für deren Vorbereitung auf Olympische Spiele zur Verfügung. Die Frage, warum welcher Verband, wieviel Euro, für welche Maßnahmen und für welches Personal aus dem Haushalt des in der Bundesregierung dafür zuständigen Ministers² zur Verfügung gestellt bekommt, ist durchaus relevant und für unseren demokratischen Rechtsstaat muss erwartet werden, dass diese Frage klar und transparent beantwortet wird. Die derzeit von den Autoren von POTAS angewendete Methode und das daraus resultierende System wird von Ihnen selbst als ein „lernendes System“ bezeichnet, das sich aufgrund neuer Einsichten und Erkenntnisse in einem ständigen Wandel befinden kann.
Am 20. September wurden nun in Berlin die Ergebnisse der Potenzialanalyse für die Jahre 2019 – 2021 der 26 Sommersportarten bekannt gegeben. Wie nicht anders zu erwarten, haben sich einige Olympische Fachverbände über die Ergebnisse gefreut, andere hingegen sind empört, da sie in der Rangliste der Verbände nur einen nachgeordneten Platz oder gar einen der letzten Plätze aufweisen und damit zukünftig weniger finanzielle Unterstützungsmittel vom Bundesminister des Innern erhalten werden.
Diese Reaktionen sind verständlich und sie würden bei jedem transparenten Analysesystem zu beobachten sein, das zur Bewertung zukünftiger Erfolgschancen deutscher Olympiamannschaften zum Einsatz kommt. Ebenso verständlich ist, dass Verbände, die von der aktuellen Analyse negativ betroffen sind, das ganze POTAS – Analysesystem mit seinen Strukturen und mit seinen Methoden infrage stellen, indem sie aus ihrer Sicht auf einige unklare, falsche, missverständliche oder auch unsinnige Einordnungen, Bewertungen und Gewichtungen hinweisen und dabei sich auch Ihre geäußerte Meinung durch den einen oder anderen so genannten sportwissenschaftlichen Experten absichern lassen. Dabei müsste allerdings beachtet werden, dass die sportwissenschaftliche Universitätslandschaft in Deutschland heute so gut wie keine ausreichende Grundlage mehr für eine umfassende wissenschaftliche Begleitung des deutschen Hochleistungssports bietet. Es gibt wohl sehr viele Institute für Sport Wissenschaft an den deutschen Universitäten. Doch die Professuren an diesen Instituten beschäftigen sich nur noch ganz selten mit Fragen und Problemen des Hochleistungssports und die wirklichen Kenner der komplexen Fragestellungen und Probleme der olympischen Sportarten sind nahezu an zwei Händen abzuzählen.
Seit Beginn der Arbeit der sog. „Potaskommission“ gab und gibt es durchaus berechtigte Kritik am Analysesystem und dessen Methoden. Auch der in diesen Tagen vorgestellte Bericht der Kommission bedarf meines Erachtens dringend einer fachlichen Kritik und die ersten kritischen öffentlichen Äußerungen, die gegenüber dem Bericht erhoben wurden, müssen dabei durchaus auch beachtet werden. Für mich nicht zu verstehen ist hingegen der Sachverhalt, dass mittlerweile sechs Jahre Kritik am Analysesystem von den verschiedensten Personen und Institutionen aus dem Sport geübt wird, ohne dass die Kritiker selbst in der Lage gewesen sind, an dessen Stelle ein besseres Analysesystem vorzuschlagen. Dazu wäre es notwendig, dass die Kritiker sich endlich selbst einmal hinsetzen würden und sich über bessere Strukturen verständigen, von denen sie glauben, dass damit eine bessere Potenzialeinschätzung möglich ist.
Wer glaubt, dass man zum alten Verteilungsmodus zurückgehen sollte, der hat die Zeichen der Zeit ganz gewiss nicht verstanden. Eine Verteilung der vom Steuerzahler bereitgestellten Haushaltsmittel nach Hofherrenart, bei dem Transparenz ein Fremdwort ist und wo der eine Verband nicht weiß warum der andere Verband für welche Maßnahmen und für welches Personal mehr oder weniger finanzielle Unterstützung erhält, hatte in unserer Demokratie noch nie eine Berechtigung. Dies gilt auch dann, wenn leider in früheren Zeiten Transparenz bei der Verteilung von Steuermitteln viel zu oft ein Fremdwort gewesen ist. Ein transparentes, plausibles und fachlich kompetentes Verteilungssystem muss deshalb dringend dem Bundesministerium des Innern an die Hand gegeben werden, dass dieser im demokratischen Interesse der Steuerzahler handeln kann.
Ist POTAS tatsächlich ein lernendes System, wie es der Bundesminister des Innern, der DOSB und die Potas – Kommission selbst bei der Darstellung der jüngsten Ergebnisse betont haben, so ist es wichtig, dass jeder Mangel des aktuellen Systems offengelegt wird und man bemüht ist, möglichst schnell diese Mängel zu beseitigen. Bei einem „lernenden System“ kann sich aber auch die Frage stellen, ob das System tatsächlich nur über die dringenden erforderlichen Lernprozesse weiter zu führen ist oder ob es möglicherweise durch ein neues System ersetzt werden muss. Dies wäre meines Erachtens dann der Fall, wenn die meisten Mängel struktureller Art sind und durch bloße Verbesserungen kaum zu beseitigen sind. Ob ein Systemwechsel notwendig ist, kann dabei vermutlich nicht von der Potas – Kommission selbst beurteilt und entschieden werden. Hierzu wäre vielmehr eine Expertengruppe von Nöten, wie ich sie u.a. in meinem Beitrag „Tokio 2020 – was ist zu tun?“³ bereits vorgeschlagen habe.
Betrachten wir einige Befunde der vorgelegten Potenzialanalyse 2019-2020, so scheint mir die Einrichtung einer derartigen Experteninstitution dringend geboten zu sein.
Eine Potenzialanalyse sollte sich meines Erachtens immer auch durch Plausibilität auszeichnen. Doch dies ist bei der vorgestellten Analyse nur teilweise der Fall. Hat man die jüngsten Ergebnisse von Tokio 2020 im Blick, so fragt man sich, wie es zu den Widersprüchen zwischen den dort präsentierten Leistungen und den in der Analyse diagnostizierten Potenziale kommen konnte. Man fragt sich auch, wie der eine oder andere Erfolg in Tokio zu Stande gekommen ist und welches die wirklichen Ursachen für das Scheitern bei anderen nicht erbrachten Leistungen gewesen sind.
Es muss auch gefragt werden, wie sich die internationale Wettbewerbssituation in den einzelnen olympischen Sportarten darstellt und wie sie sich auf die möglichen Chancen auswirht, einen Finalplatz unter den besten acht Nationen zu erreichen. Auch die Frage nach dem „Material“ (hierzu gehören u.a. auch Pferde) und dem Personal, die einem Verband zur Erreichung seiner olympischen Ziele zur Verfügung stehen, und welche Athleten und Athletinnen – aus welchem Grund auch immer – bei den jüngsten Olympischen Spielen, Weltmeisterschaften und Europameisterschaften nicht zur Verfügung gestanden sind, bedarf einer je spezifischen Einordnung durch Experten, die sich in der jeweiligen Sportart auch wirklich auskennen.
Ganz grundsätzlich muss gefragt werden, welche Validität, Objektivität und Reliabilität sozialwissenschaftliche Befragungen von Verbänden bei der finanziellen Relevanz von Potas haben können. Jeder Steuerzahler hat bei seiner jährlichen Steuererklärung gegenüber dem Finanzamt ein Interesse, dass er die an ihn gerichteten Fragen zu seinem eigenen finanziellen Vorteil beantworten kann. Gleiches gilt für alle Olympischen Verbände, wenn von ihren Antworten auf die an sie gerichteten Fragen deren zukünftige finanzielle Zukunft abhängt.
Wird beispielsweise ein olympischer Fachverband gefragt, ob er einen Anti-Dopingbeauftragten oder gar eine Antidopingkommission eingerichtet hat, so wird diese Frage vermutlich mit einem „Ja“ beantwortet, da ein „Nein“ finanzielle Nachteile mit sich bringen könnte. Ob der Dopingbeauftragte tatsächlich auch aktiv ist, ob die Anti-Dopingkommission in den vergangenen Jahren mehrfach getagt hat, ob Präventionskonzepte von dieser Kommission entwickelt wurden, ob die Aufklärungsarbeit gegenüber dem Dopingproblem in dem olympischen Verband verbessert wurde, wird mit der Antwort „Ja“ nicht einmal annähernd erfasst. Eine qualitative Überprüfung der Antworten scheint somit dringend erforderlich zu sein und es kann vermutet werden, dass sämtliche quantifizierten Befunde dringend einer qualitativen Erweiterung bedürfen.
Mit diesen Hinweisen kann auch auf ein zentrales Problem von Potas aufmerksam gemacht werden. Die Analyse basiert auf Antworten von hauptamtlichen Mitarbeitern und oder ehrenamtlichen Funktionären der Verbände. Deren Antworten können mehr oder weniger der Realität entsprechen. Ihr Wahrheitsgehalt wird von jenen, die die Fragen an die Verbände gerichtet haben, jedoch nicht überprüft. Es handelt sich also hier nicht um „reale Daten“, sondern um Aussagen von Repräsentanten der jeweiligen Verbände, die die Grundlage für Rechenoperationen bilden. Es liegt somit eine gewisse Realitätsferne vor, die auch mit noch so elaborierten Rechenmethoden nicht verhindert werden kann.
Eine weitere Frage, die an die Verfasser von Potas zu richten ist, bezieht sich auf das Zu-Stande-Kommen der Attribute⁴, der Kriterien, die für eine perspektivische Leistungserbringung in den jeweiligen Disziplinen der Sportverbände relevant sind.
Wie darf man sich den Entscheidungsweg über die Festlegung der Attribute vorstellen? Wer entscheidet über die Attribute und über deren Hierarchie und Gewichtung? Wie kommt es zu einer kollektiven Meinung der Kommission?
Die Frage nach der Gewichtung der Attribute führt zu einem weiteren grundsätzlichen Problem von Potas, das meines Erachtens von den Autoren im Sinne ihres angekündigten „lernenden Projekts“ dringend angegangen werden muss. Viele Attribute müssen notwendigerweise als beliebig erscheinen, wenn sie nicht aus einem theoretischen „Modell des Spitzensports“ abgeleitet wurden. Nur über ein solches Modell, das selbstverständlich kritisiert werden kann, können Attribute abgeleitet werden und in ihrer Bedeutung und Gewichtung nachvollzogen werden. Für die Entwicklung eines derartigen Modells benötigt die Kommission vermutlich ergänzende wissenschaftliche Expertisen.
In diesem Zusammenhang stellt sich deshalb auch die Frage, ob die Kommission richtig zusammengesetzt ist. Mir fällt es zumindest auf, dass Mitglieder der Kommission eine langjährige Bindung zu zwei olympischen Verbänden aufweisen, die teilweise bis heute noch andauert. Die Vermutung liegt dabei durchaus nahe, dass jenen olympischen Verbänden eine kompetente Hilfe zur Seite gestanden haben könnte, um bei der Befragung jene Antworten zu geben, mit denen bei der Verrechnung Bonuspunkte erzielt werden können. Dem Deutschen Basketball-Bund stand, so könnte zumindest vermutet werden, eine derartige Beratung nicht zu Verfügung.
Dass die Mannschaftssportarten, deren Basis in Deutschland professionelle Bundesligen mit professionellen Athletinnen und Athleten ist, meines Erachtens einer separaten Analyse bedürfen, ist mehr als offensichtlich. Sie können nicht mit dem gleichen Evaluationssystem beurteilt werden wie es für die Olympischen Einzelsportarten zur Anwendung kommt. Hierbei muss auch beachtet werden, inwiefern ein olympischer Verband einer Mannschaftssportart die Leistungsentwicklung in den professionellen Bundesligamannschaften beeinflussen kann, um damit den möglichen Erfolg bei zukünftigen Olympischen Spielen zu ermöglichen. Dabei muss auch beachtet werden, welche Rolle Spieler und Spielerinnen mit deutscher Nationalität in den jeweiligen Ligen spielen und welche Spielerinnen und Spieler aus den Ligen wann und wie lange für die jeweiligen Nationalmannschaften bereitgestellt werden. Eine besondere Einschätzung müssen dabei auch die deutschen Spielerinnen und Spieler erhalten, die in ausländischen Profiligen spielen.
Notwendig scheint mir auch zu sein, dass man die mittel-und langfristige Entwicklung der Mannschaften der einzelnen olympischen Verbände mit etwas genaueren Indikatoren betrachtet. So hat sich beispielsweise die internationale Wettbewerbssituation in den letzten zwölf Jahren bei den vergangenen drei Olympischen Spielen und bei den vergangenen Weltmeisterschaften teilweise erheblich verändert. In einigen olympischen Sportarten hat sich die Möglichkeit, eine bestimmte Anzahl an Nationenpunkten zu erreichen, erheblich verbessert, weil bei der Nationenpunktewertung neue Disziplinen hinzugekommen sind. Auch die Wettbewerbssituation hat sich in einigen olympischen Sportarten durch den Ausschluss russischer Athleten oder durch eine Reduktion der russischen Teilnehmer bei den Europameisterschaften, Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen erheblich verändert. Teilweise wirken sich diese Veränderungen positiv für die Chancen deutscher Teilnehmer bei Europa-und Weltmeisterschaften und bei Olympischen Spielen aus.
Die hier nur skizzenhaft angedeuteten problematischen Analyseaspekte, die noch mit vielen weiteren Beispielen fortzuführen wäre, sollen deutlich machen, dass für die Verantwortlichen von POTAS es dringend angebracht ist, ihre Analysesystem tatsächlich als ein lernendes zu betrachten und dabei ist auch notwendig, das gesamte System noch einmal auf den Prüfstand zu stellen. Für die negativ Betroffenen des derzeit zur Anwendung gebrachten Systems muss gesagt werden, dass bloßes Meckern nicht hilfreich ist. Wer ernsthafte Kritik in die weitere Entwicklung des Systems einbringen möchte, muss eingeladen sein, diese Kritik in einen transparenten Diskussionsprozess einbringen zu dürfen.
Dem DOSB und dem Bundesminister des Innern muss an dieser Stelle jedoch auch gesagt werden, dass die zukünftigen Erfolgschancen deutscher Olympiamannschaften nur zu einem kleinen Teil davon abhängig sein werden, wieviel Anteile die einzelnen Verbände vom finanziellen Kuchen abbekommen, den der Innenminister zur Verfügung stellt. Die Probleme, die im deutschen Hochleistungssport schon seit längerer Zeit zu beobachten sind, sind sehr viel komplexer und sehr viel schwieriger zu lösen als dies von vielen angenommen wird. Einige dieser Probleme habe ich bei meiner Kurzanalyse zu den „Olympischen Spiele Tokio 2020-was ist zu tun?“ in diesem Magazin vor wenigen Wochen aufzuzeigen versucht Dabei wurde meines Erachtens deutlich, wie komplex die Herausforderung für die weitere Entwicklung des deutschen Hochleistungssports in der näheren Zukunft sind und welch vielfältige Problemlösungen angestrebt werden müssen.
Hilfreich ist hierbei gewiss auch, dass man bereit ist, über den eigenen Tellerrand hinaus zu blicken und sich vertiefend mit den Strukturen und Vorbereitungsmethoden anderer erfolgreicher Sportnationen zu beschäftigen. Vor 20 Jahren war der damalige DSB und das Nationale Olympische Komitee für Deutschland nahezu mit denselben Problemstellungen konfrontiert wie dies für den aktuellen Hochleistungssport in Deutschland der Fall ist. Damals gab der Bundesminister des Innern deshalb eine Studie in Auftrag, die sich mit der „Organisation des Hochleistungssports – im internationalen Vergleich“ auseinandersetzen musste. Die acht erfolgreichsten Olympischen Nationen wurden dabei einer vergleichenden Betrachtung unterzogen und es wurden Vorschläge für die weitere Entwicklung des deutschen Hochleistungssports unterbreitet. Heute scheint mir eine derartige Studie ebenso dringend wie damals zu sein. Sollte sie in Auftrag gegeben werden so wäre allerdings zu wünschen, dass sie von den Verantwortlichen in den Olympischen Verbänden intensiver zur Kenntnis genommen wird als dies damals der Fall war.
Letzte Bearbeitung: 25.09.2021
¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.
² Derzeit: „Der Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat“
³ Siehe: https://sport-nachgedacht.de/essay/nach-tokio-2020-was-ist-zu-tun-ueberlegungen-zur-reform-des-olympischen-sports-in-deutschland/
⁴ Siehe auch: https://www.potas.de/startseite/potas/attributesystem_neu.html