Kultur des Wettbewerbs im Sport – Teil 2

6. Internationalisierung des sportlichen Wettbewerbs – Sport wird zum universellen Kulturmuster

Aus heutiger Sicht betrachtet, ist der moderne Sport zu einem universellen Kulturmuster geworden (vgl. Bausinger, 2006). Diese Annahme vertreten auch die Repräsentanten des Weltsports. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass die Merkmale einer kulturellen Relativität gerade auch im modernen Sport nur unzureichend beachtet werden. Auch wird übersehen, dass der moderne Sport keineswegs in gleicher Weise in den verschiedenen Gesellschaften dieser Welt Anerkennung finden konnte und er nach wie vor unter dem Aspekt der jeweiligen Sozialisationsbedingungen erhebliche Unterschiede aufweist.

Der Sport ist in seiner Entwicklung vorrangig ein bürgerliches, großstädtisches Phänomen. Dies lässt sich auch heute noch in Entwicklungs- und Schwellenländern beobachten. Sport wird vorrangig durch städtische Eliten getragen, meist sind sie Angehörige des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums, aber auch die Angestellten sind dabei zu beachten, die mittels des Sports am bürgerlichen Leben teilhaben. Die von Nielsen vorgelegten Befunde zur Entwicklung des Verhältnisses der Großstadt zum Sport zwischen 1870 bis 1930 gelten auch heute noch. Es ist vorrangig die Mittelschicht, die auf eine gesundheitsbewusste Lebensweise und auf die Geselligkeit im Verein ausgerichtet ist (vgl. Nielsen, 2002).

Will sich der moderne Sport durchsetzen, so müssen in den jeweiligen Gesellschaften ganz bestimmte Voraussetzungen anzutreffen sein. Dazu gehört unter anderem, dass akzeptiert wird, dass der menschliche Körper als manipulierbares Objekt betrachtet werden kann. Es muss in der Gesellschaft als legitim angesehen werden, dass Triebe und Affekte zu kontrollieren sind. Es muss ein Regelbewusstsein anzutreffen sein, d. h., es müssen gesellschaftlich anerkannte Formen sozialer Kontrolle existieren. Damit eng verbunden ist auch die Idee von Planung und Training in Bezug auf leistungsorientierte Handlungsmuster. Zum modernen Sport gehört auch die Idee des Überbietens, die sich ja aus einer vergleichenden kulturellen Perspektive keineswegs als universell erweist, wie dies vielfach aus europäischer Sicht fälschlicherweise angenommen wird. Auch das Phänomen der Zeit-Nutzenmaximierung, der Zeit-Minimierung und des ökonomischen Einsatzes von Zeit muss als grundlegend für den modernen Sport bezeichnet werden. Im modernen Sport geht es auch um die Möglichkeit des Bedürfnisaufschubs zu Gunsten einer zeitlich entfernten Zielerreichung. Sporttreibende Menschen müssen ihre Lebensführung optimieren, Lebensaskese und Gefühlsdisziplinführung müssen als sinnvoll erachtet werden. Rhythmisierter Tages- und Jahresablauf, die Gliederung in soziale Räume, eine Normierung und Spezifikation der Lebenswelten müssen akzeptiert sein. Besonders beachtlich ist dabei der gesellschaftliche Wunsch nach prinzipieller Chancengleichheit, die man im Sport zur Darstellung bringen möchte. Der moderne Sport ist dabei vor allem ein Ausdruck einer gesellschaftlichen Kultur, die sich dadurch auszeichnet, dass etwas prinzipiell Folgenloses von den Menschen mit Sinn verknüpft wird. Die Idee des „Überflüssigen“ und des „Spielerischen“ prägt den modernen Sport.

Wo immer Gesellschaften diese grundlegenden Merkmale aufzuweisen hatten und über einen Modernisierungsprozess an diese Merkmale herangeführt wurden, konnte man in der weiteren Entwicklung des Weltsports erkennen, dass die verschiedenen Sportarten sehr schnell ihre Anhängerschaft finden konnten. Sportarten wie Leichtathletik und Fußball sind mittlerweile weltweit verbreitet. Aber auch olympische Sportarten, die zunächst nur auf Europa beschränkt waren, konnten mittlerweile alle Kontinente der Welt erreichen. Dies gilt für den internationalen Radsportverband gleichermaßen wie für den internationalen Reitsportverband. Und betrachten wir das Internationale Olympische Komitee, so kann es im Jahr 2021 auf 206 nationale Olympische Komitees verweisen (vgl. Tab. 1).

Die Tendenz zur Universalität wird bei den Olympischen Spielen auch über die Vervielfältigung der Wettbewerbe deutlich. Vermehrt ist man auch bemüht, aus den einzelnen Kontinenten bedeutsame bewegungskulturelle Muster, wenn sie sich als Sportarten eignen, in das olympische Programm aufzunehmen. Die sportlichen Großereignisse, wie z. B. eine Fußballweltmeisterschaft, eine Leichtathletikweltmeisterschaft oder die Olympischen Spiele, sind auf diese Weise zu globalen Veranstaltungen geworden (vgl. Tab. 2).

Tab. 2: Die Entwicklung der Olympischen Sommerspiele

JahrVertretene NationenZahl der WettbewerbeZahl der Teilnehmer
18961343280
19041287681
1912281082.490
1924441403.070
1932371281.328
1948591514.064
1956671533.258
1964931675.081
19721222057.173
1980812045.217
19881592608.465
199617927110.320
200420230110.625
200820420411.126

Die Reichweite dieser internationalen Sportwettkämpfe betrifft nicht nur die Athletinnen und Athleten und die beteiligten Sportfunktionäre der jeweiligen Nationen, sie erfasst nahezu alle Bürgerinnen und Bürger dieser Welt. Besonders deutlich wird dies an der internationalen Bekanntheit der olympischen Ringe (vgl. Abb. 3).

Abb. 3: Internationale Bekanntheit der olympischen Ringe

1920 wurde zum ersten Mal das Logo der Olympischen Spiele auf einer Fahne bei den Olympischen Spielen in Antwerpen gezeigt. Die fünf Ringe, die die fünf Erdteile der Welt repräsentieren, sind heute das weltweit bekannteste Logo. Es wird allenfalls vom Logo der Firma Coca Cola übertroffen.

7. Steigerung, Vervielfältigung und funktionale Differenzierung des modernen Sports

Die olympische Überhöhung des modernen Sports durch Pierre de Coubertin hat ohne Zweifel den Siegeszug des modernen Sports bis hinein in das 21. Jahrhundert ganz wesentlich beeinflussen können. Die Olympischen Spiele sind heute das größte Sportereignis und dem Olympismus gelingt es bis heute, 28 Sommersportarten und 15 Wintersportarten trotz vieler Gegensätze und Widersprüche alle vier Jahre in Olympische Spiele einzubinden, die sich vor allem unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten als eine besondere Wachstumsbranche darstellen. Besonders eindrucksvoll kann dies über die Vermarktung der Fernsehrechte gezeigt werden (vgl. Abb. 4).

Abb. 4: Einnahmen aus Fernsehrechten der Olympischen Sommerspiele (in Mio. Euro)

In der Überhöhung der Spiele ist jedoch auch die eigentliche Gefahr zu sehen, die in der weiteren Entwicklung des modernen Sports genauer zu beobachten ist. Ursächlich wird diese Gefahr vor allem durch den Steigerungsimperativ „höher, schneller, weiter“ und durch den „Sieg-Niederlage-Code“ des modernen Sports ausgelöst. Der Steigerungsimperativ hat dabei in relativ kurzer Zeit zu außergewöhnlichen Leistungssteigerungen im olympischen Sport führen können. Lag der Weltrekord im Frauen-Hochsprung 1912 noch bei 1,44 m, so hält heute die Hochspringerin Kostadinowa den Weltrekord mit 2,09 m. Der Weitsprung der Männer lag 1896 bei 7,20 m und heute gilt die Marke von 8,95 m als Weltrekordweite. Der Weitsprung der Frauen hatte 1912 bei 4,65 m seine Weltrekordmarke, heute liegt der Weltrekord bei 7,52 m. (vgl. Tab. 3).

Tab. 3: Weltrekordentwicklung leichtathletischer Disziplinen bei Männern und Frauen

MännerFrauen
DisziplinWR 1912WR 2009DisziplinWR 1912WR 2009
100m10,69,58100m13,5010,49
200m21,4019,19200m30,321,34
400m47,8043,18400m67,147,60
10000m30:58,8026:17,5310000m38:06,4029:31,78
110mH15,0012,87100mH14,3012,21
3000m Hi,10:03,007:53,633000m Hi.9:55,288:58,81
4 x 100m42,3037,104 x 100m58,8041,37
Hochsprung2,002,45Hochsprung1,442,09
Stabhochsprung4,026,14Stabhochsprung1,725,06

Vergleichende Rekordentwicklungen finden sich auch in der Sportart Schwimmen wieder. Im Jahr 2009 kam es durch die Verwendung neuer Schwimmanzüge zu einer regelrechten Rekordflut (vgl. Tab. 4).

Tab. 4: Weltrekordentwicklung der Schwimmdisziplinen bei Männern und Frauen

MännerFrauen
DisziplinWR (Jahr)WR 2009DisziplinWR (Jahr)WR 2009
100m Freistil(1912)
01:01,6
00:46,91100m Freistil(1912)
01:20,6
00:52,07
800m Freistil(1924)
10:43,6
07:32,12800m Freistil(1919)
13:19,0
08:14,10
100m Rücken(1912)
01:15,6
00:51,94100m Rücken(1923)
01:36,7
00:58,12
200m Rücken(1912)
02:48,4
01:51,92200m Rücken(1922)
03:06,8
02:04,81
100m Brust(1912)
03:00,8
00:58,58100m Brust(1921)
01:37,6
01:04,45
200m Brust(1912)
03:00,8
02:07,31200m Brust(1921)
03:38,2
02:20,12
100m Schmetterling(1953)
01:04,3
00:49,82100m Schmetterling(1954)
01:16,6
00:56,06
200m Schmetterling(1954)
02:21,6
01:51,51200m Schmetterling(1956)
02:42,3
02:03,41
200m Lagen(1966)
02:12,4
01:54,10200m Lagen(1966)
02:27,8
02:06,15
400m Lagen(1953)
05:48,5
04:03,84400m Lagen(1953)
05:50,4
04:29,45
4x100m Freistil(1937)
04:10,2
03:08,244x100m Freistil(1912)
05:52,8
03:31,72
4x100m Lagen(1953)
04:39,2
03:27,284x100m Lagen(1953)
05:10,8
03:52,19

Betrachtet man dabei die Weltrekordentwicklung in den verschiedenen olympischen Sportarten etwas genauer, so muss man erkennen, dass in vielen CGS-Sportarten mittlerweile Leistungsgrenzen erreicht wurden, die nur noch selten überboten werden. Experten vertreten die Auffassung, dass viele Leistungen nur noch mit medikamentöser Manipulation gesteigert werden können. Die aufgedeckten Dopingfälle in Verbindung mit Weltrekordleistungen sprechen diesbezüglich eine relativ eindeutige Sprache. Der Steigerungsimperativ ist auf diese Weise für die Weiterentwicklung des modernen Hochleistungssports zur Falle geworden (vgl. Digel, 1996).

Die Erfolgsgeschichte des modernen Sports lässt sich auch über eine Vervielfältigung der Sportarten und über eine Steigerung der aktiv Sporttreibenden nachzeichnen. Gab es im Jahr 1950 24 Sportarten, die mit ihren Fachverbänden den Deutschen Sportbund gründeten, so sind heute in Deutschland 60 Sportfachverbände zu unterscheiden (vgl. Tab. 5). Darüber hinaus gibt es immer mehr regelgeleitete Sportaktivitäten, deren Zahl mittlerweile bei über 100 angelangt ist. In der Sportstättenplanung und beim -bau werden von Architekten heute bereits mehr als 200 Bewegungs- und Sportaktivitäten unterschieden. Diese Vervielfältigung lässt sich auch in den Mitgliedschaften der Vereine beobachten. 1950 gab es in Deutschland 19.874 Vereine, im Jahr 2008 kann eine Vervierfachung diagnostiziert werden, es wurde die Zahl von 90.775 Vereinen erreicht. Der in Sportvereinen organisierte Bevölkerungsanteil, der noch im Jahr 1950 bei 6,7 % lag, hat mittlerweile einen Wert von 33,4 % erreicht. In das System des Sports ist somit ein Drittel der Gesamtbevölkerung inkludiert. Betrachten wir in diesem Zusammenhang freiwillige Vereinigungen und Non-Governmental Organizations, so lässt sich für keinen anderen kulturellen Sektor ein vergleichbares Wachstum in den vergangenen 50 Jahren beobachten (vgl. Tab. 5).

195020012021
Sportvereine19.87487.71787.000
Mitgliedschaften3,2 Mio.26,8 Mio.27,0 Mio.
Bevölkerungsanteil6,7%32,7%32,5%
Sportfachverbände245566

Tab. 5: Sportentwicklung in Deutschland

Neben der Vermehrung der Sportarten kann eine intensive Beeinflussung der globalen Sportkultur durch die nordamerikanische Sportkultur beobachtet werden. Mountainbiking, Bodyshaping, Bungee-Jumping, Carving, Snakeboard, Robe-Skipping, Free-Climbimg, Go-Kart oder auch Inline-Skating sind Beispiele für Sportaktivitäten, die ursprünglich häufig in Subkulturen der USA ihren Ursprung hatten, heute jedoch nicht nur unter sprachlichen Gesichtspunkten globale Nachahmung erreichen.

Die Vervielfältigung der Sportaktivitäten ist in erster Linie auf die Kreativität jener zurückzuführen, die eine Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse über sportliche Aktivitäten suchen. Der Erfindung neuer Sportarten scheinen dabei keine Grenzen gesetzt zu sein. Aber auch einzelne Techniken können in überraschender Weise weiter entwickelt werden. So wurde zum Beispiel im Hochsprung der Schersprung durch den Rollsprung, später durch den Straddle und schließlich durch den Fosbury Flop abgelöst (vgl. Abb. 5).

Abb. 5: Die Entwicklung der Hochsprungtechniken

Die Vervielfältigung der Sportaktivitäten hängt aber auch mit neuen Technologien zusammen, die meist zu Gunsten des industriellen Sektors entwickelt wurden, jedoch sehr direkte und oft auch sehr überraschende Auswirkungen auf die Entwicklung des Hochleistungssports haben konnten. Dies sieht man vor allem über einen Vergleich der Sportgeräteentwicklung, wenn z. B. aus einem Holz- ein Bambusstock wird. Dieser wird von einem Stahlstab, einem Aluminiumstab und schließlich von einem Carbonfaserstab abgelöst. Auf ähnliche Weise entwickelten sich Hochräder zu Rennmaschinen, einfache Laufschuhe zu federleichten Spikes, Fußballstiefel zu WM-Modellen aus der Hightechmanufaktur und aus der Badehose wurden Schwimmanzüge, die angeblich Wunderleistungen bewirken (vgl. Abb. 6).

Abb. 6: Sportgeräteentwicklung aus historischer Perspektive

Aber auch die Sportstätten wurden Dank dieser Technologien optimiert. Das Startschäufelchen, das Jesse Owens noch 1936 bei seinem Olympiasieg benötigte, ist museal geworden. An dessen Stelle traten Startmaschinen. Elektronische Zeitmessung, Fotofinish und die neue Kunststoffbahn bewirken über entsprechende Innovationen nahezu jährlich eine erneute Beschleunigung (vgl. Abb. 7).

Abb. 7: Von der Startschaufel zur hochmodernen Starteranlage

Doch nicht nur die Sportanlagen und die Sportgeräte haben sich verändert. Verändert hat sich auch das Menschenbild des Athleten. Aus relativ normal gewachsenen schlanken Athleten sind teilweise athletische „Monster“ geworden und der Einfluss der Wissenschaft tut ein Übriges, um eine Weiterentwicklung des Menschenbilds im Hochleistungssport zu beeinflussen (vgl. Abb. 8).

Abb. 8: Sieger des 100m-Wettbewerbs 1896 und 2000

An deren Ende steht vermutlich der genmanipulierte Athlet. Medizin- und Trainingswissenschaft beeinflussen die Kraft- und Ausdauerentwicklung und steuern Koordination, Schnelligkeit und Beweglichkeit. Die Sportpsychologie ist auf die Optimierung der menschlichen Psyche ausgerichtet. Dank der pharmakologischen und biochemischen Erkenntnisse haben Athleten die Möglichkeit, ihre sportliche Leistung mittels Medikamenten zu steigern und dabei ihre Gegner zu betrügen. Bereits in den ersten Anfängen des modernen Olympismus ist diese Art von Manipulation vieler Athleten zur Alltagsroutine geworden. Heute hat das Dopingproblem ein Ausmaß angenommen, das in seinem weiteren Wachstum ganz offensichtlich nicht aufzuhalten ist. Die Anzahl der verbotenen Substanzen muss angesichts des wachsenden Missbrauchs ständig erhöht werden. Immer mehr Athleten sind heute in der Lage, eingebunden in kriminelle wissenschaftliche Beratungsnetzwerke, das bestehende Kontrollsystem zu unterlaufen. Auf diese Weise gelingt es diesen Athleten, ihre Gegner oft über viele Jahre hinweg zu betrügen und den Betrug zur Normalität werden zu lassen. Am Beispiel der Tour de France kann dabei gezeigt werden, dass der Betrug zur Normalität werden kann. Die Idee der Wettbewerbskultur, durch die sich der moderne Sport auszuzeichnen vorgibt, wird dabei in ihr Gegenteil verkehrt. Das Prinzip des Fair Play ist außer Kraft gesetzt (vgl. Digel, 1996).

Aus einer soziologischen Perspektive kann der Prozess, in dem sich in den vergangenen 100 Jahren der moderne Sport befunden hat, als ein Prozess funktionaler Ausdifferenzierung rekonstruiert werden. Strukturen mit relativ schwach ausgeprägter Differenzierung werden von komplexen Strukturen abgelöst, die sich durch fortgesetzte Differenzierung auszeichnen. Aus einem einfachen Angebot mit wenigen Sportarten wurden viele Spiele-Bewegungsmuster und viele Regelsportarten. War der Sport zunächst vorrangig eine Angelegenheit junger Männer und war er überwiegend ehrenamtlich organisiert, so sind heute nahezu alle Menschen in das System des Sports inkludiert und Hauptamtlichkeit gewinnt zunehmend an Bedeutung. War früher der Sport eine Angelegenheit, die sich vorrangig in urbanen Sportstätten abgespielt hat, so kann der Sport heute in allen ökologischen Varianten beobachtet werden. Er findet zu Land, zu Wasser, in der Luft statt und längst hat er ein eigenes Umweltproblem aufzuweisen (vgl. Digel, 1990, 73-96).

Die Angebote an Land umfassen Mountainbiketouren, Klettersteige, Hochseilgarten und Trekkingtouren. In der Luft sind Fallschirmspringen, Bungeesprünge, Paragliding und Ballonfahrten zu beobachten. Im Wasser reichen die Aktivitäten von Rafting, Wasserklettern, Canyoningtouren, Kajak, Kanu- und Wildwasserfahrten bis hin zum Rudern. Im Winter sind Schlittenhunderennen, Skisafaris, Schneeschuhtrekking, Iglubau und Langlaufen angesagt.

Auch unter dem Aspekt der zeitlichen Positionierung hat sich dabei Entscheidendes verändert. Noch vor 50 Jahren war der Sport ausschließlich eine Angelegenheit, die sich abends nach der getanen Arbeit und dabei nur bis zur Dämmerung ereignen konnte und sich auf das Wochenende beschränkte. Heute findet der Sport zu jeder Zeit statt. Der flexible Mensch sucht dabei flexible Zeiträume zur Befriedigung seiner ständig sich verändernden Bedürfnisse. Auch die Finanzierung des Sports hat sich dabei erheblich verändert. Eigenleistungen als Fundament der freiwilligen Vereinigung, d. h. der Mitgliedsbeitrag der Vereine, war zunächst das tragende Element. Diese Finanzierungsform wurde mittlerweile durch variable Finanzmittel ergänzt.

Besonders auffällig ist die Vervielfältigung der Motivstrukturen. Waren zunächst das Wetteifermotiv zentral und die Ausrichtung am Leistungsprinzip kennzeichnend für den jugendlich-orientierten Sport, so kann heute eine Vielfalt von Motiven unterschieden werden. Gleiches gilt für die Institutionen und Organisationen, die den Sport anbieten und bei denen Sport getrieben wird. Neben Verein und Schule sind längst zahlreiche private und staatliche Anbieter sowie viele weitere Organisationen getreten, die sich des Sports bedienen.

In ideologischen Reflexionen über den modernen Sport, insbesondere in politischen Reden, die der Legitimation der Sportpolitik dienen, wird noch immer sehr einstimmig ein Zusammenhang zwischen Spitzensport und Breitensport betont. Es wird dabei die Annahme vertreten, dass ein aktiv gelebter Breitensport die notwendige Basis für Erfolge im Spitzensport ist. Dieser Zusammenhang wurde spätestens durch die Erfolge der sozialistischen Sportsysteme widerlegt. Betrachtet man die Organisationsmuster, die dem modernen Hochleistungssport zu Grunde liegen, kann man erkennen, dass sich das System des Hochleistungssports längst als ein eigenständiges Subsystem des Gesamtsystems Sport darstellen lässt, das sich durch spezifische Merkmale auszeichnet. Deshalb ist es angebracht, den modernen Sport mit seinen verschiedenen Bereichen neu zu modellieren. Eine Unterscheidung in organisierter Wettkampfsport, Sport ohne organisierten Wettbewerb, instrumenteller Sport, Alternativsport und Berufssport könnte dabei ein geeignetes Angebot sein (vgl. Abb. 9).

Abb. 9: Säulenmodell der Erscheinungsweisen des Sports nach Digel – Folge funktionaler Ausdifferenzierung

8. Kommerzialisierung des modernen Sports

Die Erfolgsgeschichte des modernen Sports und die dabei zum Ausdruck kommenden Veränderungen der Wettbewerbskultur im modernen Sport können nicht nur positiv gedeutet werden. Der Steigerungsimperativ, die Einflüsse durch neue Technologien, die Beeinflussung der Sportentwicklung durch die Wissenschaft haben Gefahren sichtbar gemacht, deren Wahrnehmung, Behandlung und Abwehr immer größere Schwierigkeiten bereitet. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Entwicklung des modernen Sports aus einer System-Umwelt-Perspektive betrachtet und dabei die Wirkungen beobachtet, die die Interaktionen des Sports mit dem Wirtschaftssystem, mit dem System der Massenmedien und dem System der Politik zur Folge haben.

Besonders nachdrücklich wurde der Sport durch die Inanspruchnahme durch die Wirtschaft verändert. Für Deutschland kann dabei als entscheidender Ausgangspunkt das Jahr 1973 bezeichnet werden, als die Firma Jägermeister mit ihrem Besitzer Günther Mast, der gleichzeitig der Präsident der Braunschweiger Eintracht war, für 300.000 DM die Brust der Fußballspieler von Eintracht Braunschweig als Werbefläche einkaufte (vgl. Abb. 10).

Abb. 10: Beginn des Trikotsponsorings in der Fußballbundesliga 1973

Ab diesem Zeitpunkt war die Werbung am Mann nicht mehr aufzuhalten und hat mittlerweile ein Ausmaß erreicht, das selbst aus der Perspektive der Wirtschaft als kritisch bezeichnet wird. Doch nicht nur die Brust des Athleten wurde dabei zum Verkauf angeboten. Der Sport hat einen Weg bestritten, in dem alles, was sich als marktfähig erweisen könnte, zum Marktobjekt verändert wurde. Spieler wurden im Jahr 2009 zum Wert von 94 Millionen Euro transferiert, Preisgelder und Antrittsprämien in einer Größenordnung von 60.000 US $ bzw. 300.000 US $ für einen Olympiasieger des 100 m-Laufs sind üblich geworden.

Dieser neue Marktwert, den der Sport damit hat erreichen können, hängt vor allem mit seiner massenmedialen Präsenz zusammen. Dem Sport ist es gelungen, seine Übertragungszeiten im Fernsehen bis zur Unermesslichkeit zu steigern und die Berichterstattung über den Sport ist in einer Weise attraktiv, dass mittlerweile bei Fußballweltmeisterschaften 215 Territorien erreicht werden und mehr als 500 TV-Anstalten von diesem Wettkampf berichten. 26 Milliarden kumulierte Zuschauer betrachten vor ihren Bildschirmen die Fußballspiele einer Weltmeisterschaft (vgl. Tab. 6).

LandHöchste EinschaltquoteEinschaltquoten kumuliert
Brasilien60,5 Mio.1.140 Mio.
China71,5 Mio.1.820 Mio.
Deutschland29,7 Mio.658 Mio.
England18,8 Mio.362 Mio.
Frankreich22,2 Mio.388 Mio.
Indonesien23,5 Mio.589 Mio.
Italien23,9 Mio.278 Mio.
Japan42,3 Mio.289 Mio.
Russland12,9 Mio.369 Mio.
USA9,4 Mio.235 Mio.
Vietnam29,8 Mio.650 Mio.

Tab. 6: Einschaltquoten der Fußball-Weltmeisterschaft 2006

Vergleichbare Übertragungsdauern, Reichweiten und kumulierte Zuschauer erreichen die Olympischen Spiele (vgl. Tab. 7).

Nettoreichweiten der Olympischen Spiele 2008
Zuschauer in Mio.Marktanteil in %
Zuschauer gesamt48.0465,8
Westdeutschland39,7165,9
Ostdeutschland8,8665,3
Männer21,7068,4
Frauen23,0568,1
Meistgesehene Live-Übertragungen der Olympischen Spiele 2008
Zuschauer in Mio.Marktanteil in %
Eröffnungsfeier (ARD)7,7152,4
Schlussfeier (ZDF)4,6428,8
Rudern: Doppelvierer Damen und Herren (ZDF)4,3335,1
Turnen: Boden-Finale Männer (ARD)4,3336,6
Gewichtheben Frauen bis 53kg (ZDF)4,2234,7

Tab. 7: Nettoreichweiten ausgewählter Live-Übertragungen bei den Olympischen Spielen 2008 (Quelle: Media Perspektiven 10/2008)

Die FIFA und das IOC können über den Verkauf ihrer Fernsehrechte Milliardengewinne erzielen. Gleiches gilt für den Verkauf ihrer Sponsoren- und Lizenzrechte. Die größten Wirtschaftsunternehmen der Welt lassen sich in die Kooperation mit dem Sport einbinden und der Sport erweist sich dabei als eine Wachstumsbranche erster Ordnung. Die FIFA konnte beispielsweise ihre Marketingeinnahmen seit dem Jahr 1998 von 0,3 Milliarden auf 3,2 Milliarden Euro steigern (vgl. Abb. 11).

Abb. 11: Einnahmen der FIFA Weltmeisterschaften in Milliarden Euro (nach Weltmeisterschaftszyklen)

Sportarten werden auf diese Weise zu Marken, sie werden Produkte mit bestimmten Produkteigenschaften. Verkaufspsychologische Kernwerte werden unterschieden und die Emotionen werden benannt, die über ihre Präsentation auszulösen sind, um die entsprechenden Marketingerfolge zu erreichen. Immer mehr betritt dabei der Sport den öffentlichen Raum und benutzt diesen für Großauftritte. Werbung im XXL-Format, auf Autobahnen, in Flughäfen, in internationalen Bahnhöfen und an historischen Plätzen wird zur Normalität (vgl. Abb. 12).

Abb. 12: XXL-Werbung bei der Fußball-WM 2006 und der Euro 2008 in Zürich, München und Wien

Die neuen elektronischen Medien tun dabei ein Übriges. Der Sport entwickelt seine eigene E-community und wird dabei besonders attraktiv und anschlussfähig für die Werbewirtschaft. Die Zuschauer, die an der modernen Kultur des Wettbewerbs des Sports teilnehmen, haben dabei nicht selten den Charakter des modernen Globetrotters, wenngleich die Vermarktung der Zuschauer vor allem auf die Schaffung von Unterschieden ausgerichtet ist. Die eigens dafür geschaffene Konzeption des Hospitalitymarketings hat dabei eine vielfältige Hospitalitykultur hervor gebracht (vgl. Digel & Fahrner, 2008). Sie ist ausgerichtet auf die Bedürfnisse der Menschen, sich durch Konsum und Luxus von anderen zu unterscheiden. Die Idee der feinen Unterschiede wird dabei in besonderer Weise kultiviert (vgl. Tab. 8).

Red
carpet
Royal BritishMaleTicket centeredAdrena-lineWellbeingBusiness centered
Art der
Veranstaltung
öffentlich, elitärtraditionell, elitärmännerdominierendtraditionell, global nach Abenteuer suchendcaterings-fixiert unternehmensfixiert
Zugänglichkeitausgewählte High Societysehr begrenzt, privilegiertindirekt, begrenzt indirekt, begrenzt nur Ausgewähltehochnur Ausgewählte
Garderobe---festgeschrieben---------------
Anzahl an Gästenbegrenzt, privilegiertbegrenztgewöhnlichzahlreich, aber privilegiertminimalzahlreichbegrenzt, privilegiert
Preisnicht käuflich zu erwerbenhochgewöhnlichsehr hochnur schwer bezahlbarbezahlbarhoch
Exklusivitätallerhöchstehochgewöhnlichsehr hochallerhöchsteniedrighoch
Häufigkeit
einmaligjährlich, regelmäßigregelmäßigalle 4 Jahreeinmaligregelmäßigregelmäßig
Räumlichkeitexklusiver Bereichexklusiver Bereichexklusiver Bereichexklusiver Bereichdirekt am Geschehen/an die Veranstaltung angrenzendexklusiver Bereichexklusiver Bereich, spezielle räumliche Arrangements/Angebote für Unternehmen

Tab. 8: Die Typologie der Hospitality-Kulturen

9. Der Sport auf dem Weg der Selbstzerstörung

Die bisherigen Ausführungen waren darauf ausgerichtet, die Entwicklung des modernen Sports und seiner Kultur des Wettbewerbs ausgehend von England bis in die heutige Zeit nachzuzeichnen. Besonders beachtlich ist dabei der mittlerweile erreichte Stand der Universalität. Die Omnipräsenz des Sports ist eines seiner markantesten Merkmale und ist gleichzeitig eines der markantesten Phänomene der Moderne.

Interessant ist sicher auch die intensive Austauschbeziehung, die das moderne Sportsystem zu anderen gesellschaftlichen Systemen eingegangen ist. Die Beeinflussung durch Wissenschaft, Technologie, Wirtschaft und Massenmedien konnte vielfältige Dimensionen der Wettbewerbskultur des Sports offen legen. Bei der Darstellung der dimensionalen Vielfalt der Wettbewerbskultur des Sports wurde jedoch bereits auch mehrfach deutlich, dass der Prozess der Vervielfältigung, die funktionale Ausdifferenzierung des Sportsystems und nicht zuletzt dessen Kommerzialisierung auch Gefahren in sich bergen können, deren Bewältigung dem Sport zunehmend Schwierigkeiten bereitet.

Betrachtet man die jüngsten Entwicklungen des modernen Sports, so kann durchaus von der Gefahr gesprochen werden, dass sich der Sport auf dem Weg zur Selbstzerstörung befindet. Dies wird vor allem über den umfassenden Dopingbetrug sichtbar, dessen Beherrschung derzeit nicht zu erkennen ist. Weder gelingt es den Organisationen des Sports, den Betrug ausreichend zu erfassen noch kann von einer ausreichenden Sanktionierung des Betrugs gesprochen werden. Die mittlerweile angemahnte Hilfe zum Schutz des „Kulturgutes Sport“ durch den Staat ist nur in ersten Anfängen zu erkennen. Ihre Wirksamkeit ist umstritten und der Sport befindet sich dabei in der Gefahr, sich in eine vermehrte Abhängigkeit zum Politiksystem zu begeben, was einen Autonomieverlust zur Folge hätte. Völlig unzureichend sind die präventiven Maßnahmen. Erfolgreiche Präventionsbemühungen, die verhindern, dass Athleten in die Dopingfalle geraten, sind weltweit nicht zu erkennen. Einzelne nationale Bemühungen können wohl als redlich bezeichnet werden. Sie leben allerdings vorwiegend von einer pädagogischen Illusion, die angesichts des Dilemmas, in dem sich die Hochleistungssportler heute befinden, kaum als weiterführend bezeichnet werden kann (vgl. Digel, 2007, S. 12-13).

Mit der Kommerzialisierung hat nicht nur der Dopingbetrug ein flächendeckendes Ausmaß erreicht. Die Kommerzialisierung hat vielmehr auch Korruption und vielfältige Formen von Regelmanipulationen begünstigt. Ge- und verkaufte Spiele werden immer häufiger beklagt, bestochene Schieds- und Kampfrichter sind angesichts der Gewinne, die mit sportlichen Leistungen erzielt werden können, eine naheliegende Konsequenz. Angesichts einer umfassenden Ökonomisierung aller Lebenswelten ist auch der Sport kein Schonraum. Es geht auch in ihm vorrangig um Möglichkeiten der Bereicherung und um die Steigerung von Gewinnen. Dass dabei auch der Einsatz von Gewalt eine Rolle spielen kann, kann angesichts dieser Entwicklung nicht überraschen. Gezielt eingesetzte Foulhandlungen haben zugenommen, ja es ist sogar wieder möglich geworden, dass exzessive Gewalt zum zentralen Unterhaltungsinhalt wird, so bei der neu geschaffenen Sportart Ultimate Fighting. All diese neuen Varianten der sportbezogenen Unterhaltungsbranche zeichnen sich dadurch aus, dass diese Sportereignisse meist manipulierte Ereignisse sind und nicht selten auch die Sieger bestimmten Absprachen unterliegen.

Doch nicht nur die sportliche Leistung selbst und der Wettbewerb und damit die Kultur des Wettbewerbs werden manipuliert und unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten in Frage gestellt. Manipulation findet sich auch in den Organisationen des Sports selbst, wenn die Frage zu beantworten ist, wer in den Organisationen des Sports über Macht verfügt und welche Vorteile diese Macht den Beteiligten bringen wird. Angesichts der umfassenden Aufwertung des internationalen Wettkampfsports konnte und kann es nicht überraschen, dass vermehrt Repräsentanten außerhalb des Sports ihr Interesse für die Machtpositionen innerhalb des Systems des Sports artikulieren. Genau diese Art von Machtübernahme durch Externe ist schon seit längerer Zeit in immer mehr internationalen Sportverbänden zu beobachten. Ausgelöst wurde dieser Prozess durch machtbewusste europäische Sportführer, die im eigenen Interesse das angeblich demokratische Prinzip, „one vote-one country“ in die Wahlverfahren der internationalen Sportorganisationen eingeführt haben, um auf diese Weise die vielen jungen Nationen mit ihren Stimmen an sich zu binden (vgl. Digel, 2009, S. 12-14).

Dieser Prozess der Entdemokratisierung ist derzeit voll im Gange. Die Wettbewerbskultur des Sports wird dabei zukünftig von einem neuen Führungspersonal geprägt sein, das vermutlich unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten weit weniger zuverlässig sein wird, als dies bereits in der Vergangenheit zumindest in einigen Situationen der Fall war.

10. Ausblick

Sloterdijk, der noch in seinem Werk Sphären Coubertin und dem olympischen Sport ein „sozialdarwinistisches“ und „faschistisches“ Menschenbild unterstellte, hat in seinem neuesten Buch Du musst dein Leben ändern von dieser kaum gerechtfertigten These Abstand genommen. Vielmehr sieht er nun im Sport die erfolgreichste Anthropotechnik der Moderne. Der Sport ist für ihn eine moderne bzw. postmoderne Konkretion des Somatismus. Der Somatismus ist für ihn die einzige große Idee des 19. Jahrhunderts, die bis heute übrig und noch lebendig geblieben ist. Sloterdijks Buch ist ein Lob der Disziplin und Askese im Sport.

Für Sloterdijk kam es seit 1900 zu einem explodierenden Sportkult, der eine „überragende geistesgeschichtliche“ – besser ethik- und askesegeschichtliche – Bedeutung aufweist, weil sich im Sport ein epochaler Akzentwandel im Übungsverhalten manifestiert. Es kommt zu einer „Entspiritualisierung der Askesen“. Vergleicht er die großen Ideen des 19. Jahrhunderts, den Sozialismus und den Somatismus, so ist es nur der letztere, der sich seiner Meinung nach hat durchsetzen können und er geht davon aus, dass das 21. Jahrhundert von diesem Somatismus intensiver denn je geprägt sein wird.

Sloterdijk vertritt die Auffassung, dass Coubertin in Bezug auf seine religiöse Idee des Olympismus gescheitert sei (vgl. Sloterdijk, 2009, S. 133-151). Der Olympismus ist seiner Auffassung nach keine Religion, sondern die umfassendste Organisationsform für menschliches Anstrengungs- und Übungsverhalten. Für Sloterdijk wurde mit dem Olympismus ein moderner und äußerst erfolgreicher asketischer Kult gegründet (vgl. Sloterdijk, 2009, S. 49-51). Die Olympische Bewegung ist für ihn eine „Organisation zur Stimulierung, Lenkung, Betreuung und Bewirtschaftung primär stolz und ergeizhafter, an zweiter Stelle erotischer, gierhafter, libidinöser Energien“. Zu diesem Apparat gehören auch die Funktionäre. Sie sieht er als die unentbehrlichen Parasiten des Sports. Sie tragen mit dazu bei, dass ein „goldenes Zeitalter“ anbrechen konnte, weil die Olympische Bewegung das wichtigste aller Organisationsgeheimnisse beachtet: „So viele Funktionen und Ehrenämter schaffen wie möglich, um die thymotische Mobilisierung und pragmatische Bindung der Mitglieder an die erhabene Sache zu garantieren“. Für Sloterdijk ist die Moderne die Ära der Neureichen und Neuwichtigen und genau dies hat seiner Meinung nach Coubertin begriffen. Der Sport steht dabei im Mittelpunkt einer „Lebensübungslehre“. Dabei geht es ihm aus naheliegenden Gründen nicht nur um den Sport. Der Sport steht als modernes Symbol für eine Kultur des Übens, Trainierens, der Anstrengung und Leistung. Die damit verbundenen Werte möchte Sloterdijk neu legitimieren und rehabilitieren. Jene, die den Sport als Religion betrachten möchten, haben dabei mit seiner bissigen Kritik zu rechnen. Doch nicht nur jene Ideologen verstellen den Blick auf die von ihm geforderte Lebensübungslehre. Er sieht eine Barbarei der Popularkultur und meint dabei vor allem die Massenmedien mit ihrem „Messianismus der Unbildung“. Er zielt damit aber auch auf die Leistungskritik der sechziger und siebziger Jahre. Für Sloterdijk gehören Sport und Philosophie eng zusammen. Philosophen und Athleten sind „Freunde der Belastung“. Seine Apologetik zu Gunsten des Sports gipfelt in einem Entwurf einer neuen Universität, die sich in 13 Disziplinen zu gliedern hätte. Die beiden ersten und wichtigsten Disziplinen sind dabei die „Akrobatik und Ästhetik sowie die Athletik (allgemeine Sportartenkunde)“ (vgl. Sloterdijk 2009, S. 246-249). Aus der Sicht eines Sportwissenschaftlers kann man sich vielleicht darüber freuen; realistisch und angemessen scheint diese Prioritätensetzung jedoch nicht zu sein. Zu Gunsten von Sloterdijk sei jedoch erwähnt, dass er den Sport durchaus auch in seinem derzeit vorgezeichneten Weg der Selbstzerstörung erkennt. Das folgende Zitat bringt dies eindrucksvoll zum Ausdruck:

„Entweder fungiert der Sportler weiterhin als Zeuge für die menschliche Fähigkeit, an der Grenze zum Unmöglichen Schritte nach vorne zu tun – mit unabsehbaren Übertragungswirkungen auf alle, die sich auf das schöne Schauspiel einlassen – oder er geht den schon jetzt vorgezeichneten Weg der Selbstzerstörung weiter, auf dem debile Fans ko-debile Stars mit Anerkennung von ganz unten überschütten, die ersten betrunken, die zweiten gedopt“ (Sloterdijk, 2009, S. 660).

Immerhin ist damit Sloterdijks „Lob des Sports“ etwas provokanter als die literaturwissenschaftlichen Versuche von Hans-Ulrich Gumbrecht, dem es in seinen populistisch vorgetragenen Essays ausschließlich um dessen ideologische Erhöhung über den Sport gegangen ist.

Dem Sport ist es ohne Zweifel gelungen, ein bedeutsamer Inhalt unserer Alltagskultur zu sein. Dabei ist sein Bereich, den er in unserer Kultur für sich beanspruchen kann, zunehmend unübersehbar geworden. Hier zeigen sich Gemeinsamkeiten zur Kultur, Musik, Kunst und nicht zuletzt auch zur Wirtschaftskultur. Dennoch ist der Sport gerade unter kulturellen Gesichtspunkten etwas Besonderes. Das was er sein möchte, ist in expliziten Regeln festgelegt und für das was in der Kultur des Sports als unerlaubt gilt, gibt es über Regeln definierte Sanktionen. Die Kodifizierung und die Qualität der schriftlich niedergelegten Vereinbarung können deshalb gerade unter kulturellen Gesichtspunkten als das besondere Merkmal des Sports herausgestellt werden.

Literatur

  • H. Bausinger, Sportkultur, Tübingen 2006.
  • R. Bertsch, „Peter Bajus – der Schnellläufer“, Darmstadt o. D.
  • P. de Coubertin, L´éducation des adolescents au xxe siècle. III: Éducation morale. Le respect mutuel, Paris 1915.
  • H. Digel, „Über den Wandel der Werte in Gesellschaft, Freizeit und Sport“, in: Deutscher Sportbund (Hrsg.), Die Zukunft des Sports. Materialien zum Kongress „Menschen im Sport 2000“, Schorndorf 1986, S. 14-43.
  • H. Digel, „Die Versportlichung unserer Kultur und deren Folgen für den Sport – ein Beitrag zur Uneinheitlichkeit des Sports“, in H. Gabler & U. Göhner (Hrsg.), Für einen besseren Sport. Themen, Entwicklungen und Perspektiven aus Sport und Sportwissenschaf). Ommo Gruppe zum 60. Geburtstag, Schorndorf 1990, S. 73-96.
  • H. Digel, „Warum Doping niemals erlaubt sein darf“, Olympisches Feuer, 46 (1996) S. 28-31.
  • H. Digel, „Der Sport auf dem Weg zur Selbstzerstörung“, Olympisches Feuer, 57 (2007). S. 12-13.
  • H. Digel, & M. Fahrner, „Hospitality Marketing im Sport“, in G. Nufer & A. Bühler (Hrsg.), Management und Marketing im Sport. Betriebswirtschaftliche Grundlagen und Anwendungen der Sportökonomie, Berlin 2008, S. 443-465.
  • H. Digel, „Mit dem Ideal der Demokratie wird in den Weltsportorganisationen oft Schindluder betrieben“, Olympisches Feuer, 59 (2009), S. 12-14.
  • N. Elias, & E. Dunning, Sport im Zivilisationsprozess. Berlin u. a. 1982.
  • A. Fleig, Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports. Berlin, New York 2008.
  • H. Hamacher, Leichtathletik im 19. Jahrhundert. Geschichte und Statistik. Band II. o. O. 2007.
  • M. Krüger, Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports. Teil 3: Leibesübungen im 20. Jahrhundert. Sport für alle. Schorndorf 1993.
  • S. Nielsen, Sport und Großstadt 1870 und 1930: komparative Studien zur Entstehung bürgerlicher Freizeitkultur. Frankfurt/Main, Berlin, Bern u. a. 2002.
  • K. Planck, Fußlümmelei. Über Stauchballspiel und englische Krankheit. Berlin u. a. 1898.
  • P. Radford, The Celebrated Captain Barclay. Sport, Money and Fame in Regency Britain. London 2001.
  • P. Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern. Frankfurt 2009.

Letzte Bearbeitung: 4.11.2022