Kultur des Wettbewerbs im Sport – Teil 1

1. Zu den Anfängen des modernen Sports in England

Der moderne Sport hat seinen Ursprung in England. Viele Sportarten, die heute in der ganzen Welt verbreitet sind, entstanden in England in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Besonders hervorzuheben sind dabei Fußball, Pferderennen, Ringen, Boxen, Tennis, Rudern, Kricket und Leichtathletik. Auch den englischen Ausdruck Sport übernahmen viele Sprachen als passenden Begriff für diesen unverwechselbaren Zeitvertreib.

Die Ausbreitung des modernen Sports ist zunächst an das Verhalten der feinen Gesellschaft gebunden. Sie gab in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Begriff Sport in England seinen Inhalt. Auch in anderen Ländern wurde der Sport zunächst von den Oberschichten übernommen. Dies gilt für die aristokratische Oberschicht Frankreichs in besonderer Weise. Die volkstümlichen Arten der Körperkultur, wie z. B. der Fußball, entwickelten ihre Merkmale eines Sports erst später und wurden auch erst später als Sport anerkannt. Sehr schnell setzten sich die englischen Sportarten aber weltweit als Zeitvertreib der Mittel- und Unterschichten durch.

Die Umwandlung eines in zahlreichen lokalen Variationen überlieferten englischen Volksspiels zum Sportspiel Fußball mit einem einheitlichen und umfangreichen Regelwerk vollzog sich in einem Prozess über mehrere hundert Jahre. Einen gewissen Abschluss fand diese Entwicklung 1863, als zum ersten Mal für ganz England Regeln festgelegt wurden. Gleichzeitig kam es dabei zur reinlichen Scheidung zwischen dem Association Football und dem Rugby. Beide Sportarten haben sich bis heute als weltweit verbreitete Sportarten mit höchster Zuschauerresonanz bewährt. Mit der Festlegung der Regeln im Jahr 1863 konnte sich der englische Fußballsport sehr schnell verbreiten, 1878 wurde in Hannover der erste Fußballclub nach englischen Regeln gegründet. In den Niederlanden geschah dies ein Jahr später. In Italien fand die erste Gründung 1880 statt. 1892 fand das erste Fußballspiel zwischen einer französischen (Stade francais) und einer englischen (Rosaleen Parc) Mannschaft in Paris unter der Schirmherrschaft des englischen Botschafters Lord Dufferin statt. Die ersten nationalen Fußballverbände wurden 1889 in den Niederlanden und Dänemark,1895 in der Schweiz, 1898 in Italien, 1900 in Deutschland und 1901 in Ungarn gegründet.

Wie lässt sich die Tatsache erklären, dass eine in England entstandene Form des Zeitvertreibs zum Vorbild einer weltweiten Freizeitbewegung werden konnte? Offenbar entsprach der Sport den spezifischen Freizeitbedürfnissen, wie sie sich damals in vielen Ländern zeigten. Interessant ist auch die Frage, warum gerade in England Freizeitaktivitäten mit unverwechselbaren Merkmalen entstanden, die wir heute als Sport bezeichnen. Eine Antwort auf diese Fragen zu finden bereitet Schwierigkeiten, denn das, was den modernen englischen Sport auszeichnet, kann auf viele Wegbereiter in der Geschichte verweisen. Die Höflinge Ludwigs des XVI. hatten ihre Tennisplätze und erfreuten sich beim Jeu de Paume. In der Antike gab es schon leichtathletische Wettkämpfe. Auch andere Sportarten wurden damals bereits betrieben und nationale und zwischenstaatliche Vergleichswettkämpfe waren üblich. Zudem kann die Wiederbelebung der Olympischen Spiele in unserer Zeit als Beweis dienen, dass der Sport der Neuzeit nichts Neues ist.

Norbert Elias war es, der uns in Bezug auf diese Fragen eine hilfreiche begriffliche Unterscheidung an die Hand gegeben hat. Er meint, dass der Begriff „Sport“ sich ähnlich wie der Begriff „Industrie“ in einem engeren und in einem weiteren Sinne verwenden lässt. Im weiteren Sinne bezieht sich der Sportbegriff wie auch der Begriff „Industrie“ auf spezifische Figurationen in vorstaatlichen Stammesgesellschaften und vorindustriellen Staatsgesellschaften ebenso wie auf vergleichbare Erscheinungen in industrialisierten Nationalstaaten. Selbst wenn man den Begriff „Industrie“ so allgemein verwendet, ist man sich doch seiner Bedeutung im engeren Sinne bewusst. Man weiß, dass der Industrialisierungsprozess des 19. und 20. Jahrhunderts als etwas völlig Neues anzusehen ist, und dass die spezifischen Produktionsweisen und Arbeitsformen, die sich unter der Bezeichnung „Industrie“ entwickelten, bestimmte einzigartige Strukturen aufweisen, die sich soziologisch genau bestimmen und klar von anderen Produktionsformen unterscheiden lassen (vgl. Elias & Dunning, 1982, S. 13).

Ähnlich verhält es sich bei der Verwendung des Begriffs „Sport“. Man kann ihn in seiner weiten Form verwenden und bezieht sich dabei auf die Wettkampfspiele und körperlichen Ertüchtigungen aller Gesellschaften. Im engeren Sinne verwendet, verweist der Begriff auf eine besondere Art des Wettkampfs, die in England entstand und sich von dort aus verbreitete. Elias spricht in diesem Zusammenhang von der Versportung der Wettkämpfe in England. Die Industrialisierung ebenso wie die Entstehung des modernen Sports stellen dabei interdependente Teilentwicklungen einer umfassenden Veränderung der Staatsgesellschaften der Neuzeit dar.

Für Elias liegt der grundlegende Unterschied der antiken Wettkampfspiele im Vergleich zum modernen Sport des 19. und 20. Jahrhunderts in den Regeln, die die jeweiligen Aktivitäten leiteten. In der Antike ließen die traditionellen Regeln der athletischen Übungen ein weitaus höheres Maß an physischer Gewalt zu, als das die Regeln der vergleichbaren Sportarten im modernen Sport erlauben. Die Scham- und Peinlichkeitsschwellen der Menschen, die sich in einem Wettkampf gegenseitig zum Ergötzen der Zuschauer verwundeten oder gar umbrachten, lagen wesentlich niedriger als in der modernen Gesellschaft. Die Regeln des modernen Sports sind auch viel genauer. An die Stelle mündlich überlieferter sind schriftlich fixierte Regeln getreten, die eine Überprüfung und Veränderung leichter zugänglich machen.

Ein weiterer Unterschied zu den antiken Vorläufern ist im Prinzip der Fairness zu erkennen. Fairness kann man bei den griechischen Spielen vergeblich suchen. Das englische Fairness-Ethos beruht nicht auf kriegerischen Traditionen. Das Postulat der Fairness ist Teil einer Wandlung im Verhalten und Erleben der Menschen. Zum modernen Fairness-Prinzip gehört, dass die Erregung und das Vergnügen, das ein Wettkampf vermittelt, nicht nur auf den kurzen Augenblick der endgültigen Entscheidung ausgerichtet ist, sondern sich auf den gesamten Verlauf des Wettkampfs bezieht. Die Dauer des Wettkampfs vermittelt eine eigene Spannung und wird nicht nur als eine Art Vorspiel für den Endpunkt, den Sieg oder die Niederlage erlebt. Im modernen englischen Sport werden Wettkämpfe auf eine neue Art spannend (vgl. Elias & Dunning, 1982, S. 9-46).

Damit kommt ein weiterer Erklärungsaspekt in den Blick, der für die Verbreitung des englischen Sports ausgesprochen bedeutsam werden sollte. Die Entwicklung des modernen Sports steht in engem Zusammenhang mit einer aufkommenden Wettleidenschaft. Das Wetten spielt in England eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Veränderung roher Wettkampfarten in zivilisiertere Formen. Für englische Gentlemen war es eine besondere Qualität ihrer Freizeit, Geld auf eine Mannschaft, einen Läufer oder Boxer (Boxkämpfe dauerten dabei mehrere Stunden) zu setzen, um so die Spannung des Wettkampfs, der bereits in zivilisiertere Bahnen gelenkt war, zu erhöhen. Das Wetten konnte aber nur dann Spannung erzeugen, wenn die Gewinnchancen fair verteilt waren. Der Ausgang musste deshalb ungewiss bleiben. Hierzu war erforderlich, dass die Wettkämpfe sehr viel genauer reguliert werden mussten, als dies in den Stadtstaaten der griechischen Antike der Fall war. So waren in der griechischen Antike beispielsweise Gewichtsklassen für Ring- oder Faustkämpfer nicht üblich. Der antike Wettkampf war von der agonalen Kampfweise geprägt. Sieg oder Niederlage standen im Mittelpunkt und nicht der Verlauf des Wettkampfs. Es ging um Ausdauer, Muskelkraft und Geschicklichkeit. Ernsthafte Verletzungen der Augen, Ohren und des Schädels waren an der Tagesordnung. Es existieren Berichte von Boxern, in denen der Sieger, als der Gegner seine Deckung fallen ließ, diesem die Finger der gestreckten Hand unter den Rippenbogen stieß und mit seinen harten Nägeln die Bauchdecke öffnete, seine Eingeweide herausriss und ihn dabei tötete.

Die Studien von Norbert Elias zeigen uns auf eindrucksvolle Weise, dass man den modernen Sport nur dann angemessen erfassen kann, wenn man den Sport nicht unabhängig von anderen Bereichen der Gesellschaft betrachtet. Wie Arbeit, Industrie, Wissenschaft und eine Vielzahl anderer Bereiche, hat auch der Sport einen bestimmten Grad an Autonomie. In der Realität gibt es aber immer nur eine relative Autonomie, bezogen auf andere gesellschaftliche Bereiche. Will man die Beziehungen zwischen der Struktur und den sozialen Funktionen des Sports sowie den anderen Aspekten einer Gesellschaft ans Licht bringen, muss man den Sport in seiner prozessualen Entwicklung beobachten. Wer den Sport lediglich als ein Faktum behandelt, dessen Existenz nicht weiter erklärt zu werden braucht, kann seiner Qualität, die er mittlerweile erreicht hat, nicht gerecht werden.

Der englische Sport mit seiner Wertestruktur, seinem Prinzip des Fair Play, seinem Regelkonzept, seiner Organisationsstruktur und seiner kommerziellen Ausrichtung, die sich vor allem an der Idee des Wettens ausrichtet, ist mittlerweile zu einem globalen Kulturmuster geworden.

SpitzenverbandMitgliedsverbände
Gründungsjahr
Mitglieds-verbände
2009
IAAFInternational Association of Athletics Federations17 (1912)213
FIFAFédération Internationale de Football Association8 (1904)208
FINAFédération Internationale de Natation Amateur8 (1908)183
FEIFédération Équestre Internationale8 (1921)134
UCIUnion Cycliste Internationale5 (1900)170
IOCInternational Olympic Committee11 (1984)206

Der internationale Fußballverband kann ebenso wie der internationale Leichtathletikverband mehr als 200 Nationen bzw. territoriale Gebilde als seine Mitglieder ausweisen (vgl. Tab. 1). Sämtliche olympische Sportarten können mittlerweile den Nachweis erbringen, dass sie in allen Kontinenten betrieben werden. Der Wettbewerb des Sports ist deshalb im wahrsten Sinne des Wortes internationalisiert, und weltweit werden die Sportarten nach standardisierten Regeln betrieben, die von den internationalen Fachverbänden zu verantworten sind (vgl. Abb. 1). Sie haben dabei die volle Hoheit über das Regelwerk. Selbst der Schulsport der Bundesländer einer Bundesrepublik muss mit den Auswirkungen dieser hoheitlichen Macht leben. Dies zeigt sich vor allem bei der Verwendung von Sportgeräten und beim Bau von Sportanlagen. So zertifiziert beispielsweise der internationale Leichtathletikverband (IAAF) weltweit die Leichtathletikanlagen. Er legt fest, mit welchen Geräten geworfen oder gesprungen wird und welches Ausmaß die jeweiligen Anlagen für die einzelnen Disziplinen haben müssen. Technische Regeländerungen können dabei folgenreiche ökonomische Wirkungen haben. Sorgfältig muss dabei überwacht werden, welche technologischen Errungenschaften der Weiterentwicklung der Sportart nützlich sein können und welche eher als eine Gefahr zu deuten sind.

Abb. 1: Sport als globales Kulturgut

2. Wetten und Fair Play als konstitutive Grundlage des modernen Sports

Im Zusammenhang mit der Entwicklung des modernen Sports spricht man in England vom „Goldenen Zeitalter des Wettens“ (Radford, 2001, S. 16). Exemplarisch für die Wettkultur des Sports kann dabei Captain Barclay erwähnt werden. Peter Radford machte 2009 mit seinem Buch The Celebrated Captain Barclay: Sport, money and fame in regency Britain auf dessen außergewöhnliche Sporterfolge aufmerksam. Bereits im Jahr 1802, nachdem er sich systematisch auf das Langstreckengehen vorbereitet hatte, gelang es Barclay, 103 km in zehn Stunden zu gehen. 1805 legte er zwischen dem Frühstück und dem Abendessen 116 km zurück und 1806 konnte er 161 km auf schlechten Straßen in 19 Stunden absolvieren. 1807 benötigte er für 125 km in hügeligem Gelände 14 Stunden. Bei all diesen Läufen ging er Wetten ein und konnte sich dabei selbst als Profiathlet beweisen. Den Höhepunkt seiner Karriere bildete eine Wette im Jahr 1809. Im Zeitraum zwischen dem 1. Juni und 12. Juli lief er 1.000 Stunden und hatte dabei das Wettangebot gemacht, dass er pro Stunde eine Meile zurücklegen wird. Captain Barclay gewann diese Wette und er konnte ein Äquivalent von 320 Jahreseinkommen eines Durchschnittsbriten mit nach Hause nehmen. Die Adeligen, die dabei auf Sieg und Niederlage von Captain Barclay setzten, boten Wetteinsätze in einer Größenordnung von 100.000 Pfund. Das ganze Wettvolumen für diese Wette würde nach heutiger Währung 40 Millionen britische Pfund betragen. Auch der Prinz von Wales gehörte dabei zu jenen, die ihren Einsatz in diese Wette eingebracht hatten (vgl. Radford, 2001, S. 2-3).

Leichtathletische Laufhelden wie Barclay gab es auch in Deutschland. Hier ist z. B. ein Taglöhner namens Stolz aus Nauheim bei Groß-Gerau zu erwähnen. Als Läufer nannte er sich selbst Peter Bajus. Auch er machte durch außergewöhnliche Laufleistungen auf sich aufmerksam. So lief er unter anderem in fünf Stunden 45 Minuten von Kastel nach Frankfurt über eine Strecke von 80 km. Im Darmstädter Tagblatt vom 25. Januar 1824 konnte dabei folgender Bericht nachgelesen werden:

„Am 18. Januar erbot sich der Taglöhner Stolz aus Nauheim bei Groß-Gerau, auf Veranlassung einer Wette, zwischen mehreren hiesigen Bürgern in 5 Stunden aus einem Gasthause zu Kastel nach Frankfurt und zurück (16 Stunden) zu gehen oder zu laufen. Um ein Viertel nach 9 Uhr des Morgens begann der Schnellfüßler seinen Trab. Aus den von Herrn Depré, Zöllner am Bockenheimer Thor in Frankfurt, ausgestellten Scheine geht hervor, daß Stolz in 2 Std 15 Min nach Frankfurt gelaufen war, und wenn er erst kurz vor 3 Uhr in Kastel wieder in dem Gasthause anlangte, so waren wohl mehrere Zufälle daran schuld, als: ein bedeutender Aufenthalt in Frankfurt, schlechte, unvorteilhafte Bekleidung, so wie der Mangel an Vorsicht, sich ein wenig Brot in die Tasche zu stecken, wodurch er veranlaßt wurde, um sich welches zu kaufen, abermals 15 Min zu verwenden“.

In der gleichen Zeitung wird berichtet, dass Peter Bajus über 10.000 m Zeiten von 31 Minuten gelaufen ist (vgl. Bertsch, o. J., S. 8, 12).

Ein besonderer Ort für die neue sich herausbildende europäische Bewegungskultur war der Prater in Wien. 1766 ließ ihn Josef II. für die gesamte Bevölkerung öffnen, nachdem er zuvor lediglich kaiserliches Jagdrevier war. In einer Erklärung weist Josef II. ausdrücklich darauf hin, dass nunmehr „Ballenschlagen“, „Kegelscheiben“ und andere Unterhaltungen erlaubt seien (vgl. Fleig, 2008, S. 8). Der Prater wird danach sehr schnell zu einem Freiraum für Schaustellerei, Spiele und sportliche Wettkämpfe. Es wurde gekegelt und Federball gespielt. Es gab mechanische Schlittenfahrten, Glückshäfen, Wachsfigurenkabinette, Theaterbuden und viele andere Formen der Zerstreuung. Veranstaltungen mit explizit sportlichem Charakter kamen hinzu. 1851 wurde ein spezielles Gebäude für Ring- und Sportkämpfe erstellt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden bereits Wettläufe organisiert. Ab 1822 kam es beim traditionellen Maifest zum wichtigen „Wiener Wettlauf“. Zehn bis zwölf herrschaftliche Läufer mussten in ihrer prunkvollen Livree auf der Hauptallee bis zum Lusthaus um die Wette laufen, dort eine Trophäe entgegennehmen und dann umdrehen. Dabei wurden sie von Pferdewagen begleitet. Nicht selten brach ein Läufer vor Erschöpfung zusammen. Mit dem so genannten „Wiener Laufer“ war der erste professionelle Beruf im Sport entstanden. Zuvor war es die Aufgabe der „Wiener Laufer“ vor den Karossen der Herrschaften herzulaufen, um für ein zügiges Vorankommen zu sorgen. Im Dunkeln trugen sie Fackeln oder Windlichter. Gelegentlich hatten sie auch die Aufgabe, Botschaften zu überbringen. Die „Wiener Laufer“ bildeten eine eigene Zunft und verfolgten auch eine eigenständige Ausbildung. Mit den besseren Straßen- und Postverhältnissen wurde der Beruf jedoch sehr schnell in Frage gestellt. 1847 fand dann der letzte Lauf im Prater statt. Parallel zu diesen Berufsläufern kamen neue Schauläufe hinzu, bei denen Schnell- und Dauerläufer eine besondere Rolle spielten. Es gab dabei artistische und sportliche Merkmale bei deren Aufführungen. So traten z. B. einige Läufer als Stelzenläufer auf, andere liefen schon gemäß der Merkmale der modernen Leichtathletik. Zunehmend setzten sich Zeitmessung und genauer Leistungsvergleich durch. Der entstehende Wettkampfsport war dabei auch immer Zuschauersport. Er sollte die Unterhaltungsbedürfnisse der Massen befriedigen (vgl. Fleig, 2008, S. 8-15).

Die englischen, deutschen und österreichischen „Wettläufe“ können als Ausgangspunkte für den Siegeszug des modernen Sports bezeichnet werden. Für die Ausrichtung sportlicher Wettkämpfe war es dabei wichtig, dass das Fair Play Prinzip über verbindliche Vereinbarungen gesichert wird, um gerechte Wetten zu ermöglichen. In der weiteren Entwicklung der Wettkämpfe führte dies zur Kodifizierung der Regeln. Erste schriftlich niedergelegte Regeln lassen sich um das Jahr 1800 für mehrere Sportarten beobachten. Neben den Regeln kam es zu einer ganzen Reihe von weiteren institutionellen Absicherungen des Fair Play Prinzips.

Wichtig waren zunächst die so genannten „Timekeeper“, die die Zeiten bei den Läufen zu messen hatten. Dies war an die Entwicklung der Zeitmesstechnologien gebunden. Mit der Einführung der Stoppuhr konnte ein erster Höhepunkt der Zeitmessung erreicht werden.

In der Person des Handicapmasters kann eine weitere Institution gesehen werden, die in erster Linie auf die Garantie fairer Wetten ausgerichtet war. Handicaprennen waren in England und in den USA im 19. Jahrhundert sehr beliebt. Die teilnehmenden Athleten mussten dem Veranstalter ihre vier letzten Leistungen mit Ort und Datum übermitteln. Diese Daten wurden vom Handicapmaster überprüft. Er führte Buch über Athleten und Resultate. Die Aufgabe des Handicapmasters bestand darin, aus der Leistungsdifferenz der Aspiranten zum favorisierten Scratchman die zu teilenden Vorgaben zu errechnen. Drei Tage vor einem Wettkampf wurden die Namen der Begünstigten in der Presse veröffentlicht. Der schlechteste Teilnehmer war dabei der so genannte Limitman. In jedem Rennen gab es auf diese Weise Cracks und Crocks. Das Publikum war dabei vor allem an den Positionskämpfen und der Aufholjagd des Favoriten interessiert. Alle Handicaps waren so bemessen, dass theoretisch alle Konkurrenten auf gleicher Höhe im Ziel einlaufen konnten. Nachteilig bei dieser Regelung war, dass viele hervorragende Leistungen verloren gingen, da der Scratchman oftmals als dritter im Ziel einlief, dennoch aber eine Bestzeit gelaufen war. Doch zu diesem Zeitpunkt war es noch nicht üblich, die weiteren Zeiten nach dem Einlauf des Ersten zu messen.

Neben Entfernungsvorgaben gab es auch Zeithandicaps. Der schwächere Läufer wurde mit einem Zeitbonus früher losgelassen und der favorisierte Scratchman startete zuletzt. Es gab aber auch Rennen, bei denen alle gemeinsam starteten und nach dem Zieleinlauf wurde den einzelnen Läufern vorher zugestandene Zeitvergünstigungen von ihrer tatsächlich erzielten Zeit abgezogen (vgl. Hamacher, 2007, S. 43).

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die bei diesen Rennen angewandte Fehlstartregel. In England und in den USA wurde ein Konkurrent beim dritten Fehlstart ausgeschlossen. Beim ersten und zweiten Fehlstart verhängte man Penalties, die eine Zurücksetzung des Läufers hinter die Startlinie zur Folge hatten. Hierbei unterscheiden sich allerdings beide Länder. Bei Läufen bis 200 Yards musste man bei einem Fehlstart in England 1 Yard zurück, in den Vereinigten Staaten galt diese Regel bis 125 Yards, bei Strecken über 800 m musste man 5 Yard zurück, in den Vereinigten Staaten galt diese Regel erst ab einer Meile.

Für die Vergleichbarkeit der Wettkämpfe war von herausragender Bedeutung, dass man die Leistungen der Wettkämpfer möglichst genau messen konnte. Mit dieser Aufgabe war die Institution des Timekeepers betraut, der Timekeeper wurde in England deshalb sehr schnell zum Beruf. Mit der Erfindung der Stoppuhr durch Adolphe Nicole im Jahr 1862 war es möglich, die Laufzeiten sehr viel genauer zu messen. Eine Messung in Fünftelsekunden setzte sich zunächst durch und hatte bis zum Jahr 1930 Gültigkeit. 1970 wurde dann die elektronische Zeitmessung eingeführt. Die Zeitmessung wurde bereits in den Anfängen des modernen Sports sehr ernst genommen. Deswegen mussten alle Messsysteme Tauglichkeitszertifikate aufweisen, und es gab einen Observation Board, dem die Überwachung aller Zeitnahmeaktionen oblag (vgl. Hamacher 2007, S. 26-27).

Das wohl schwierigste Problem zur Gewährung fairer Ausgangsbedingungen bei Wettläufen war die Frage nach der geeigneten Wettkampfanlage. In England fanden die Läufe anfangs nur auf Landstraßen und Pferdegeläufen statt. Auch gesprungen wurde nur im freien Gelände. Erst im 18. Jahrhundert begann die Einrichtung so genannter temporary tracks. Ein geeignetes Terrain wurde dabei mit Fähnchen oder Kreidestrichen abgegrenzt. Am Ausgang wurden Zelte mit Sitzbänken und einfachen Waschschüsseln aufgestellt. Ein herausragender Ort für die englische Leichtathletik wurde das in Südengland gelegene Newmarket. Es wurde vor allem durch die von Captain Barclay an diesem Ort erreichten Leistungen über England hinaus berühmt. In Newmarket fanden 1664 bereits Laufwettbewerbe statt, und ab 1680 wird über herausragende Laufresultate berichtet. Nach 1750 breitete sich die Leichtathletikbewegung in England sehr schnell aus. In Schottland wurden dabei neben kurzen und langen Laufdistanzen vor allem auch Sprünge und Würfe angeboten. In London wird 1837 die erste Laufpiste erwähnt, angelegt auf dem „Lord Cricketground“. Das rechteckige Kricketfeld war dabei nicht nur in London der geeignete Ausgangspunkt für viele Leichtathletikanlagen. Die Piste verlief dabei in Rechteckform mit vier Geraden und vier Wendepunkten von jeweils 90 Grad. Auf einem Vorläufer der Londoner Bahn lief Captain Barclay 1805 in 56 Sekunden einen Rekord über 440 Yards. Vergleichbare Bahnen gab es in Eton, Exeter und Harrow. Die Schulen und Universitäten hatten dabei eine wegweisende Bedeutung. Eine wichtige Leichtathletikanlage war der „Fenner`s Cricket Ground“ der Cambridge University. Dort gab es eine Quadratbahn, bestehend aus vier Geraden. Die Schule von Rugby war z. B. der Ort, an dem die ersten schriftlichen Fußballregeln vereinbart wurden. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die bis dahin üblichen Graspisten durch einen Aschebelag ersetzt. Aschepisten galten als besonders schnell. Ein Problem in dieser Zeit war jedoch, dass die einzelnen Laufpisten unterschiedliche Längen und unterschiedliche Formen aufwiesen. Im Laufduell zwischen Oxford und Cambridge im „Greensclub“ im Jahr 1868 maß beispielsweise die Aschenbahnrunde eine Drittelmeile. Die fortschrittlichste Anlage gab es in West Brompton im Stadion „Stamford Bridge“. Dieses Stadion besaß eine 400 Yard lange Aschenbahn mit zwei 120 Yard langen Geraden, die durch zwei 100 Yard Kurven verbunden waren. Damit war in gewisser Weise der Weg zur 400 m Bahn vorgegeben so wie wir sie heute kennen. Aus Sicht der damaligen Leichtathletik war diese Bahn jedoch umstritten. Die Vorstellungen, was einen fairen Wettkampf auszuzeichnen hat, waren dabei sehr unterschiedlich. So wurden Kurvenbahnen als weniger fair erachtet im Vergleich zu den Rechteckbahnen. Monteque Shermann, der wichtigste Leichtathletiktheoretiker dieser Zeit, vertrat zum Beispiel in seinem Buch 1887 folgende Auffassung:

„Wir sind der festen Überzeugung, dass jede Laufbahn über ein Höchstmaß an Gerade und so wenig Kurve wie möglich verfügen sollte, oder mit anderen Worten, die Piste sollte viereckig mit abgerundeten Ecken sein und nicht oval mit zwei seitlichen Geraden…Lange Kurven sind äußerst unfair bei Handicaprennen und im Übrigen bei jedem Lauf in einem großen Feld, wenn ein Konkurrent beim Überholen eines anderen gezwungen ist von innen nach außen auszuscheren, um anschließend wieder nach innen zu kommen, um nicht um weiteren Boden zu verlieren. Außerdem zwingt das ständige Laufen in der Kurve unvermeidlich zu einem verkürzten Schritt, wobei mehr Boden verloren geht, als auf einer kurzen, wenn auch schärferen Kurve“ (zitiert nach Hamacher, 2007, S. 34).

Der Grund, warum sich am Ende die Kurvenbahn durchsetzen konnte, hängt deshalb vermutlich auch damit zusammen, dass die Leichtathleten ihre Bahnen mit den Radsportlern zu teilen hatten. Für Radsportler ist die ausladende Kurve weit günstiger, hingegen sind Pisten mit abrupten Abbiegungen wenig geeignet. So kamen wohl gegen den Willen der meisten Leichtathleten die Kurvenbahnen in die Leichtathletikarenen. Auch in den USA legte man die ersten Leichathletikanlagen um bestehende Sportspielfelder an. Bezugspunkt waren dabei vor allem das Baseballspiel und der Polosport. Auch in den USA gab es zunächst vier Geraden mit kurzen Kurven, erst später kam es zur Angleichung hin zum ovalen Leichathletikstadion. Mit dem Siegeszug des Fußballspiels und der Kodifizierung der Fußballregeln wurde die Kombination des Fußballfelds mit einer Leichtathletiklaufanlage zum standardisierten Modell einer modernen Sportarena. Diese Konzeption der Raumnutzung konnte über mehr als 100 Jahre erhalten werden. Mit dem Bau eines reinen Fußballstadions wurde diese Konzeption zunächst in England, mittlerweile auch in vielen anderen europäischen Ländern überwunden, so dass die Zukunft der Leichtathletikanlage heute als offen zu bezeichnen ist.

3. Zur Situation des Sports in England im 19. Jahrhundert

Die Hinweise auf die Wettkultur Englands und die damit einhergehenden Wettkämpfe und die mit diesen Wettkämpfen verbundene Motivstruktur des Wetteiferns, verweisen auf einen Paradigmenwechsel in der englischen Körperkultur. Aus Volksspielen wird moderner Sport, aus diffuser informeller Organisation werden spezifische formale Organisationen, die von der lokalen über die regionale, nationale bis zur internationalen Ebene reichen. Einfache unbeschriebene Gewohnheitsregeln, die über Traditionen legitimiert werden, werden zu formellen kodifizierten Regeln, die zunehmend durch rationale Prozesse einer Legitimation unterliegen. Es kommt zu präzisen Begrenzungen von Raum, Zeit und Teilnehmerzahl. Gleichheit wird zu einer besonderen Maxime. Der Einfluss natürlicher und sozialer Unterschiede auf die Spielmuster wird kontinuierlich verringert, informelle soziale Selbstkontrolle während des Spielvorgangs wird durch externe Kontrolle ersetzt. Schieds- und Kampfrichter werden durch eine zentrale Organisation eingesetzt und erhalten weitreichende Befugnisse. Der Grad sozial tolerierter, physischer Gewalt wird ganz wesentlich zurückgenommen, es kommt zur Kontrolle der Emotionalität. Zurückhaltung ist geboten. Die Partizipation am modernen Sport beruht auf individueller Entscheidung. Die ehemals dominante Gruppenidentität wird zurückgenommen, individuelle Identität und persönliche Leistungsfähigkeit erhalten hohe Bedeutung (vgl. Elias & Dunning, 1982, S. 110-111).

Für den Siegeszug des modernen Sports war dabei besonders bedeutsam, dass die englischen Public Schools sehr schnell die sportlichen Wettkämpfe als einen geeigneten Erziehungsinhalt in das Schulwesen integrieren konnten. Dies gilt vor allem für das Fußballspiel, das bereits im 19. Jahrhundert in das Curriculum der Public Schools aufgenommen wurde. Ihm folgten weitere Sportarten. Auf diese Weise wurde der moderne Sport im englischen Erziehungswesen verankert. Die Popularität des Sports führte in Verbindung mit dieser pädagogischen Grundlegung des Sports zur Gründung von Sportvereinen und -verbänden. Der Sport wurde zu einer gesamtgesellschaftlichen Angelegenheit. Sozialstrukturelle Unterschiede waren dabei jedoch evident. Der Fußballsport wurde zunehmend zum Sport der sozial unteren Schichten, Bourgeoisie und Adel spielten hingegen Tennis, Kricket, Polo, Golf und betrieben Pferdesport.

 4. Turnen als deutsche Alternative

In ganz anderer Weise verlief die Entwicklung in Deutschland. War zunächst noch eine pädagogische Reflexion über die Bedeutung von Wettspielen auf der Grundlage der pädagogischen Ideen von Rousseau an der Tagesordnung und konnte man noch in den so genannten Philanthropinen ein umfassendes Bewegungs-, Spiel-, Turn- und Gymnastikprogramm als wichtiges erzieherisches und vor allem auf Nützlichkeit ausgerichtetes Medium beobachten, wird in den Folgejahren auf Grundlage der Initiativen von Friedrich Ludwig Jahn mit dem Turnen eine Körperkultur gepflegt, in der Gesellschaftsübungen im Mittelpunkt stehen, die im Gegensatz zum englischen Sport auf die Gemeinschaftsleistung ausgerichtet waren. Im Deutschen Turnen ging es nicht um die Hervorhebung der Individualleistung. Auch das Prinzip der Überbietung spielte so gut wie keine Rolle. Die damit verbundene Wertestruktur war auch für das pädagogische Turnen prägend, so wie es sich seit dem Schulerlass von 1850 unter Anleitung von Adolf Spieß im öffentlichen Schulwesen entwickeln konnte. Eine kommerzielle Ausrichtung war bei dieser Art von Körperkultur noch nicht zu erkennen. Sie beruhte im Wesentlichen auf einer medizinischen und integrationspolitischen Legitimation. Das Prinzip des Fair Play, auch die Idee codifizierter Regeln und das dazugehörige organisatorische Konzept konnten im Deutschen Turnen nicht in gleicher Weise beobachtet werden, wie dies für den englischen Sport der Fall war, wenngleich die Gründung der Turngesellschaften und die Ausrichtung der deutschen Turnfeste den institutionalen Charakter des Turnens in dessen weiterer Entwicklung prägen sollte. Vergleicht man die konkurrierenden weltlichen Wertestrukturen des deutschen Turnens und des englischen Sports, so wird deutlich, dass ein kultureller Konflikt bei der Begegnung zwischen Turnen und Sport vorhersehbar war. Bemühungen, die sich gegen die Versportlichung der deutschen Gesellschaft gerichtet haben, waren zum Ende des 19. Jahrhunderts deshalb kaum noch überraschend, nachdem der englische Sport vermehrt das Interesse sowohl der höheren Schichten als auch der Jugend, zunächst in Norddeutschland, später in allen deutschen Städten, finden konnte.

Als ein ausdrucksvolles Dokument für jene Initiativen, die gegen den englischen Sport gerichtet waren, kann das Buch des Stuttgarter Studienprofessors Karl Planck bezeichnet werden. Mit dem Titel Fußlümmelei und dem Untertitel Über Stauchballspiel und englische Krankheit (vgl. Abb. 2), versucht er 1898 mit dieser Kampfschrift gegen den englischen Sport das angeblich so gefährliche Fußballspiel von seinen Schülern fern zu halten (vgl. Planck, 1898). Der weitere Siegeszug des englischen Sports und damit des modernen Sports war mit solchen Initiativen jedoch nicht aufzuhalten.

Abb. 2: Fußlümmelei – Über Stauchballspiel und englische Krankheit

 5. Kulturelle Überhöhung des Sports durch Coubertins Olympismus

Unter kulturellen Gesichtspunkten ist dem modernen Sport der Durchbruch vor allem durch die kulturelle Überhöhung des Sports durch die Einführung der Olympischen Spiele der Neuzeit gelungen. Coubertins Idee des Olympismus, seine Vorstellung einer Religio athletae, der mit den Olympischen Spielen verbundene Bildungsauftrag und die Verknüpfung des modernen Sports mit Kunst, Literatur, Architektur, Theater und Film wertete den modernen Sport zu einem Kulturmuster auf, das sich seiner massenhaften Anerkennung auch heute noch sicher sein kann. Dabei gäbe es die modernen Olympischen Spiele nicht, wenn es nicht zuvor 1.000 Jahre lang die griechischen Olympischen Spiele gegeben hätte. Es ist allerdings zu vermuten, dass der Weltsport sich auch ohne die Olympische Bewegung zu einer unverzichtbaren Sportkultur entwickelt hätte. Allerdings würde dem Weltsport ein entscheidender Referenzpunkt fehlen.

Coubertins Leistung ist vorrangig darin zu sehen, dass er die antiken Olympischen Spiele in eine neue Konzeption überführte. Das Medium Sport sollte dabei zentraler Inhalt zu Gunsten einer Reform des französischen Erziehungswesens sein. Im 19. Jahrhundert war eine Erneuerung der Olympischen Spiele vor allem auch deshalb möglich, weil in Europa eine umfassende Griechenverehrung zu beobachten war. Schiller, Hölderlin, Rousseau, Curtius und eine Reihe weiterer Philosophen, Schriftsteller und Intellektuelle haben mit ihren Ideen Coubertins Konzeption der modernen Olympischen Spiele vorbereitet und teilweise auch vorweggenommen.

Der im 19. Jahrhundert beginnende Siegeszug des modernen englischen Sports erreichte seinen ersten Höhepunkt mit der Wiederbegründung der modernen Olympischen Spiele im Jahr 1896. Coubertins Bemühungen waren dabei vorrangig auf die Lösung von Erziehungsproblemen ausgerichtet, wie er sie in der französischen Gesellschaft beobachten konnte. Seine pädagogischen Studien führten ihn dabei unter anderem auch nach England, wo er den modernen Sport im englischen Schulwesen beobachten konnte. Zuvor war es in Europa zu einer Wiederbelebung der Begeisterung für die Antike gekommen, was gleichzeitig auch zu verschiedenen Versuchen führte, die Olympischen Spiele in Griechenland oder aber auch an anderen Orten in Europa durchzuführen. Die Ausgrabungen der antiken Stätten taten ein Übriges, um in Frankreich, aber auch in Deutschland und in den übrigen europäischen Staaten eine Aufwertung des Hellenismus zu bewirken (vgl. Krüger, 1993, S. 60-67).

In diesem ideellen Umfeld entwickelte Coubertin seine Leitgedanken zu einem modernen Olympismus. Im Mittelpunkt sollte dabei der Athlet stehen. Der faire Wettkampf des Athleten, der seine Leistung um seiner Selbstwillen erbringt, sollte dabei eine religiöse Erhöhung erhalten („religio athletae“). Im Wettkampf sollten Adel und Auslese durch körperliche Überlegenheit hergestellt werden. Der Wettkampf selbst sollte dem Gebot des Friedens folgen und die sportlichen Wettkämpfe sollten in ein Kulturereignis eingebunden sein, das sich durch eine eigene Ästhetik und Schönheit auszuzeichnen hat. Für Coubertin war es deshalb wünschenswert, dass neben dem sportlichen Wettkampf auch Wettbewerbe um den besten Literaten, Künstler, Musiker und Wissenschaftler stattzufinden haben. Das Ideal des Wettbewerbs hat sich dabei durch die gegenseitige Achtung der Wettkämpfer auszuzeichnen. Zu achten sind die Überzeugungen und Lebensbedingungen des anderen. Besonders zu beachten sind die Regeln, aber auch die Persönlichkeit des Gegners und alle Beteiligten haben sich ihrem Gewissen zu verpflichten (vgl. Coubertin, 1915). Für Coubertin war es dabei folgerichtig, diese Idee des modernen Olympismus mit einem Symbolismus anzureichern, durch den die eigentliche Erhöhung bei den Spielen selbst zum Ausdruck gebracht werden soll. Hierzu gehören der olympische Eid, die olympische Fackel, später die olympische Hymne und ab 1936 der olympische Fackellauf. Hierzu gehören auch die olympischen Ringe und eine nach festen Regeln abzuhaltende Eröffnungs- und Schlussfeier. Dem modernen Olympismus gelang es dabei, die Literaten und Künstler der Welt ebenso wie die herausragenden Musiker, Filmregisseure und Architekten an sich zu binden. Bis zu den Olympischen Spielen 1948 fanden Kunstwettbewerbe in der Baukunst, in der Literatur, in der Musik, in der Malerei und in der Bildhauerei statt. Bei den olympischen Kunstwettbewerben 1936 wurden noch Medaillen für städtebauliche und architektonische Entwürfe, für Gemälde, Zeichnungen, Aquarelle, Gebrauchsgrafik, Rundplastik, Reliefplastik, lyrische Werke, epische Werke, Solo- und Chorgesang und Erstbesteigungen (z. B. Eigernordwand) vergeben. Als ein Höhepunkt in dieser Entwicklung können die Olympischen Spiele von 1972 in München gelten, wo es Dank des damaligen NOK-Präsidenten Willi Daume gelang, herausragende Designer, Architekten und Städteplaner, aber auch Schriftsteller und Musiker an das Münchner Projekt zu binden. Der Münchner Olympiapark gilt unter diesem Gesichtspunkt bis heute als eine künstlerische Besonderheit, wie sie zuvor im Olympismus noch nicht anzutreffen war.

Literatur

  • H. Bausinger, Sportkultur, Tübingen 2006.
  • R. Bertsch, „Peter Bajus – der Schnellläufer“, Darmstadt o. D.
  • P. de Coubertin, L´éducation des adolescents au xxe siècle. III: Éducation morale. Le respect mutuel, Paris 1915.
  • H. Digel, „Über den Wandel der Werte in Gesellschaft, Freizeit und Sport“, in: Deutscher Sportbund (Hrsg.), Die Zukunft des Sports. Materialien zum Kongress „Menschen im Sport 2000“, Schorndorf 1986, S. 14-43.
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Letzte Bearbeitung: 4.11.2022