Sport und Frieden

Karl-Friedrich Wessel

Wenn zu einer Sternfahrt bzw. zu einem Sternlauf für den Frieden aufgerufen wird, wenn sich dieser Aufruf an Sportorganisationen und die Kirchen wendet, gemeinsam für den Frieden aktiv zu werden – nicht nur hinsichtlich des Krieges zwischen Russland und der Ukraine –, dann ist es erforderlich, sich zu beteiligen, wenn der Lauf auch in etwas anderer Form – mit dem Stift übers Papier – stattfindet.

Den Sport in den Mittelpunkt zu stellen, macht viel Sinn und fordert die Sportler und die Sportwissenschaftler in besonderer Weise heraus. Sport ist nun einmal öffentlichkeitswirksam wie kaum ein anderes gesellschaftliches System. Entsprechend groß ist auch die Verantwortlichkeit für jedermann, der zu diesem System gehört.

Der Sport, damit meine ich das ganze stark verzweigte System, lebt vom Frieden, es ist vom Krieg in besonderer Weise bedroht. Das bedeutet sehr viel, denn der Sport ist für die Existenz der Gesellschaft, für die Entwicklung aller Individuen in ihrer gesamten Ontogenese, von der Konzeption bis zum Tode, existentiell wichtig.

Der Sport ist ein menschliches Grundbedürfnis – wenn es auch nicht alle verspüren – er ist eine anthropologische Notwendigkeit. Gerade in Zeiten der zunehmenden Bewegungslosigkeit vieler Individuen erhält er die zum Leben notwendige Qualität. Zwar kann der Mensch sportfrei leben und den Sportlern nur zuschauen als körperlich und mental Unbeteiligter, aber dann ist der Begriff des Sports ja auch schon längst seinem Wesen entfremdet. Er findet dann vielfach nur statt vor dem Bildschirm oder bei der Zeitungslektüre.

Dagegen ist nichts einzuwenden, weil ja ohnehin nicht zu ändern. Außerdem verstärkt es nur den Zusammenhang zwischen Sport und Frieden, denn wer weiterhin das Vergnügen am Sport in dieser Weise haben will, der sollte am Frieden genauso interessiert sein wie der aktive Verfechter des Friedens aus anthropologischen Gründen.

Ich will damit keineswegs leugnen, dass sichtbares, vorbildliches Verhalten im Sport ein wichtiger Stimulus sein kann, wenn sich denn Sportler und Sportfunktionäre wirklich ihrer Verantwortung gemäß verhielten. Denn es geht nicht darum, die eine oder andere politische Meinung zu verteidigen oder zu wiederholen, sondern um die ganz eigenständige, dem Wesen des Sports entsprechende Position.

Der Sport, den auch Digel meint, ist das Ergebnis einer langen kulturellen Entwicklung, mit Weltgeschichte verbunden und selbst bei Distanz zur eigenen Teilnahme am Sport auch mit der individuellen Entwicklung von Persönlichkeiten.

Im Sport spiegelt sich die uralte Auseinandersetzung zwischen Individuen. Mit sich selbst kann sich ein Individuum schwerlich vergleichen, bestenfalls hinsichtlich der eigenen Entwicklung, es braucht für den Vergleich auch den anderen. Das Gerangel unter kleinen Kindern ist ein Vergleich und keineswegs nur ein körperlicher. Sport qualifiziert schon sehr früh im Sportunterricht den Vergleich, lehrt den Vergleich nach Regeln. Wer Sport ernst nimmt, der weiß, dieser bedarf der Regeln, die nicht immer einfach zu befolgen sind, dafür sind es eben Regeln. Und das Regelwerk gibt es auf allen Ebenen, von Individualsport bis zum Mannschaftssport. Sie sind entstanden, um Verletzungen, welcher Art auch immer, auch in moralischer Hinsicht zu verhindern.

Also, Sport ist das Gegenteil vom Krieg. Es geht um den Vergleich und damit auch um Sieger und Verlierer, aber ohne Verletzungen, vom Tod nicht zu reden. Der Verlierer gratuliert dem Gewinner, nicht selten in der Hoffnung, im nächsten Vergleich der Gewinner zu sein oder auch in der Einsicht, der Verlierer zu bleiben, schwächer zu sein.

Krieg dagegen ist die Verhinderung von Vergleichen, also die Vernichtung. Wenn auch mancher ihn führt oder zu führen gedenkt, um Kultur zu erhalten, es bleibt eine Vernichtung. Kriege werden aus ganz anderen Gründen geführt, nicht für den kulturellen Vergleich, sondern zur Vernichtung der anderen. Wir wissen heute sehr genau, dass Kriege aus politischen und ökonomischen Gründen geführt werden und ebenso wissen wir, dass es nicht so einfach ist, Gründe für Kriege eindeutig zu identifizieren. Darum ist oder sollte der Sport eine bremsende Funktion erhalten, behalten und diese versuchen zu qualifizieren.

Dem Sport kommt eine den Frieden erhaltende Funktion zu, dieser Funktion sind viele Interessen unterzuordnen. Und hier kommt wieder der Aufruf von Digel ins Spiel. Sportler müssen sich zeigen, nicht nur, um den Frieden zu sichern, sondern um ihre eigene Profession zu erhalten. Krieg beendet Sport, nicht für alle, aber irgendwann auch für alle.

Ausschluss von Sportlern aus internationalen Vergleichen oder ähnlichen Veranstaltungen ist nichts anderes als die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, also keine Option für den Frieden. Die Beteiligung aller Sportler sollte immer das Prinzip sein, also die Beendigung des Krieges wichtiger als der Ausschluss von Sportlern vom Wettkampf. – Eine Utopie, aber eine schöne und auf Zukunft verweisende.

Ein weiterer Gedanke soll noch hinzugefügt werden.

Es sollte stärker kommuniziert werden, dass Sport vorwiegend ein kulturelles Phänomen ist. Diese Tatsache in den Vordergrund zu rücken, scheint das Gebot der Stunde zu sein.

Die Mehrzahl der Menschen nimmt den Sport in seiner grundlegenden Funktion, bezogen auf sein eigenes Dasein, kaum wahr. Die Wahrnehmung ist vorwiegend auf den Wettkampf gerichtet, an dem die Zuschauer ohnehin nicht teilnehmen, also auf den Vergleich zwischen Individuen und Mannschaften.

Natürlich unterschätzen wir diesen Aspekt nicht, er gehört zur kulturellen Funktion des Sportes. Allerdings sollte er nicht oberflächlich abgetan werden. Es ist schon wichtig zu sehen, welche Interessen dahinterstehen. Sport kann immer instrumentalisiert werden, und zwar von verschiedenen Seiten, insbesondere in Kriegszeiten. Der Sport setzt in dieser Hinsicht Emotionen frei, die es zu beherrschen gilt. Schließen Verantwortliche Sportler aus internationalen Wettkämpfen aus, ist das eine einseitige Teilnahme an den Auseinandersetzungen. Denn gerade die Teilnahme aller Sportler, welcher Nation auch immer, ist Herausforderung zur Beendigung der Auseinandersetzungen. Genau in diesem Zusammenhang ergibt sich die Frage nach dem Sinn des Sports.

Das bezieht sich natürlich auch auf die Frage nach der Vergabe von internationalen Sportveranstaltungen.  In diesem Sinne war die Vergabe der letzten Fußball-Weltmeisterschaft aus mehreren Gründen ein kulturpolitisches Ereignis und nicht nur ein sportliches. Die Forderung an die Sportler, sich lange nach der Vergabe entsprechend zu verhalten, also zu protestieren, war ein Verletzung des Charakters des Sports. Sportler haben zwar das Recht, sich gegen sportrechtliche Entscheidungen zu positionieren, aber nicht die Pflicht, das Versagen einer ganzen Funktionärsgruppe zu korrigieren. Es ist durchaus eine Zerstörung des Ansehens des Sports, wenn hinsichtlich der Fußballweltmeisterschaft auch im Nachhinein keine Konsequenzen gezogen werden. Der Rücktritt des Vorbereitungskomitees wäre eine notwendige Konsequenz.

Es hört sich sehr konsequent an, wenn Sportler aus Ländern, die vermeintlich oder wirklich in einen ungerechtfertigten Krieg verwickelt sind, von internationalen Wettkämpfen suspendiert werden. In Wirklichkeit ist es die Verletzung der Pflicht internationaler Verbände; sie haben dafür zu sorgen, dass alle Sportler der Welt teilnehmen können. Funktionäre könnte man gegebenenfalls ausladen, aber auch hier mit Augenmaß. Auch in dieser Hinsicht sollte die kulturpolitische oder besser die anthropologische Funktion des Sportes genutzt werden. Vielleicht wäre es angesagt, wenn sich die Sportwelt darauf einigen würde, alle internationalen Meisterschaften abzusagen, solange Krieg ist – dies als ein Mittel gegen alle Kriege.

Nur so hat der Sport wirklich eine Friedensfunktion. Ohne Frieden keinen Sport! Alle Sportler, alle Sportfunktionäre, alle Sportwissenschaftler gegen den Krieg, aber wirklich gegen den Krieg unter Einbeziehung der jeweiligen Vorgeschichte, der ganzen Vorgeschichte.

Natürlich stehen Sport und Frieden, ja, Politik überhaupt, in einem Zusammenhang, nein, in vielen Zusammenhängen. Niemand wird das ernsthaft in Zweifel ziehen. Das ist ja auch ein Grund dafür, nicht zu schweigen, wenn es um die gegenwärtige Situation geht. Und das bedeutet auch, das Wesen des Sports in diesem Zusammenhang zu bedenken.

Krieg hat Vernichtung, in welcher Hinsicht auch immer, im Fokus. Sport ist auf ein spezifisches Miteinander gerichtet, auf Vergleich, auf friedliche Auseinandersetzung, auf Freude am Sieg – nicht Vernichtung! –, auf angenehme Begegnungen, die zur Bereicherung in vielfacher Hinsicht führen. Es ist völlig klar, dass Krieg und Sport in diesen Dimensionen ein Widerspruch sind. Genau das ist aber der Grund, warum sie auseinandergehalten werden müssen. Mit allen Mittel muss versucht werden, den Widerspruch zu lösen, indem der Sport generell dem Krieg entgegengestellt werden muss. Dies geschieht natürlich am besten, wenn der Sport, über welche Wege auch immer, zu Verhandlungen führt, beruhigend wirkt, im Idealfall den Krieg verhindern hilft.

Wer den sportlichen Vergleich wünscht, sollte allen kriegerischen Versuchungen widerstehen können und wenn sie eingetreten sind, sie zu beendigen versuchen. Die Sportwelt dazu aufzurufen, ist ein Gebot der Stunde. Wer aber den Sport benutzt, um Krieg zu ermöglichen, etwa durch Ausschluss von Sportlern aus internationalen Wettkämpfen, handelt der Vernunft zuwider.

„Die von der Ukraine geplante Kampagne gegen das IOC und die darin zum Ausdruck gebrachte Anmaßung, selbst das Management innerhalb des IOC zu verändern, muss als einer der gefährlichsten Angriffe gegen den modernen Olympismus, gegen den Anspruch auf Autonomie der olympischen Bewegung, gegen das Neutralitätsgebot und gegen den gesamten Olympischen Sport bewertet werden.  Das IOC muss sich gegen diesen Angriff mit aller Entschiedenheit wehren. Die Vereinten Nationen sind aufgerufen, diesen Angriff zurückzuweisen und auch von den deutschen Sportorganisationen muss eine klare Antwort auf diese unerlaubte Intervention erwartet werden.“ So wird in einer der jüngsten sportwissenschaftlichen Expertisen die aktuelle Situation beurteilt.

Das ist deutlich und begrüßenswert. Kein Politiker sollte das Recht haben, einseitige Forderungen zu stellen, die zudem die ganze Vorgeschichte des Krieges außer Acht lässt, selbst wenn diese nicht eindeutig ist. Jeder politische Zusammenhang hat eine Vorgeschichte, die es hinreichend zu beachten gilt.

Die zitierte Expertise hat sich zudem hinreichend mit der Frage beschäftigt, ob russische Athleten aus internationalen Wettkämpfen einschließlich der Olympischen Spiele ausgeschlossen werden sollen. Dies wird dabei mit Recht verneint. Die Weltgemeinschaft sollte es nicht akzeptieren, dass es einen Boykott der Spiele durch die Ukraine gibt.

Meine Hoffnung ist noch vorhanden, dass der Präsident der Ukraine, der meint, die Welt in seiner Hand zu haben, einlenken könnte. Würde er es tun, dann hätten wir schon vor den Spielen einen Sieger, dem alle Wettkämpfer applaudieren würden. Die Weltsportgemeinschaft könnte ihn dann zum Friedensnobelpreis vorschlagen. Erstmalig auf der Welt wäre ein gefährlicher Krieg durch den Sport verhindert worden.

Die Sportwelt als Sieger in einer der gefährlichsten weltpolitische Situationen, genau dies wünscht sich nicht nur der Autor der Expertise, der diese Diskussion angestoßen hat, sondern auch die große Mehrheit aller Olympischen Athletinnen und Athleten

Karl– Friedrich Wessel promovierte 1968 mit einer Studie über den kritischen Realismus und habilitierte sich 1975 mit einer Arbeit über Philosophie und Pädagogik. 1977 wurde er auf den Lehrstuhl für philosophische Probleme der Naturwissenschaft an der Humboldt- Universität zu Berlin berufen und war von 1990-2000 Gründer und Leiter des interdisziplinären Instituts für Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik. Gegenwärtig leitet er ein Projekt zur Humanontogenetik an der Humboldt- Universität zu Berlin und er ist Vorsitzender der Gesellschaft für Humanontogenetik.