Opa wird es richten

Wie ist es, Großvater zu sein, wenn man als Vater immer zu wenig Zeit für seine Kinder hatte? Unser Autor, 79, holt mit den Enkeln viel nach.

Ein Gastbeitrag von Michael Gernandt

Einer dieser wunderbaren Tage im Herbst. Gleißendes Licht aus tiefstehender, immer noch behaglich milder Sonne; erwartungsfroh gestimmte Menschen am Rand des Hockey-Spielfelds. Ein Tag demnach, von dem die angenehmen Momente haften bleiben würden — wenn da nicht der Vorfall mit 14-jährigen Paula gewesen wäre.

Paula ist 14 Jahre alt und meine Enkelin; sie hat einen Zwillingsbruder, Quirin, und einen zehn Jahre älteren Cousin, Julian. Ich bin also dreifacher Großvater. Aber an diesem wunderbaren Herbsttag dreht sich alles um Paula.  Sie spielt Hockey — wie ihr Bruder — auf einem sehr beachtlichen Niveau. Seitdem sie fünf Jahre alt sind, spielen sie im Club. Auf dem Programm steht heute das Halbfinale um die bayerische Meisterschaft der Jahrgänge 2004/2005, der Sieger darf ins Finale und um einen Wimpel spielen, der eher schmucklos ist, aber natürlich eine begehrte Trophäe.

Um es kurz zu machen: Es gibt erst mal keinen Sieger, ein Penaltyschießen muss daher das Patt zwischen den Gegnerinnen auflösen. Nur: Nach jeweils fünf Versuchen weiß der Wimpel immer noch nicht, wohin er gehört. Wieder tritt Paula an, sie ist die Kapitänin des Favoriten. Aber Paula, unter Druck geraten: verschießt. Dann nimmt das Unheil seinen Lauf. Die Gegnerin: trifft. Der Außenseiter erreicht das Endspiel.

Das ist jetzt der Moment, der den Großvater ins Spiel bringt. Gegen die tiefstehende Sonne sieht er von Weitem, wie Paula auf den Kunststoffrasen sinkt und in Tränen der Enttäuschung ausbricht. Tröstende Worte ihrer Mitspielerinnen prallen von ihr ab. Paula vermag in dieser für sie trostlosen Situation niemand zu helfen. Auch ihr Opa nicht? Der hat als Sportjournalist derlei Augenblicke häufig genug erlebt, aber nie war ein Enkel darin verwickelt. Paulas Kummer berührt nun auch ihn ganz tief. Indes, er unterdrückt den Impuls, aufs Spielfeld zu laufen, und das Kind aus der Mädchentraube heraus in die tröstenden Arme zu ziehen. Sie hätte ihn in ihrem Zustand vermutlich gar nicht wahrgenommen.

Die stereotypen Worte des Mitgefühls, die ich Ihr später per SMS sende („Kopf hoch, Paula, das ist im Sport manchmal so“),  sind darum kein Ausdruck jedweder Distanz zu der Enkelin. Im Gegenteil: So eng wie an Paula, Quirin und Julian bin ich, wenn die Erinnerung nicht trügt, nicht einmal an die eigenen Kinder herangerückt. Auf dem Hockeyplatz wird mir klar, von welch unterschiedlicher Konsistenz sich die Nähe des Opas zu den Enkeln und die des Vaters zu den Kindern darstellt.

Kinder sind Verantwortung. Wie groß diese ist, wird mir eigentlich erst jetzt in der Rückschau klar. Bis zur Geburt der Enkel habe ich diese Aufgabe nur in Teilzeit wahrgenommen. Freud und Leid ihrer Kindheit und Schulzeit teilten die Töchter hauptsächlich mit meiner Frau. Nur sie wusste, welche Klassenarbeit in der Schule anstand und ob dafür noch gelernt werden musste. Ich war kein präsenter Vater. Bei den Enkeln Paula, Quirin und Julian aber habe ich selten entscheidende Matches verpasst. Ihre im Erfolgsfall stolzen Blicke zum Spielfeldrand gehen mir hinein ins Opaherz.

Kinder können einen im Innersten berühren. Aber was das so richtig heißt, habe ich erst als Großvater gespürt. „Dein Interesse am Leben der Kinder war eher oberflächlich“, merkt die Ältere heute an, „wohl aus Zeitmangel“. Sie hat recht. Das mag zwei Faktoren geschuldet sein, die wie Tangenten den Familienkreis berühren: Sport und Zeit. Spät, erst bei Rentenantritt fanden die Linien zueinander. Sport war immer allgegenwärtig, weil von beiden Eltern zunächst auf Hochleistungsniveau betrieben, später vom Vater als Reporter beschrieben und schließlich zwei Jahrzehnte lang im Zeitungsressort verantwortet.  Zeit war erst dann nicht mehr knapp, als die Enkel heranwuchsen. Von da an konnte sie vom Opa problemlos abgerufen werden. Sie mussten nicht mal fordern, sie bekamen einfach.  „Mami musste sich quasi allein um uns kümmern“, sagt die Jüngere. Und die Ältere: „Bei wichtigen Entscheidungen hat es geheißen: Frag` Deine Mutter“.

Sie sagen das 30 und mehr Jahre nach Kindheit und Jugendzeit ohne Vorwurf. Die Töchter empfanden die häufige Abwesenheit des Vaters als Kind offenbar nicht als so schlimm: „War ja ein toller Beruf, wir haben mit Tickets und Reisen zu Sportveranstaltungen ja auch profitiert“, sagt die Jüngere und die Ältere: „Du warst mehr der kumpelhafte Vater denn eine Respektsperson, zumindest einer ohne patriarchalische Anwandlungen, nie streng“.

Wirklich gefehlt habe ich in der Erziehung meiner Töchter nicht. So schätze ich das heute ein, sehe ich doch, was für liebevolle Mütter sie geworden sind. Aber habe ich vielleicht etwas versäumt?

Staunend sehe ich, wie heutige Väter ganze Monate im Job aussetzen, wie sie Rollen für sich entwickeln, die für uns noch undenkbar waren. Während sich die Väter verändern, verändern wir Großväter uns aber auch. War der eigene Vater noch der distanzierte Großpapa, den die Enkel vor allem als strengen Gast des Sonntagskaffees kannten, sind wir die Generation der Verwöhn-Opas. Ich verschenke Zeit, die den Eltern fehlt, Lob (als zuverlässige Claqueure am Sportplatz) und Geld (als Sponsor unter anderem diverser Besuche in der Arena des deutschen Fußballmeisters).

Im Rentnerdasein sehe ich, wie mir der Faktor Zeit auf der Beliebtheitsskala der Enkel Zusatzpunkte eingebringt und wie die gemeinsamen Erlebnisse uns verbinden. Enkel Nummer eins, Julian, forderte mich als (fragwürdigen) Sangeskünstler. Die ständige Wiederholung  („Opa nochmal“) gerade noch jugendfreien Liedguts („… und der Koch in der Kombüse, diese vollgefressne Sau ….“) während längerer Autofahrten bewahrten den ermüdeten Junior im Fond punktgenau vor dem Sekundenschlaf. Später war ich dem Enkel ein leider bald machtloser Tennisgegner, lud ihn ein zu TV-Übertragungen samstäglicher Auftritte des FC Bayern und erbot mich als Schlussredakteur der Diplomarbeit. Weitere Einsätze auf der stets aktualisierten To-do-Liste des Großvaters: Chauffeur der Jüngeren zu Trainingsstunden quer durch die Stadt, Finanzier von Hockeyklamotten und anderem Sportgerät, wandelndes Sportlexikon.

Wäre ich in der heutigen Zeit Vater, hätte ich wohl beim Elternzeitangebot zugegriffen. Den Töchtern bei ihren schulischen Problemen zur Seite zu stehen wäre dann ohne die Ablenkung durch den Beruf ein Leichtes gewesen. Aber nein, gemeinsames Lernen fand viel zu selten statt, unterblieben sind auch nachhallende Verweise auf die Notwendigkeit eines mit Blick auf die berufliche Ausbildung erfolgreichen Schulabschlusses. Zumindest im Fall eines der Mädchen wäre derlei dringend notwendig gewesen. Ich hätte zudem gern mehr Interesse geweckt: für Kulturreisen, Besuche von Konzerten mit klassischer Musik, die Beschäftigung mit Literatur, kurzum für Gelegenheiten, die Welt verstehen zu lernen. So aber muss ich feststellen, dass ich wohl doch den männlichen Arbeitswesen zuzurechnen bin, die es versäumt haben ihren Kindern mehr Vater denn Hausfreund zu sein — und nicht zuletzt, ihrer Frau weniger Verantwortung für die Kinder aufzuhalsen und ihr mehr Freiräume zu verschaffen. Allein die althergebrachte Rollenverteilung (Vater am Schreibtisch, Mutter am Herd), die wir – ohne sie zu hinterfragen – übernahmen, ließ uns damals wenig Luft für andere Konzepte.

Ein Glück aber ist es, diese als Großvater erleben zu dürfen. So ist der Wechsel vom Vater zum Großvater leichtgefallen. Schon als Vater den Kindern eher Kumpel und nun ein eben solcher drei Enkeln als Opa. Viel hinzu lernen musste er nicht. Gewonnen aber hat er einiges.

Sei schließlich noch erzählt, wie es mit dem Häufchen Elend namens Paula am Tag nach dem Fehlschuss weiter gegangen ist. Da war der Frust über die Niederlage längst runtergeschluckt und Paula und den anderen Mädels tatsächlich schon wieder zum Feiern zumute gewesen. Im Kreis der Mannschaft ihres Zwillingsbruders. Die hatte das Finale um die Bayerische Meisterschaft gewonnen.  In Nürnberg. An einem ebenfalls wundervollen Herbsttag, mit noch behaglich milder Sonne. Den vom Feiern bereits leicht lädierten Wimpel, den Teamkapitän und Bruder Quirin überreicht bekam, nahm er mit nach Hause. Als Trostpreis für das Fräulein Schwester.

Erstveröffentlichung: Sueddeutsche.de, 2. November 2018
https://www.sueddeutsche.de/leben/familie-kinder-opa-elternzeit-1.4191420?reduced=true