von Sven Güldenpfennig
Anregungen für eine neue Strategie des IOC
Das IOC arbeitet an einer weltweiten Strategie für die „Olympische Erziehung“. So wie in anderen olympischen Fragen, sollte es auch hier auf Zurücknahme von Ansprüchen und Verheißungen auf das Begründbare ankommen. Dabei spricht vieles dafür, dass „Olympische Erziehung“ nicht gleichbedeutend mit allgemeinmenschlicher Erziehung ist. Die Letztere muss im gesamten Lebenskontext geleistet werden, während die Erstere auf das olympische Feld beschränkt bleibt. Deshalb ist auch der Meinung nicht zuzustimmen, dass das Weltethos des Theologen Hans Küng für den Olympischen Sport leitend sein soll. Denn in diesem Weltethos findet sich das Spezifische, das den Sport und nur ihn ausmacht, nicht angemessen abgebildet.
Auf olympischem Feld geht es enger und begrenzter zu: Hier kommt es darauf an, ein Verständnis und eine Folgebereitschaft für den (partikularen, eben gerade nicht universellen) kulturellen Eigensinn der Sportidee und für die sich daraus ergebenden begrenzten, aber hier unbedingt geltenden Handlungsimperative zu vermitteln.
Ein wohlbegründeter Gegenstand von „Olympischer Erziehung“ ist enger und begrenzter als der von einer auf die Gesamtpersönlichkeit bezogenen Allgemeinbildung – was heißt das? Hier steht gerade nicht die Vermittlung jener Werte im Vordergrund, deren Beherzigung und Beherrschung wir uns für Menschen in zivilisierten Gesellschaften wünschen: Sie sollen lernen, demokratisch, gemeinschaftsorientiert und engagiert für soziale und friedliche Belange zu sein. Eine ausbalancierte Mischung zwischen Egoismus und Altruismus sowie zwischen Fleiß und Muße könnte ein weiteres Ziel sein. Dies sind universale Eigenschaften, die wir nach Möglichkeit erwerben und anschließend als Menschen und Staatsbürgerinnen und Staatsbürger praktizieren sollten.
Was wir hingegen als Teilhaber (Aktive) und Beobachter (laienhaftes Publikum sowie professionell Vermittelnde) des Sportsystems, also in der Rolle als „Sportbürger“ lernen und praktizieren sollten, sind weitaus begrenztere partikulare Eigenschaften bzw. Fähigkeiten. Es geht um ein Verstehen des Eigensinns des Sports als eines der Kulturgüter, vergleichbar mit den anderen Künsten, das heißt ein Verstehen des Sports
- als eines Spiels, dessen Regeln nicht einfaches Regelfolgen aus pragmatischen Gründen wie im Straßenverkehr erfordern, sondern deshalb strikt gelten, weil das spielerische Ereignis erst dadurch überhaupt entsteht und ohne ihre Einhaltung zerstört würde;
- als eines künstlich, also zunächst einmal ohne jeden materiellen Grund geschaffenen Wettbewerbs zwischen Parteien, die erst durch das Sich-Einlassen auf den Wettbewerb entstehen und die in den auf der Gegenseite Beteiligten nichts als ausschließlich sportliche Gegner sehen, also alle außersportlichen Referenzen unbeachtet, also „aus dem Spiel“ lassen;
- als eines (Sport-)Werkes, das durch das beiden Seiten gemeinsame und beide Seiten voneinander trennende kämpferische Streben nach dem Sieg geschaffen wird, also nicht im Sieg einer Seite und folglich auch nicht von seiten des Publikums in der Identifikation mit der siegreichen Seite aufgeht, sondern von den Athletinnen und Athleten primär die Identifikation mit der Sportidee und dem Sportereignis und die primäre Loyalität ihnen gegenüber erfordert.
Dies und weitere Aspekte, die allesamt Gegenstand von Olympischer Erziehung in der Schule, im Vereinstraining und bei der Aufklärung von allen „Beobachtern“ im weitesten Sinn dieses Begriffs werden müssten, wären hier anzuführen. Es wäre zudem um die Vermittlung eines präzisen Bildes dessen zu ergänzen, was die Olympische Idee und Bewegung als die
Versammlung der weltbesten Athletinnen und Athleten unter dem Prinzip „all sports – all nations“ in einem raumzeitlich eng begrenzten und weltweit wandernden Ereignis namens „Olympische Spiele“ aus der bunten Vielfalt anderer Sportereignisse heraushebt. Eine solche Beschreibung zeigt, dass dies ein ungemein anspruchsvolles Konzept ist und nicht etwa, wie es prima vista erscheinen könnte, eine Verarmung gegenüber weiter und in außersportliche Bereiche greifende Konzepte, von denen bei der Olympischen Eriehungsthematik meist die Rede ist, deren Möglichkeiten zur sportbezogenen praktischen Umsetzung jedoch meist überschätzt wird.
Ziel einer wohlbegründeten Olympischen Erziehung ist also nicht der universale Anspruch, im umfassenden Sinne „ein guter Mensch“ zu werden. Vielmehr geht es hier in weit begrenzterem Sinne um die Vermittlung von sportbezogener Urteilskraft, sowohl gegenüber dem Sportgeschehen um einen herum wie auch gegenüber dem eigenen Handeln innerhalb dieses Feldes. Die Olympische Idee und die Olympische Bewegung als „machtarme“, rein symbolische und damit überaus fragile Kulturgüter sind für ihre Existenz-, Behauptungs- und Zukunftsfähigkeit entscheidend darauf angewiesen, dass sie von Menschen und Institutionen getragen und kommuniziert werden, die genau wissen, worum es in diesem Sinn- und Handlungsfeld tatsächlich und primär geht – und was von diesem Feld fernzuhalten ist. Gerungen werden sollte folglich um ein Verständnis von „Olympischer Erziehung“, das, wie es der Philosoph Martin Hartmann in anderem Kontext formuliert hat, „wieder Biss hat“, das „bewusster verwendet wird, so dass man besser versteht, was es bedeutet, diesen Begriff zu verwenden“ (Hartmann, Martin, Vertrauen. Die unsichtbare Macht, Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 80).
Es kommt mithin bei einer sinngerechten und praktisch zu rechtfertigenden und umzusetzenden „Olympischen Erziehung“ darauf an, das zu weit gefasste, das heißt die Grenzen des Geltungsraum von Sportsinn und seinen Imperativen überschreitende oder gar ganz verlassende zu ersetzen. An dessen Stelle sollte eine weitaus enger gefasste Konzeption gestellt werden, die den Vorteil hat, dass sie im Sport auch tatsächlich einlösbar ist. Alles Andere entpuppt sich letztlich, wie in Andersens Märchen als des Kaisers neue Kleider, als zwar groß tönendes, aber leeres Gerede. Dadurch fördert es nicht, sondern beschädigt die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Olympischen Idee, ihrer Ereignisse und Institutionen.
Ein eng an das im Sport tatsächlich Ablaufende angelehntes Konzept hingegen hätte das Potential, den Respekt vor den Olympischen Spiele und den Ideen, die diesen zu Grunde liegen, zu stärken und zu fördern. Dadurch könnte es auch zu einem wirksamen „Antidot“ gegen den wachsenden Zynismus im Sportdiskurs werden. Natürlich wäre eine solche Zurücknahme ein schmerzhafter Prozess, weil sie den Abschied von „liebgewordenen rhetorischen Gewohnheiten“ bedeuten würde.
Zu einer wohlbegründeten „Olympischen Erziehung“ gehört nicht zuletzt, dass Sportaktive ebenso wie ihre Beobachter nicht nur einiges erlernen, sondern auch einiges verlernen müssten. Sie müssten, um nur vier Beispiele zu nennen, verlernen
- es für politisch-moralisch anstößig zu halten, wenn man in bestimmten Kontexten – zum Beispiel bei machtarmen Initiativen wie z.B.des Internationalen Roten Kreuzes, von Amnesty International, von den „Médecins sans frontière“ und auchvon international agierenden Kulturinstitutionen bis hin zur Olympischen Bewegung – bewusst und ausdrücklich an allgemeinpolitischen Ungerechtigkeiten und Gewalt in ihrem engeren oder weiteren Umfeld „vorbeisieht“;
- dem verständlichen und ehrenwerten politisch-moralischen Reflex nachzugeben und in militärischen Konflikten dem unschuldigen Opfer illegitimer Gewalt dadurch Solidarität beweisen zu wollen, dass sportliche Ereignisse oder Regelwerke als kulturelle Brücken über die allgemeinpolitische Kluft hinweg zur Disposition gestellt werden;
- aus Gewohnheit, Gedankenlosigkeit oder Verführung die Loyalität gegenüber der eigenen Sozialgemeinschaft (Verein, Kommune, Region oder Nation) im Sport über die Loyalität gegenüber der Sportidee zu stellen und damit auch den prinzipiellen Unterschied einzuebnen zwischen den Aktiven (unbedingte Loyalität zu ihrem Team als Voraussetzung für ein Gelingen des Spiels) auf der einen Seite und den Beobachtern (primäre Loyalität zur „Aufführung“ des Spiels als dramatischem Ereignis als Ganzem);
- anzunehmen, im Sport als vermeintlichem Spiegel der Gesellschaft würden dieselben Regeln, Normen und Handlungsimperative gelten wie dort. Womit verkannt wird, dass im Sport lauter „Un-Dinge“ gelten, die im alltäglichen zwischenmenschlichen Umgang zu Recht verpönt sind, im Sport aber ebenso zu Recht erwünscht sind.
Der Musiker Daniel Barenboim schreibt: „Musik fördert die Gesundheit, ist Vorreiter der Wiederkehr des Körpers, ist ein pädagogisches Mittel im Dienst der Persönlichkeitsentwicklung, Moralerziehung und Wehrertüchtigung, löst soziale Probleme, ist ein Feld der Gemeinschaftsbildung, ein wichtiges Wirtschaftsgut, Religionsersatz, Schule der Demokratie durch Regellernen, ein wirksamer Machtfaktor im globalen Konkurrenzkampf der Staaten und Gesellschaftssysteme. Nicht zuletzt: Sie ist einer der mächtigsten Friedensstifter. Aber: Heute besteht die große Gefahr, dass das große Geld die Musik verdirbt. Profimusiker verdienen einfach zu viel.“
Die Quelle dieses Zitats ist unbekannt. Der Grund: Es ist eine Fälschung, eine pure Erfindung. Barenboim hätte sich solche Unterstellungen über das von ihm mit verantwortete Tätigkeitsfeld strikt verbeten. Das Schein-Zitat ist ein Konzentrat aus zahllosen „Funktions“-Zuschreibungen und Heils-, bisweilen auch Unheilserwartungen, die gerne mit dem Sport verbunden werden. Ausgerechnet mit dem Sport, müsste man sagen, denn gerade dieses Feld bietet von seiner spezifischen Sinnstruktur her weniger Gründe für derartige Erwartungen als manches andere. Sie führen ebenso weit vom Sport weg wie die Äußerungen von Barenboim von der Musik, wenn er sie denn getan hätte. Dass der Sportdiskurs dennoch notorisch durchsetzt ist von ebensolchen von seinem Eigensinn her gar nicht angebotenen Erwartungen, hat seinen Grund nicht in ihm selbst, sondern in Zuschreibungen, die Dritte aus deren jeweiliger Interes-senlage heraus zu oktroyieren versuchen.
Die Sport-Wirklichkeit ist eine ganz andere. Genau besehen ist Sport, gemessen an allge-meinen Maßstäben, ein multiples „Un“-Ding – ein Handlungsmuster, das lauter allgemein gel-tende Werte nicht etwa bestätigt und verstärkt, sondern verletzt:
Er ist unehrlich, denn wesentliche Teile des erfolgreichen sportlichen Spiels dienen dazu, den Gegner durch Fintieren über die wahren Absichten zu täuschen – was im Alltagsleben zu Recht verpönt ist. Er ist unfriedlich, insofern er in den Kampf- und in manchen Spielsportarten den Einsatz von körperlichen Nötigungs- und Zwangsmitteln erlaubt, ja fordert, die ebenfalls im alltäglichen zwischenmenschlichen Verkehr untersagt sind. Er ist unsozial, insofern er der überwiegenden Mehrheit der Wettkampfteilnehmer den Zugang zu den extrem verknappten Erfolgsrängen (Sieg, Medaillen) verweigert, im Gegensatz zu dem Bemühen um permanente Erweiterung der Zugangschancen, das ansonsten die Sozialpolitik bestimmt. Er ist ungesund, insofern die Trainings- und Wettkampfintensität des heutigen globalen Spitzensportwettbe-werbs mit hohen Gesundheitsrisiken verbunden sind.
Ferner ist Sport unökonomisch, insofern das in der Ökonomie geltende Prinzip des Grenz-nutzens hier ignoriert und unter Einsatz von unmäßig erscheinenden Ressourcen auch noch um die Gewinnung von letzten minimalen Leistungsfortschritten gerungen wird. Er ist undemokra-tisch, insofern auf dem Platz wie in vielen Trainingsprozessen hierarchische Führungsstruktu-ren herrschen, die in anderen gesellschaftlichen Lebensbereichen nach Möglichkeit abgebaut werden. Er ist unnütz, insofern mit sportlichem Handeln keine allgemeinen gesellschaftlichen Problemlagen zu bewältigen sind. Ja er ist geradezu unsinnig: Der idealtypische Inbegriff des außersportlichen Unsinns schlechthin ist der 400m-Lauf, in dem man nach knapp einminütiger Aufbietung der letzten Leistungsreserven genau dort ankommt, wo man beim Start losgelaufen ist, ohne unterwegs irgendetwas Außersportlich-Nützliches verrichtet zu haben.
Eben dies alles aber macht Besonderheit und Alleinstellung des Sports aus, dies alles soll er sein. Die einzige tatsächlich gravierende Ausnahme macht das Moment des Ungesunden. Hierbei handelt es sich nur um eine an sich unerwünschte, aber doch in einem erheblichen Umfang auch unvermeidliche und daher notgedrungen in Kauf genommene Begleiterscheinung, gleich-sam Risiko und Nebenwirkung, des sportlichen Eigensinns. Es bedeutet folglich eine Verfälschung, Verniedlichung und Verharmlosung der Sportidee, wenn man dies zu überspielen ver-sucht. Die mit jenen „Un“-Dingen des Sports zum Ausdruck kommenden Anmaßungen sind deshalb zulässig, weil der Sport, entgegen aller wohlklingenden Festtagsreden, eben nicht Vor-bild der Gesellschaft ist, es angesichts seiner „Sonderrechte“ auch gar nicht sein darf. Diese Sonderrechte können ihm deshalb zugestanden werden, weil durch einhegende Rahmenregeln gewährleistet ist, dass er ohne allgemeinmoralische Bedenken partiell, räumlich auf den Sport-platz eingeschränkt und zeitlich durch An- und Schlusspfiff befristet, von der Geltung allge-meinmoralischer Regeln freigestellt werden kann.
Dies alles mag reichlich akademisch abstrakt und verkopft, auch realitätsfern klingen. In Wirklichkeit gilt ein solches Verdikt gerade für den bislang vorherrschenden Stil des Umgangs mit diesem Thema. Dieser hat den „Vorteil“ der schon langfristig eingespielten rhetorischen Gewohntheiten. Tatsächlich entspringt das hier Vorgeschlagene einer genauen Beobachtung und Beurteilung dessen, was „auf dem Platz“ tatsächlich geschieht, wenn es sinngerecht zugeht. Und es eröffnet Chancen, die es ermöglichen, anstelle von Fehl-Einschätzungen über Sport und „Olympische Erziehung“ weitaus mehr als bislang das hoch-zuschätzen, was diese tatsächlich zu leisten vermögen.
Das hier Angesprochene beschreibt in relativ abstrakter weise allgemeine Grundeinsichten. Damit sie nicht nur „bloßes beschriebenes Papier“ bleiben, sondern in der alltäglichen Praxis der Sport- und Olympischen Erziehung allgemeinverständlich vermittelt und erfolgreich prak-tisch umgesetzt werden können, müssen sie durch alle in der Sportpraxis tätigen Verantwortli-chen in anschauliche und „handhabbare“ didaktisch-pädagogische Botschaften übersetzt und in geeigneter „Dosierung“ in das alltägliche Sportgeschehen vor Ort in Schule und Verein inte-griert – und möglichst auch durch entsprechendes Engagement der öffentlichen Medien unterstützt – werden. Sozial erwünschte Ziele, so noch einmal der schon zitierte Martin Hartmann, „schaffen sich nicht von selbst, wenn sie benötigt werden. So freundlich sind sie nicht, wir müssen sie schon selbst durch unsere Praktiken ins Leben rufen“ (a.a.O., S. 81).
Schon vor Jahrzehnten hat ein US-amerikanisches Psychologenteam einen Artikel zu den üblichen Erwartungen an den Sport veröffentlicht mit dem Titel If you want to build character, try something else (Bruce C. Ogilvie/Thomas A. Tutko 1969). Und der Sportsoziologe Klaus Heinemann hat 1968 zusammen mit seinem Kollegen Hans Linde in Leistungsengagement und Sportinteresse mit empirischen Erkenntnissen unbegründet hohe Erwartungen an den Transfer von sportbezogenen Haltungen in die allgemeine Lebensführung zurückgewiesen.
Die Vermittlung von Werten im und durch Sport ist also, wie der Volksmund sagt, „kein Wunschkonzert“. Der „Mainstream“ des Sportdiskurses jedoch weigert sich beharrlich, solche Mahnungen ernst zu nehmen, weil sie einen Abschied von liebgewordenen Denk- und Sprechgewohnheiten bedeuten. Man beharrt lieber auf dem allgemein Wünschenswerten, statt sich auf das durch den Sport tatsächlich Leistbare zu fokussieren. Nur das jedoch eröffnet begründete Aussichten darauf, in der pädagogischen Praxis auch tatsächlich wirksam werden zu können, statt im bloß Deklamatorischen gefangen zu bleiben. Das, was den Sport im engeren Sinne als Kulturgut in der ihm eigenen Sphäre stark macht, geht gerade nicht auf in einem „Allgemein-Humanen und Sozialen“, was wir außerhalb des Sports zu Recht von uns als Menschen erwar-ten. Hierin unterscheidet er sich grundlegend von der bunten Vielfalt des Sports im weiteren Sinne als einem Sozialgut, dem unmittelbar alltagspraktische Bedeutung zukommen kann.
Vor allem aber wird durch eine vordergründig-harmonistische Einebnung der Kluft und der Spannung zwischen generell geltenden allgemeinmenschlichen und partikular geltenden sport-lichen Verhaltensstandards der „Witz“ der Sportidee, so der Sportphilosoph Gunnar Drexel, entwertet und außerkraftgesetzt: Diese Spannung ist gerade das, was den besonderen Reiz und die Faszination des Sports ausmacht, das ihn übrigens auch mit anderen Künsten wie der Lite-ratur und dem Film verbindet, dass hier nämlich zeitlich und räumlich begrenzt Verhaltenswei-sen möglich sind und – buchstäblich – durchgespielt werden können, die nur hier zulässig sind, weil sie sich eben in einer symbolisch-spielerischen Sphäre ereignen und damit die in der all-täglichen „Normalität“ (hoffentlich) herrschende „zivilisierte Langeweile“ punktuell zu trans-zendieren vermögen. Was Menschen allen Alters in einer wohlverstandenen „Olympischen Er-ziehung“ erwerben sollten, sind das Wissen, die Überzeugung und Haltung, dass man „auf dem Platz“ nicht allgemeingesellschaftliche Wohlanständigkeit demonstrieren, sondern eine Reihe von Dingen tun soll, welche die Sportidee und ihr – sport-spezifisches! – Regelwerk dort for-dern, die man jedoch außerhalb des Platzes tunlichst unterlassen sollte. Alles das aber, was ihm vermeintlich über den Sport hinaus an Zielen hinzugefügt werden müsste, damit er ein vollwer-tiges Kulturgut wird, steckt bereits in seinem Sinnmuster selbst, das deshalb höchsten Respekt verdient. Aufgabe einer wohlbegründeten „Olympischen Erziehung“ ist es folglich, allen aktiv und rezeptiv Beteiligten bis ins Detail bewusst zu machen, wie gehalt- und moralisch anspruchsvoll die „Dramen“ sind, die auf den „Bühnen“ der Sportereignisse aufgeführt werden, sofern es in ihnen sinn- und regelgerecht zugeht.
Was den unvergleichlichen Reiz des Sports ausmacht, ist gerade nicht die Betulichkeit der alltäglich außersportlich geltenden Regeln, sondern die Dramatik der nur hier, in diesem ein-zigartigen Echoraum geltenden „eigenen Gesetze“ und ihrer Eigendynamik. Diese Dramatik entsteht aus der Gleichzeitigkeit von Entfesselung extremer Kampfsituationen und Beherr-schung von deren destruktivem Potential. Das Aushalten und Ausleben dieser Dramatik als Aktive auf dem Platz bzw. das Miterleben als Zuschauende an dessen Rand verständlich zu machen und zu erlernen – das sind der Kern und die vornehmste Aufgabe einer wohlverstan-denen „Olympischen Erziehung“. Diese dramatische Eigendynamik kann nur im Sport im en-geren Sinne, nicht aber beim Sport im weiteren Sinne entstehen. Das exorbitante ausgelebte Streben nach Exzellenz, das außerhalb jeder Reichweite von „Normalbürgern“ und „Alltags-sportlerinnen“ liegt, ist deshalb der originäre, angestammte „Spielplatz“ von Olympischer Idee und Bewegung. Es ist deshalb wenig plausibel und kann leicht als durchsichtiges „bloßes Wildern in fremdem Revier“ zur scheinbar demokratischen Rechtfertigung ihrer Fokussierung auf ein scheinbar legitimierungsbedürftiges elitäres Feld gesehen werden, wenn sich die Olympi-sche Bewegung auch auf dem Spielfeld des „Sports für alle“ zu engagieren bemüht.
Ich selbst bin aus all diesen genannten Gründen ein entschiedener Befürworter einer Strategie, „uns ehrlich zu machen“ im Hinblick auf das, was der Sport tatsächlich leisten kann und sollte. Sein Anspruch auf Glaubwürdigkeit und gesellschaftliche Anerkennung wird daduch eher stärker als schwächer. Es ist zudem ein wirksames Antidot gegen die allfällige mediale Kritik, die den Verantwortungsträgern des Sports den hohen Ton ihrer Selbstbeschreibungen nicht abnimmt, sondern als Munition für die eigene Polemik verwendet. Dies gilt aus meiner Sicht für die pädagogischen Ansprüche an eine Olympische Erziehung in gleicher Weise wie für die politischen Ansprüche der Olympischen Bewegung.
Zur pragmatischen Umsetzung eines solchen Konzepts gehört schließlich auch ein hartnäckiges Beharren darauf, dass sich das, was sich für einen sinngerechten Sport hält , keineswegs von selbst versteht, sondern mühevoll er- und vermittelt werden muss. Die Erarbeitung und Bereitstellung von entsprechenden didaktischen Materialien für die Lehrer- und Trainerausbil-dung ist darüber hinaus zwingend erforderlich.
Resümee: Zur Verwirklichung ihrer humanistisch-erzieherischen Ziele und Möglichkeiten ist die Olympische Idee auf entsprechendes Handeln von personellen und institutionellen Trä-gern angewiesen. Dies sind vor allem die Athletinnen und Athleten selbst, ferner die Trainer
und die Veranstalter. Zu wünschen wäre, dass darüber hinaus auch die Zuschauer und die pro-fessionellen Berichterstatter zu diesem Kreis hinzukämen. Sie alle gemeinsam bringen erst das Sportereignis hervor. Oder jagt man hiermit einer Chimäre, einem Phantom nach? Die Suche nach einer überzeugenden Antwort wird, was die Zuschauer und die Medien anbetrifft, min-destens zwei einschränkende Faktoren berücksichtigen müssen:
- Das dem Sport zuschauende „Volk“, mit Heinrich Heines Worten „der große Lümmel“, ist nur sehr begrenzt für elaborierte sportlich-pädagogische Botschaften ansprechbar. Es wird zum Sportfan mehrheitlich durch sportexterne, oft sportfremde, ja bisweilen sogar direkt sport-widrige Erwartungen. Daraus ergeben sich des öfteren Einstellungen und Handlungsweisen, die das Publikum nur sehr begrenzt zum Mitträger von Botschaften des sportimmanenten Sinns qualifizieren. Der Zuschauer kann sich zudem durch die Wahlfreiheit innerhalb der Vielfalt des Medienangebots jederzeit unliebsamen pädagogischen Einwirkungen durch „Wegzappen“ oder andere Ausweichstrategien entziehen.
- Die Medien registrieren die Sportbewegung oft nur in extrem selektiver (und damit un-seriöser) Manier als kritikbedürftiges Eigentum von umstrittenen Institutionen, nicht aber als schützens- und förderungswürdiges „gesellschaftliches Eigentum“ und Kulturgut, für dessen Zukunft alle, und damit jede(r) Einzelne und auch jeder einzelne gesellschaftliche Bereich ver-antwortlich sind. Sie beschränken sich folglich in sport-politischen Fragen meist strikt auf die Rolle des unabhängigen investigativen Aufklärers von Fehlentwicklungen, der sich nicht mit seinem kontaminierten Beobachtungsfeld gemeinmachen und mit dessen Keimen anstecken lassen darf.
„Was nicht in den Medien erscheint, hat nicht stattgefunden“ lautet ein vielfach zitierte Medien- Topos. Dieser ist allerdings unzutreffend. Was hat denn in einer Welt „stattgefunden“zu einer Zeit, als es noch Medien gab? Und wie hat sich der Sport behaupten und entwickeln können? Nur eine verschwindend geringe Menge dessen, was im Sport weltweit geschieht, hat überhaupt eine Chance, in öffentliche Medien dargestellt zu werden. Und für den Sport ist dabei das Was und Wie alles andere als unbedeutend. Auch der große Rest, der keine TV-Resonanz findet, „geschieht“ trotzdem, hat und behält für Millionen von Menschen eine große Bedeutung. Er geschieht nur nicht zur gleichen Zeit für alle, vor weltweiten medialen, sondern vor begrenz-teren Öffentlichkeiten. Von diesem unvermeidlichen Selektionsmechanismus darf sich der Sport nicht irritieren und davon abbringen lassen, dafür zu sorgen, dass er sich weiterhin in seiner ganzen gesellschaftlich wünschenswerten Vielfalt entfalten kann. Eine kluge und verant-wortliche Sportpolitik hätte dabei den Auftrag, immer dann, wenn etwas vom Sport im Fernse-hen dargestellt wird, die dabei erwirtschafteten Gewinne solidarisch um zu verteilen.
Schließlich ist noch die folgende pädagogische Anmerkung wichtig: Es gehört – und dies gilt uneingeschränkt auch sportbezogen – zur Allgemeinbildung, mediale Kritik metakritisch lesen und erkennen zu lernen, wo und wie auch sie oft interessengesteuert operiert und damit die öffentliche Meinungsbildung unter Nutzung oder Missbrauch der journalistischen Maximen „Neutralität und Objektivität“ in eine von ihr favorisierte, aber bestreitbare Richtung lenken kann.
Vom IOC möchte und muss man sich wünschen,dass man im IOC den Mut dafür aufbringt, einen Befreiungsschlag aus der bisherigen argumentativen Selbstfesselung zu wagen und sich an die Spitze eines Umdenkens zu stellen, mit dem auch in Fragen der „Olympischen Erzie-hung“ die Erkenntnisse aufklärerischer Forschung ernstgenommen, aufgegriffen und einem zukunftsfähigen praktischen Handeln verfügbar gemacht werden könnte. Es wäre nicht weniger als eine „argumentative Revolution“, die allein auf die friedensstiftende Macht der Idee und des Worts setzen, aber dabei helfen würde, die Stellung des Sports, der Olympischen Idee und Be-wegung als einer kulturellen Macht überzeugender zu begründen und gegen allfällige Kritik zu behaupten, als dies bislang gelungen ist.
Das Credo hinter den hier vorgetragenen Überlegungen lautet: Die Olympische Bewegung ist keine Sozial-, sondern eine Kulturbewegung. In ihren Verlautbarungen und Entscheidungen sollte sie sich daher nicht leiten lassen von dem von außen her eingebrachten Oktroy der von allgemeinen außerkulturellen Interessen bestimmten Erwartungen gesellschaftlicher Mächte, sondern stets primär von innen her von dem besonderen Angebot, welches das von ihr verant-wortete Kulturgut von seinem kulturellen Eigensinn her in die Gesellschaft zu deren Bereicherung einzubringen vermag. Der Sport ist wie seine gesamte Verwandtschaft in der Sphäre des Spiels und der Künste freigestellt von der Verpflichtung, materiell, politisch oder pädagogisch über sein bloßes Stattfinden hinausreichende und insofern nützliche Leistungen für die Gesellschaft erbringen zu müssen. Es ist deshalb unbillig, ja sinnwidrig und kontraproduktiv, solche Verpflichtungen gleichsam durch die Hintertür wieder in den „exterritorialen“ kulturellspielerischen Raum der Olympischen Bewegung einbringen, ja hineinzwingen zu wollen. Die hinter solchen, für sich genommen möglicherweise ehrenwerten, Ambitionen stehenden Motive ver-kennen die vielfach bewährte produktive Kraft, die von der Maxime des „Weniger-ist-Mehr“ freigesetzt werden kann.