Ohne Olympische Spiele könnten viele Sportarten nicht existieren

Andreas Müller im Gespräch mit Volker Kluge

Vom 6. bis 15. April 1896 fanden die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit statt und schlugen allein mit ihrem Austragungsort Athen die historische Brücke zu den antiken Spielen, die in Olympia erstmals im Jahr 776 vor unserer Zeitrechnung ausgetragen und dort bis ins Jahr 393 fortgeführt worden sein sollen. Wie kam Baron Pierre de Coubertin auf die Idee, nach über 1.500 Jahren Pause die Olympischen Spiele der Antike wiederzubeleben?

Sein Schlüsselerlebnis war der englische Roman »Tom Brown’s School Day« von Thomas Hughes, der 1875 in französischer Sprache erschien. Er handelt von einem Direktor namens Thomas Arnold, der Sport und Gemeinschaftsspiele in der Erziehung junger Männer zu »christlichen Gentlemen« in sein Konzept einbezog. Zwischen 1883 und 1886 reiste Coubertin mehrfach nach England, wo er dann die Praxis kennenlernte. Danach publizierte er seine Studienerkenntnisse mit der Absicht, das französische Erziehungssystem nach angelsächsischem Vorbild umzubauen. Seine Ideen stießen auf Widerhall. Vorerst wurde ein Komitee mit Coubertin als Sekretär gegründet, von dem diese Ziele propagiert werden sollten.

Wann hat er erstmals seine visionäre Idee ausgesprochen?

Anlässlich der Weltausstellung 1889 in Paris organisierte Coubertin einen Kongress, der ihm die Gelegenheit bot, seine Reformpläne zu präsentieren und bei dieser Gelegenheit ein internationales Netzwerk aufzubauen. Zur Belohnung wurde er anschließend von seiner Regierung nach Nordamerika geschickt, um seine Studien fortzusetzen. Dort machte er an den Universitäten mit der Klubsportszene Bekanntschaft, die bei ihm großen Eindruck hinterließ. Nach seiner Rückkehr hielt er anlässlich der Fünfjahrfeier der französischen Sportdachorganisation am 25. November 1892 an der Sorbonne einen Vortrag, in dem er den »Export« von Sportlern als »Freihandelssystem der Zukunft« bezeichnete, aus dem der »Sache des Friedens« eine neue, mächtige Stütze erwachsen werde. Als zweiten Teil seines Planes rief er zur Wiedereinführung der Olympischen Spiele auf.

Export von Sportlern, was meinte er damit?

Nicht mehr und nicht weniger als die Internationalisierung des Sports und die Überwindung eines bornierten nationalen Denkens.

Wie fielen die Reaktionen aus?

Wider Erwarten blieb sein Plan vorerst ohne Resonanz. Deshalb griff er zu einem Trick und lud für 1894 zu einem internationalen Kongress nach Paris ein, um die von Sportart zu Sportart verschiedenen Prinzipien des Amateurismus zu diskutieren. Zuletzt setzte er ein achtes Thema auf die Tagesordnung – die Frage, mit welchen Möglichkeiten man die Olympischen Spiele zu neuem Leben erwecken könne. Am Schlusstag, dem 23. Juni 1894, beschlossen die Delegierten, Olympische Spiele im Abstand von vier Jahren jeweils in einem anderen Land auszutragen. Zu ihrer Leitung berief Coubertin ein internationales Komitee, das heutige IOC, in dem er für zwei Jahre das Amt des Generalsekretärs übernahm. Als Vorbild nahm er sich englische Herrenklubs, die ihre Mitglieder aus ihrem eigenen Kreis wählen. Damit sicherte er seinem Komitee die Unabhängigkeit, womit sich manche Politiker, die dort gern ihre Interessen realisiert sähen, bis heute schwertun.

Der Leipziger Sporthistorikerin und DOSB-Vizepräsidentin Petra Tzschoppe zufolge habe sich Coubertin zeitlebens mit Frauen im Sport schwergetan. So habe er nur zähneknirschend ihrer Teilnahme 1900 zugestimmt, nachdem mutige Frauen und Frauenrechtlerinnen im Verbund mit liberalen Männern dafür eingetreten waren. Bei der Premiere 1896 hatten nur Männer starten dürfen. Warum?

Das entsprach dem damaligen Denken seiner Kaste, die eine Vermännlichung des weiblichen Geschlechts befürchtete. Coubertin hielt den Frauensport für unpraktisch, uninteressant und sogar für unanständig. Sein Ideal blieb das feierliche Auftreten der männlichen Athletik »mit dem Applaus der Frauen als Belohnung«. Anders verhielt es sich bei »standesgemäßen Sportarten« wie Tennis und Golf, Sportarten, die für Frauen schon 1900 in Paris zum Programm gehörten. Im Jahr 1904 kam das Bogenschießen hinzu, 1912 Schwimmen und Wasserspringen, ab 1924 Fechten. Die Leichtathletinnen mussten bis 1928 warten.

Warum legte sich Coubertin bei der Premiere auf 1896 und Athen fest?

Er wollte sie eigentlich 1900 in Paris oder London sehen. Es fehlte aber das positive Echo. Also griff er zu, als man in Griechenland, wo ja bekanntlich die olympischen Wurzeln liegen, Interesse zeigte. Die Griechen hatten sich erst einige Jahrzehnte vorher von der osmanischen Fremdherrschaft befreit. Was die Jahreszahl betraf, so meinten einige Kongressdelegierte, dass der Abstand von sechs Jahren bis 1900 zu lang sein werde. Daraufhin schlug Coubertin vor, 1896 in Athen zu beginnen.

Mit der Antike als großem Vorbild?

Nein, bei den antiken Spielen waren nur freie Griechen zugelassen. Coubertin ging es um modernen und internationalen Sport, wie er ihn in England und den USA kennengelernt hatte. Deshalb musste er seinen Mitstreitern erst einmal klarmachen, dass ihm nicht die Wiederauflage der Antike vorschwebte, in der man weder Radsport noch Rudern oder Schwimmen kannte. Den Begriff »olympisch« wählte er, weil er damals in aller Munde war, denn deutsche Archäologen hatten in jenen Jahren das alte Olympia ausgegraben. Deshalb wollte er »seinen Spielen« den Nimbus von Größe und Ruhm verleihen und sie unter den Schutz des klassischen Altertums stellen. Damit hatte er richtig kalkuliert.

Wie dachten die Griechen über das »Geschenk«?

Die Königsfamilie, die aus dem Haus Holstein-Glücksburg kam, war einverstanden. Dagegen war jedoch die Regierung, die 1893 den Staatsbankrott hatte anmelden müssen. Die Gläubiger, die in Paris und anderswo saßen, hatten kein Verständnis für »Luxusausgaben«. Das machte sich die Opposition zunutze. Sie erklärte die Olympischen Spiele zur nationalen Aufgabe, womit eine neue Phase des Panhellenismus begann. Es kam zu Neuwahlen, aus der eine neue Regierung hervorging, die die Olympischen Spiele genehmigte.

Woher nahmen die Politiker das Geld?

Sie hatten Glück. Der reichste Grieche, ein in Alexandria lebender Kaufmann namens Georgios Averoff, war von dem Plan so begeistert, dass er sich bereit erklärte, eine Million Drachmen zu spenden. Damit konnte in Athen das verfallene antike Stadion saniert werden. Was dann noch fehlte, wurde durch den Verkauf von olympischen Sonderbriefmarken finanziert. Damals eine Sensation. Die Marken fanden auch außerhalb Griechenlands reißenden Absatz. Die Finanzprobleme blieben allerdings. Man glaubte, sie später mit einem neuen Krieg gegen die Türken lösen zu können. Der ging allerdings verloren.

Wie lange dauerten die Spiele, wie viele Teilnehmer gab es?

Geplant waren insgesamt neun Tage. Das Organisationskomitee verlängerte jedoch wegen des Wetters auf zehn. Es regnete, und man wollte die Preisverleihung durch den König in einem würdigen Rahmen stattfinden lassen. Auf dem Programm standen nur zehn Sportarten mit 50 Disziplinen, von denen das Rudern wegen stürmischer See ausfiel. An den Start gingen etwa 250 Sportler aus 13 Ländern, wobei nicht alle namentlich bekannt sind. Beinahe die Hälfte waren Griechen. Damals gab es noch keine Nationalen Olympischen Komitees – man bildete lediglich einige temporäre Beteiligungskomitees. Kleine Mannschaften reisten aus Deutschland, Ungarn und den USA an. Dazu kamen weitere Grüppchen und einige Individualisten. Die meisten waren Studenten oder Handwerksburschen.

Wie fiel die Resonanz bei den Zuschauern aus?

Bei der Eröffnung am 6. April 1896 war das Stadion mit seinen fast 70.000 Plätzen ausverkauft, und auf den Bergen ringsherum saßen weitere zehntausend Zuschauer. In den folgenden Tagen ließ der Zuspruch nach, was auch mit den nicht gerade billigen Eintrittskarten zu tun hatte. Trotzdem lockten Veranstaltungen wie das Schwimmen, das in einer Bucht in Piräus bei Wassertemperaturen von zwölf bis 13 Grad ausgetragen wurde, zahlreiche Zuschauer an.

Gab es schon Olympiatouristen?

Wenige, weil man ja noch keine rechte Vorstellung von den Olympischen Spielen der Neuzeit hatte. Außerdem lag Griechenland an der Peripherie Europas, und man musste eine tagelange Schiffsreise auf sich nehmen, um dorthin zu gelangen. Allerdings gab es auch schon organisierte Reisen durch Thomas Cook and Son, kombiniert mit touristischen Ausflügen zu den archäologischen Stätten und weiter bis nach Vorderasien.

Die Olympiasieger erhielten Silbermedaillen, warum keine goldenen?

Das konnte sich das bankrotte Griechenland nicht leisten. Außerdem war 1894 beschlossen worden, dass die Preise nur symbolischen Charakter haben sollten – dabei ist es bis heute geblieben. Einige Gewinner bekamen Ehrenpreise, die von Privatleuten gestiftet wurden. Einen dieser Preise erhielt der Sieger im Marathonlauf. Dieses Rennen über 40 Kilometer hatte der französische Philologe Michel Bréal vorgeschlagen, um an den legendären Boten zu erinnern, der angeblich 490 v. Chr. den Athenern die Nachricht vom Sieg über die Perser in der Schlacht von Marathon überbracht hatte. Wegen des historischen Hintergrundes war das für die Griechen 1896 der eigentliche Höhepunkt – zumal dann auch noch einer der ihren gewann: Spyridon Louis. Nun war alles super!

Und die Deutschen? Haben die auch ein paar Preise mit nach Hause genommen?

Sie dominierten im Turnen. Einer von ihnen, Carl Schuhmann, gewann außerdem das Ringen, das in nur einer Gewichtsklasse ausgetragen wurde. Mit zwei Einzel- und zwei Mannschaftssiegen wurde er der erfolgreichste Teilnehmer. Ein harter Schlag für die chauvinistische Führung der Deutschen Turnerschaft, die eine Beteiligung an dieser »französischen Erfindung« verbieten wollte. Die Aktiven sahen das anders und ließen sich nicht abhalten, weshalb sie zu Hause als »Vaterlandsverräter« beschimpft wurden. Ein mutiger Mann, der Chemiker Willibald Gebhardt, hatte sie nach Athen geführt. Er konnte auf die Unterstützung von Reichskanzler Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst zählen, dessen ältester Sohn die Präsidentschaft des Beteiligungskomitees übernommen hatte. Außerdem war die griechische Kronprinzessin Sophie die Schwester des Kaisers. Da konnte die Obrigkeit gegen eine Teilnahme kaum etwas einwenden.

Zumal Coubertin das Ethische im Sport stark betonte …

Für Coubertin galt die Leistung, die einen Athleten »adelte«. Da er aber wusste, dass dem Wettkampf Risiken innewohnen – Unfairness, Neid, Nationalismus, Rassismus –, erfand er den Begriff der »Religio Athletae«, einer quasireligiösen Hingabe, mit der sich die Teilnehmer dem Sport widmen sollten. Das war auch der Hintergrund, 1920 den olympischen Eid einzuführen, mit dem die Athleten und nun Kampfrichter und Betreuer bis heute geloben, die Regeln einzuhalten. Wenn in der Vergangenheit auch viele Meineide geschworen wurden, was auf Dauer kaum zu vermeiden ist, so verleiht doch allein das Ziel, die Teilnehmer feierlich zum Fairplay zu verpflichten, den Olympischen Spielen ein Alleinstellungsmerkmal. Wo sonst kommen 206 Nationen mit 11.000 ausgewählten Elitesportlern zusammen, deren Wettkämpfe in einer Dauerschleife 16 Tage lang im Fernsehen übertragen werden? Das macht die Olympischen Spiele so einmalig und zum Kulturgut.

Nach überschaubarem Beginn gelang Coubertins Schöpfung ein wahrer Siegeszug um den Globus. Was waren die wesentlichen Gründe dafür?

Einer der Gründe ist der strategische Ansatz Coubertins. Er war dagegen, dass sich separate »Olympische Spiele« entwickeln, etwa Weltspiele für Frauen, Arbeiterolympiaden oder konfessionell geprägte Spiele wie die Makkabiade. Nach seinen Vorstellungen wäre damit der Gesamtgedanke verwässert worden. Hinzu kam, dass die Bedeutung des Sports zwischen 1908 und 1912 weltweit gewachsen ist, was wiederum zu einem verstärkten Wettstreit der Nationen beitrug, ab den 1950er Jahren besonders im Systemvergleich. Ganz wichtig war die Verbindung des Sports mit Kultur. Nicht zufällig haben olympische Eröffnungsveranstaltungen die höchsten TV-Einschaltquoten. Überhaupt spielte das Fernsehen ab 1960 eine entscheidende Rolle. Für das IOC nicht zuletzt als Einnahmequelle – und nachdem die Gastgeberländer begriffen hatten, wie wichtig die Spiele für das Image sind. Spätestens seit 1968 und 1972 haben wir es mit weltweiten Fernsehspielen zu tun.

Wir reden von der heute größten Sportveranstaltung der Welt mit Milliardenumsätzen. Müsste sich Coubertin nicht im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, wie seine Spiele inzwischen vermarktet werden?

Das glaube ich nicht. Das große Spektakel wäre ihm vermutlich zuwider. Nachdem er 1925 als IOC-Präsident zurückgetreten war, hat er die Spiele ja nie wieder besucht. Andererseits wäre er wohl sehr damit einverstanden, welche enorme Bedeutung die Spiele, die zum Kulturgut der Menschheit gehören, seit 1908 und 1912 bekommen haben. Er hat ja anfangs das IOC aus der eigenen Tasche finanziert, sehr zum Ärger seiner Ehefrau. Das verlangt heute niemand mehr von einem ehrenamtlichen IOC-Mitglied.

Dagmar Freitag, die Vorsitzende des Sportausschusses im Deutschen Bundestag, bezeichnete die Olympischen Spiele kürzlich als ein »gigantisches Geschäftsmodell« …

… während der Profifußball bestimmt eine Wohlfahrtsorganisation ist? Bekanntlich finden die Olympischen Spiele nur alle vier Jahre statt, und die bei ihnen erzielten Einnahmen fließen zu 90 Prozent zurück in die olympische Bewegung. Ohne eine Vermarktung der Spiele könnten viele olympische Sportarten – vom Fechten bis zum Rennrodeln – nicht existieren. Und falls doch, dann nur auf niedrigem Niveau. Eine »gigantische« Vermarktung kann man dem IOC, das mehr als 80 Jahre praktisch von der Hand in den Mund lebte, gewiss nicht vorwerfen. An den Sportstätten gibt es keinerlei Werbung, auch nicht auf der Kleidung der Teilnehmer. Von welcher großen Sportveranstaltung kann man das sonst noch behaupten? Ich kenne keine.

Immer größer, immer gigantischer, immer aufwendiger lautet die Fundamentalkritik heute. Wo sieht der Kenner und Olympiahistoriker Handlungs- oder Reformbedarf für die Nachfolger Coubertins, um dessen Erbe angesichts dramatischer und zunehmend globaler Probleme zu bewahren?

Die wichtigsten Aufgaben des IOC bestehen darin, die Erziehung der Jugend durch Sport im Geist des Fairplay zu stärken und die regelmäßige Durchführung der Olympischen Spiele sicherzustellen. Wenn sich das IOC darüber hinaus mit seiner »Agenda 20« einer Vielzahl weiterer Probleme widmet, so ist das mehr als anerkennenswert. Doch im ursprünglichen Sinne ist das IOC weder für die Einhaltung der Menschenrechte noch für Umweltpolitik, Meinungsfreiheit, Migration oder die Bekämpfung einer Pandemie zuständig. Da es rund 600 Sportarten gibt, von denen 28 den Kern des olympischen Sommerprogramms bilden, ist das IOC noch nicht einmal die »Weltregierung« des Sports, wie manche annehmen. Ich plädiere dafür, die Versäumnisse und das Versagen von Politik, Wirtschaft sowie staatlichen Stellen nicht auf dem Rücken des Sports auszutragen.

Haben die Olympischen Spiele eine Zukunft?

Die sehe ich. Sie wären aber dem Untergang geweiht, wenn sie in die Klauen von Geschäftemachern und Spekulanten geraten würden. Traurig wäre es, wenn sich die Menschen nicht mehr für dieses einzigartige Sport- und Kulturereignis interessieren würden. Die Gefahr sehe ich aber schon deshalb nicht, weil die Welt größer ist als das satte Westeuropa, das erst aufwacht, wenn die Spiele auf einem anderen Kontinent stattfinden. Das ist uns dann aber auch nicht recht.

Das Gespräch wurde am 10.04.2021 in der „jungen Welt“ veröffentlicht.