Körperlich-sportliche Grundbildung der DDR-„Nicht anschlussfähig“?

 

Professor Albrecht Hummel über die wechselhafte Geschichte des Schulsports, über den Sport-Unterricht gestern in der DDR und heute in der Bundesrepublik

Es klingt wie ein Treppenwitz der Sport-Historie. Die Deutschen und insbesondere der 1759 in Quedlinburg geborene Pädagoge und Turn-Pionier Johann Christoph Friedrich GutsMuths gelten als „Erfinder“ der Körper- und Bewegungs-Erziehung und ihrer weltweiten Verbreitung. Doch zuhause und vor allem im schulischen Alltag wurde und wird dieses Gebiet politisch und pädagogisch größtmöglich vernachlässigt.

Diese Entwicklung ist so paradox wie traurig. Der Philanthrop und Pädagoge Johann Christoph Friedrich GutsMuths, der von 1759 bis 1839 lebte, gilt in der Tat als eine Schlüsselfigur für das Verstehen des heutigen Unterrichtsfaches „Sport“, das mit ganz unterschiedlichen Bezeichnungen wie Gymnastik, Turnen, Leibesübungen, Leibeserziehung oder Körpererziehung Eingang in die Schulsysteme der Welt gefunden hat. Seine Bücher zur Gymnastik der Jugend (1793) oder zum Erlernen der Schwimmkunst (1798) wurden in viele Weltsprachen übersetzt. Was er dazu aufschrieb, erprobte er in einer Art Privatschule – einem Philanthropinum – im thüringischen Schnepfenthal. Er sorgte damit für Initialzündungen, die ihre Nachahmer fanden. GutsMuths gehört gewissermaßen einer turnphilologischen Gründergeneration an, die sich um Systematik, um Lehrbarkeit und Lernbarkeit des Turnens und der Gymnastik bemühten. Die Etablierung des Turnens als Unterrichtsfach an staatlichen Schulen gelang dieser Gründergeneration noch nicht. Das geschah erst später.

Im Jahre 1807 wurde er sogar einmal von Turnvater Friedrich Ludwig Jahn in Schnepfenthal besucht.

Ja, das ist richtig und GutsMuths bekam vom sogenannten „Turnvater Jahn“ viel Anerkennung Jahn verdankte dessen Wirken viele Impulse. Ebenso wurde GutsMuths von namhaften Schulpädagogen wie Adolph Diesterweg geschätzt und respektiert. Allein sein „Kleines Lehrbuch der Schwimmkunst“ ist in der ganzen Welt bekannt. Er wäre vermutlich fassungslos, müsste er mitansehen, wie schlecht es heute bei uns um das Schwimmen-Können der Kinder bestellt ist. Ähnlich verhält es sich mit der körperlichen Leistungsfähigkeit in Sachen Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Beweglichkeit und Koordinationsfähigkeit. Von zirka. 30 Prozent der Absolventen der Pflichtschulzeit wird das staatlich zu garantierende Bildungsminimum im Bereich der körperlich-sportlichen Grundbildung nicht erreicht. Zugleich gibt es „Leuchttürme“ und „Insellösungen“ in der Schullandschaft. Dort wird bewiesen, dass wirksamer Sportunterricht durch qualifizierte Sportlehrkräfte und gute Bedingungen möglich ist. Glücklicherweise erhalten meine Enkelkinder in Cottbus und Rostock einen sehr guten Sportunterricht. Tendenziell muss leider konstatiert werden, wie kürzlich in der Tageszeitung „Junge Welt“ in einer Überschrift zu lesen stand: Sportunterricht und Schulsport sind zu einem „Zufallsprodukt“ verkommen.

Sie haben von 1993 bis 2013 an der Technischen Universität Chemnitz Sportpädagogik und Sportdidaktik gelehrt und jüngst im Hildesheimer Arete-Verlag gemeinsam mit Arno Zeuner, der von 1967 bis 1993 an der Pädagogischen Hochschule Zwickau Sportlehrer ausbildete, das Buch „Körperliche Grundbildung“ vorgelegt. Darin werden Entwicklungslinien der über 200-jährige Geschichte des körperlich-sportlichen Lernens, Übens und Trainierens in ihren Grundlinien nachgezeichnet. Sie verwiesen Sie zugleich auf markante „Brüche“ mit epochaler Bedeutung. Welche Ereignisse waren besonders einschneidend?      

In der neueren Geschichte selbstverständlich die politische Wende in den Jahren 1989/90 mit weitreichenden und leider keineswegs erfreulichen Folgen für den Schulsport bis in die Gegenwart. Brüche, Vorurteile und Widerstände begleiteten diese „Erfindung“ von GutsMuths und seinen Mitstreitern von Beginn an. Die körperliche Erziehung und körperliche Bildung erwiesen sich von Anfang an als „sperrig“. Sie passten nicht so recht in die vergeistigten, auf alte Sprachen ausgerichteten, neuhumanistischen Bildungskonzepte. Dann kam 1820 noch die sogenannte „Turnsperre“ hinzu, ein Turnverbot auf dem Gebiet des Deutschen Bundes. Turner und Turnlehrer wurden als Gefährder des Staates stigmatisiert und gerieten – nach heutigen Maßstäben – unter „Terrorverdacht“. Das war ein früher Bruch mit erheblichen Auswirkungen. Es dauerte dann bis 1842, ehe einer neuen Generation von Turn-Philologen mit Unterstützung von Militär-Ärzten und Vertretern der Schul-Hygiene der Durchbruch gelang, um das Turnen in den Schulen als Fach zu etablieren. Eine Schlüsselfigur jener Epoche war der gut vernetzte Turner und Turnphilologe Adolf Spiess aus Hessen.

Ab wann galt Turnen als Schulfach?

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts, in Preußen schon ab 1842 wurde der Turnunterricht – zuerst an Knabenschulen und zeitlich verzögert auch in den Mädchenschulen – fester Bestandteil des staatlichen Schulbetriebs. Es entstanden zahlreiche Turnlehrerbildungsanstalten, zum Beispiel in Dresden, Berlin, Stuttgart und Heidelberg. Die Professionalisierung des Turnlehrerberufs setzte ein und eine neue Generation von Turn-Philologen wurde in den Schulen und Vereinen aktiv. Letztlich war die Konzeption des Spiessch´en Turnens mit seinen Licht- und vielen Schattenseiten bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918 prägend für das deutsche Schulturnen mit Freiübungen, Ordnungsübungen, Gerätübungen; Ruck-Zuck-Gymnastik; Gliederpuppen-Turnen, Kommandosprache, Disziplinierung und anderen Formen der Militarisierung. Die Erinnerungskultur an den Schulsport ist bis heute davon beeinflusst. Das Interesse der Länder des Deutschen Bundes und das Deutsche Reich nach seiner Gründung 1871 setzten auf den Beitrag des Schulfaches Turnen zur Verbesserung der Arbeitsfähigkeit, der Wehrfähigkeit und bei Frauen und Mädchen auch der Gebärfähigkeit. Das machte den Kern der Legitimation dieses Schul-Faches aus.

Das Ende des Ersten Weltkrieges stellte sicher ebenfalls eine große Zäsur dar? 

In der Zeit der Weimarer Republik zwischen 1919-1933 änderte sich die Situation gravierend. Es setzte die Blütezeit vielfältiger reformpädagogischer Ansätze ein. Beachtung fanden Konzepte des „Natürlichen Turnens“ als Gegenbewegung und Gegenentwurf zum vormaligen Turnen nach dem Modell von A. Spiess.  Auseinandersetzungen zwischen dem sogenannten ‚deutschen‘ Turnen und dem ‚englischen‘ Sport lösten weitere Entwicklungsimpulse zur Förderung der Turn-und Sportbewegung aus. Zahlreiche Sportstätten, Schwimmbäder, Spielplätze und Stadien wurden gebaut. Zu Beginn der 20er Jahre erfolgte auch die Gründung der ‚Institute für Leibesübungen‘ (IfL) an den staatlichen Universitäten, zunächst als ‚zentrale‘, überfakultäre Einrichtung. Mit ‚mildem Zwang‘ wurde ein verbindlicher Studentensport eingeführt und die Ausbildung von Turnlehrkräften verbessert. Große Bedeutung für die Turnlehrerausbildung in der Weimarer Republik besaßen zwei Berliner Einrichtungen: Einmal die aus der Berliner Landesturnanstalt hervorgegangene ‚Preußische Hochschule für Leibesübungen‘ (PrHfL) in Berlin-Spandau unter Leitung des charismatischen Turnführers (‚Turnbischof‘) Dr. Edmund Neuendorf (1875-1961) und zum anderen die 1920 gegründete ‚Deutsche Hochschule für Leibesübungen‘ (DHfL) in Berlin-Charlottenburg, der Wirkungsstätte solch einflussreicher Leibeserzieher und ‚frühen‘ Sportwissenschaftler wie Dr. Carl Diem (1882-1962) und Dr. Hermann Altrock (1887-1980). Die Lehrgänge und Kurse dieser beiden privaten, jedoch staatlich anerkannten Bildungsstätten besaßen große Bedeutung für die Qualifikation der Turn-und Sportlehrer in Deutschland.

Durch die Lehrkräfte der DHfL bekam die Körperliche Grundausbildung eine bis dahin nicht mögliche wissenschaftliche Fundierung. Erstmals wurden sportwissenschaftliche, medizinische und pädagogische Grundlagen für Ausbildung von Lehrkräften in den Schulen und Vereinen koordiniert. Die Fachgebiete „Übungslehre“, „Gesundheitslehre“, „Erziehungslehre“ und „Verwaltungslehre“ schufen eine moderne, berufsfeldbezogene Struktur. Es wurden lehr- und lernbare Methodiken für die sportartorientierten Bewegungsfelder ausgearbeitet und erprobt, die noch heute bemerkenswert sind. Es entstand in jener Zeit eine erste, wissenschaftlich fundierte, in der Praxis erprobte. Lehrbare und studierbare Konzeption der Körperlichen Grundausbildung. Die Früchte dieser produktiven Entwicklungsarbeit in den 20er Jahren wurden von den Vertretern der ‚Politischen Leibeserziehung‘ – insbesondere durch den Leiter des Amtes ‚K‘ im Reichsministerium für Erziehung (RME), Dr.Carl Krümmel (1895-1942) während der Zeit des Nationalsozialismus vereinnahmt, deformiert, instrumentalisiert und rassistisch pervertiert. In diesem Kontext ist auch die formale Einführung der täglichen „Sportstunde“ im Jahre 1937 zu bewerten. Der tiefgreifende und umfassende Zivilisationsbruch jener Epoche belastete den Neubeginn der Körperlichen Grundbildung nach1945 im geteilten Deutschland erheblich. Institutionen, Organisationen, Personen, Publikationen, Bezeichnungen, Begriffe, Inhalte und Methoden waren dadurch kompromittiert. Das Betraf auch den Umgang mit der Konzeption der körperlichen Grundausbildung. Der verschüttete, wertvolle Kern dieser humanistischen Konzeption musste erst wieder freigelegt werden. Das konnte nur mit Verzögerungen gelingen.

Sie haben jüngst zuhause in Brandenburg Ihren 75. Geburtstages gefeiert. Wie haben Sie die Renaissance des Schulsports im Osten Deutschlands persönlich miterlebt?

Die Geschichte des Schulsports in der DDR zwischen 1949 und 1990 verlief nicht geradlinig. Auch hier sind mehrere deutliche Zäsuren erkennbar. In der Anfangsphase der DDR gab es noch keinen Sport-Unterricht, das Schulfach hieß bis 1955 „Körpererziehung“. Die Lehrkräfte waren Neulehrer oder erste Absolventen der Institute für Körpererziehung (IfK) der Pädagogischen Institute, Hochschulen und Universitäten. Eine eigenständige Sportorganisation gab es auch noch nicht, der Deutsche Turn- und Sportbund (DTSB) der DDR wurde erstaunlicherweise erst 1957 gegründet. Das außerschulische Sportgeschehen lag in den Händen der Gewerkschaft FDGB und der Jugendorganisationen. Die Sportverbände und Sportgemeinschaften waren, was schon aus ihren Namen wie „Traktor“, „Chemie“, „Motor“ oder „Dynamo“ ersichtlich wurde, branchenorientiert aufgestellt.

Eine markante Zäsur lässt sich mit dem sogenannten „Turnbeschluss“ vom 9. Februar 1955 durch den damaligen Volksbildungsminister Fritz Lange in Verbindung bringen. Dieser Beschluss fiel in der Phase der Wiederbewaffnung in Ost- und Westdeutschland. Fritz Lange – ein ausgewiesener Widerstandskämpfer in der NS-Zeit – glaubte, durch einen Rückgriff auf den patriotischen Geist des Jahn´schen Turnens aus der Zeit der Befreiungskriege gegen die napoleonische Besatzung den Unterricht neu ausrichten zu müssen. Das hatte Folgen: Die neue Fachbezeichnung hieß – „Turnen“. Die militärischen Bezüge des Unterrichts zur Nationalen Volksarmee NVA waren unübersehbar, etwa mit der Kommandosprache und dem Einsatz spezieller Wurfgeräte in Form von Nachbildungen der Stil- oder Splitter-Handgranate. Ein personalintensives Turnräte-System mit Kreis-Turnräten und Bezirks-Turnräten wurde aufgebaut. Neue Schulsportwettbewerbe entstanden und flächendeckend wurden Schulsportgemeinschaften (SSG) eingerichtet. Es gehört zur Dialektik jener Epoche, dass der Turnunterricht heftiger Kritik ausgesetzt war.

Weshalb?

Vor allem galt diese Art des Unterrichts als zu wenig wirksam, beklagt wurden seine geringe Bewegungs- und Belastungs-Intensität. Es gab zu viele Sitz-, Warte- und Ausruhe-Zeiten in den Unterrichtsstunden. Also wurde die Verbesserung des Turnunterrichts hin zu mehr und intensiverer Bewegung zum großen Thema. Der Bericht zur sogenannten ‚Karl-Marx-Städter Konferenz‘ im November 1963 ist dafür ein Schlüsseltext. Die Konferenz befasste sich mit der grundlegenden Veränderung des Inhalts und der Formen des Sportunterrichts in der sozialistischen Schule. Die Modernität und Attraktivität des Sportbegriffs wurden erkannt und auch für die Schule genutzt. Im Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem vom 25. Februar 1965 fand die durchgreifende Sportorientierung ihren Niederschlag. Das Unterrichtsfach hieß von nun an „Sport“. Der Sportunterricht wurde fester Bestandteil der allseitigen Bildung, er fand auf allen Schulstufen, in allen Klasse und Schulformen statt. Sportangebote wurden Bestandteil der ganztägigen Bildung und Erziehung, insbesondere in den Hort-Einrichtungen und den Schulsportgemeinschaften. Im Zentrum des komplexen Schulsportgeschehens jedoch stand der Sportunterricht, der als körperlich-sportliche Grundausbildung verstanden wurde und als langfristiger Prozess von Klasse 1 bis 10 angelegt war. Die Schulsport-Wettkämpfe und Schulsportfeste waren keine ‚Fremdkörper‘ im Schulbetrieb, sie wurden inhaltlich und methodisch durch den Sportunterricht vorbereitet. Leistungsorientierung und individuell bestmöglich Förderung waren kein Widerspruch.

Zugleich begann in jenen Jahren an verschiedenen Hochschul- und Universitätsstandorten wie in Rostock, Greifswald, Magdeburg, Potsdam, Berlin, Leipzig, Halle, Jena und Zwickau die wohl aufwendigste, produktivste, arbeitsteilig angelegte, multidisziplinär ausgerichtete und zentral gesteuerte Schulsportforschung, die es je in Deutschland gegeben hat. Regelmäßig wurden von nun an die Strukturen, die Prozesse und Ergebnisse des Schulsports gründlich analysiert und bewertet. Anhand von Schulsport-Wettbewerben, allen voran die Kreis- und Bezirks-Spartakiaden, ließen sich ebenfalls Rückschlüsse auf die Qualität des Unterrichts ziehen. Keine Schule, keine Schulleitung konnte es sich leisten den Schulsport dauerhaft zu vernachlässigen.

Eine derartig komplex angelegte Forschung zum Schulsport fand nach 1990 noch nicht einmal ansatzweise eine Fortsetzung. Die Länder sind diesbezüglich überfordert und das Bundesinstitut für Sportwissenschaft ist per Satzung für den allgemeinen Schulsport nicht zuständig. Es ist nur dem Leistungssport verpflichtet.

In Ihrem Buch widmen Sie jeweils ein ganzes Kapitel der „körperlichen Grundausbildung in der sozialistischen Schule der DDR“ und dem „1989er Sportlehrplan der DDR“.

Der 89er Sportlehrplan für die Klassenstufen 1 bis 10 an den Polytechnischen Oberschulen war ein Produkt der langjährigen Schulsportforschung und intensiven Beratungen mit berufserfahrenen Praktikern des Schulsports. Dieser Entwurf wurde 1989 voll umfänglich in der Zeitschrift „Körpererziehung“ veröffentlicht und er bestach in zweierlei Hinsicht: Zum einen gab es eine ausgeprägte „Stimmigkeit“ zwischen den Zielen, Inhalten, Methoden, Organisationsformen und den schulischen Bedingungen. Zweitens ermöglichte der Entwurf, die Lehrpläne für die Klassen 1 bis10 so zu gestalten, dass in diesem Fach über zehn Jahre hinweg in diesem Fach ein durchgängiger Prozess, eine durchgängige und systematische Entwicklung möglich wurde. Leider konnte das alles ab dem Schuljahr 1989/1990 nicht in die Praxis überführt werden und auch die gutorganisierte Schulsportforschung zerfiel in dieser Phase. An der Akademie der pädagogischen Wissenschaften war ich von 1989 bis zum Herbst 1990 der letzte Leiter der „Arbeitsstelle für Körpererziehung“. Ich erinnere mich noch genau, wie wir Ende er 80er Jahre in Zinnowitz, Ahrenshoop und Binz an der Ostsee große Konferenzen zum neuen Sportlehrplan abhielten und dieses Konzept mit größter Wertschätzung auch von Teilnehmern aus der Bundesrepublik bedacht wurde. Nach dem Mauerfall war davon nichts mehr übrig. „Bei uns nicht praktikabel“, „nicht anschlussfähig“ hieß es plötzlich. Fast war es Jenen, die zuvor aus dem Westen Beifall geklatscht hatten, peinlich, dass sie mich kannten. Man ging gründlich auf Distanz. Der anerkannte DDR-Schulsport war auf einmal nur noch Geschichte, er wurde als Bestandteil einer ‚Staatspädagogik‘ und ‚Erziehungsdiktatur‘ gesehen. Durch ‚nachholende Modernisierung‘ galt es den Anschluss an den Westen herzustellen.

Mithin blieb der schön „Zahnjahres-Ansatz“ graue Theorie.

Ja, leider. Das Ergebnis sehen wir heute. Der Schulsport befindet sich in einer Sackgasse, ist nur noch Anhängsel und von internationalen Entwicklungen komplett abgehängt. Das gilt nicht nur unter quantitativen Aspekten, wenn drei Sportstunden pro Woche nur auf dem Papier stehen und dieser massenhafte Gesetzesverstoß nicht einmal geahndet wird. Was übrigens ebenfalls für die gesetzlich verbriefte Pflicht gilt, in den Schulen „Anfänger-Schwimm-Unterricht zu erteilen“. Hinzu kommen die qualitativen Mängel. Es fehlt an qualifizierten Lehrkräften. Es fehlt auf Hochschul-Ebene auch an Personal, das Lehramts-Studenten für den Sportlehrerberuf methodisch gut ausbildet. Gut organisierter, bewegungsintensiver und auch belastungsintensiver Sportunterricht ist in Verruf geraten. Oberflächliche Mehrperspektivität, Sitzkreise und Reflexionsgespräche haben Konjunktur. Hier bestehen riesige Defizite und zeichnen sich fatale Fehlentwicklungen ab. Zumindest in den Ländern Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Brandenburg wurden noch Strukturen des 89er Sportlehrplanes aufgegriffen und fortgeschrieben. Manche Spuren davon sind noch heute erkennbar. Kurios ist der Umgang mit einem zeitgleich erarbeiteten Nachfolgematerial zum 89er Lehrplan. Dort enthaltene Empfehlungen und Tabellen zur Bewertung von Schülerleistungen im Fach Sport kursieren unter der Hand noch immer und haben zwischenzeitlich den Status eines ‚heimlichen Lehrplans‘. Mit diesem „Sportlehrplan“ hätten wir ein ausgezeichnetes Instrument in die Hand bekommen, dieses Fach zu entwickeln. Es ist anders gekommen

Zum Glück blenden die PISA-Studien den Sportunterricht aus …

Das Ergebnis wäre vermutlich verheerend. Genau darum wurde meines Wissens seitens der Bundesrepublik gezielt verhindert, dass neben den Fähigkeiten der Schüler in Mathematik, Lesen und Schreiben oder naturwissenschaftlichen Fächern auch das Sportfach mit untersucht wurde. Eine kleine Arbeitsgruppe der Sport-Kommission der KMK hatte diesbezüglich einen Versuch gestartet, der jedoch ‚Bildungs-Mandarine‘ der deutschen Sportpädagogik erfolgreich verhindert wurde.

Warum wurde das Sport-Fach in der DDR so besonders aufmerksam gepflegt?

Diese Hinwendung der DDR zum Sport in diesem Ausmaß war anfangs nicht vorhersehbar. Die DDR beanspruchte und sehnte sich nach internationaler Anerkennung, die ihr infolge der „Hallstein-Doktrin“ durch die Bundesrepublik systematisch verwehrt wurde. Im Zuge der Aufstellung gesamtdeutscher Olympiamannschaften für die Spiele 1956, 1960 und 1964 wurde vermutlich seitens der DDR-Führung zunehmend erkannt, dass mit Hilfe relativ geringer volkswirtschaftlicher Aufwendungen sportliche Erfolge gegenüber der BRD möglich werden können, die international gleichermaßen Aufmerksamkeit und Anerkennung finden werden. Diese Rechnung ging auf. Diese Hinwendung zum globalen Kulturphänomen Sport als nationales Profilierungsfeld ist eine originäre DDR-Entwicklung und sie fand nicht erst statt, als bekannt wurde, dass die Olympischen Sommerspiele 1972 nach München vergeben wurden. Diese Vergabe der 72er Spiele löste aber im Gastgeberland ebenfalls eine durchgreifende Sportorientierung aus. Aus dem Unterrichts-Fach „Leibeserziehung“ wurde das Fach „Sport“. Aus der Theorie der Leibeserziehung entstand quasi über Nacht die Sportwissenschaft. Sportunterricht war in der DDR das beliebteste Unterrichtsfach und die Sportlehrkräfte gehörten in aller Regel zu den beliebtesten Lehrerinnen und Lehrern an den Schulen. Sport galt als attraktiv, modern, er bot auch Abwechslung und Auszeiten vom üblichen Schulgeschehen.

Der Schulsport als Zubringer für den Spitzensport?

Man muss ehrlicherweise sagen, dass durchgehend nur die Klassenstufen 4 bis 6 in den Genuss von wöchentlich drei Sportstunden kamen. Alle anderen Klassen waren zwei Wochenstunden Standard. Ergänzt von den Angeboten der Schulsport-Gemeinschaften, die an jeder Schule Pflicht war und ebenfalls von richtig gut ausgebildeten Sportlehrern geleitet wurden. Es gab für Heranwachsende sogar Sportfördergruppen, also eine Art Nachhilfe-Unterricht, wenn das beispielsweise aus medizinischer Sicht geboten schien. Noch einmal: Als dieses einheitliche System Mitte der 60er Jahre etabliert wurde, hatte noch niemand die leiseste Ahnung davon, dass 1972 in München Olympische Spiele ausgetragen werden. Der Zusammenhang zwischen dem allgemeinbildenden Schulsport und dem olympischen Spitzensport lässt sich nur als ein ‚mittelbarer‘ unter Einbeziehung verschiedener ‚Vermittlungsglieder‘ erklären. Die leistungsfreundliche Unterrichtsgestaltung, die pädagogische Wertschätzung von Wetteifer und Wettkämpfen lassen sich als solche ‚Vermittlungen‘ verstehen. Eine direkte, unmittelbare Vorbereitung auf den Spitzensport durch den allgemeinen Schulsport ist abwegig und dysfunktional. Dieser manchmal unterstellte Zusammenhang ist sachlich nicht gerechtfertigt wäre meines Erachtens zu weit hergeholt. Dafür gab es im Schulsystem der DDR gut ausgebaute Formen der ‚äußeren Differenzierung‘ zur Förderung von Begabungen. Auf dem Gebiet des Sports waren dies die 25 Kinder-und Jugendsportschulen, mit ihren ca. 10.000 Kindern und Jugendlichen, die sich im Prozess eines ‚langfristigen Leistungsaufbaues‘ in definierten Sportarten befanden.

Der Schulsport hatte aber nicht nur wegen der leistungssportlichen Ambitionen der DDR so viel Gewicht. Diese Sicht wäre zu einfach. Dem standen allein die ständigen Reibungen zwischen Bildungsministerin Margot Honecker und Manfred Ewald als dem wichtigsten Sportfunktionär in der DDR entgegen. Ewald wollte unbedingt den Samstag-Unterricht abschaffen, um so für Kinder und Jugendliche mehr Raum für sportliche Wettkämpfe an Wochenenden zu ermöglichen. Die Volksbildungsministerin lehnte das konsequent ab. Was an allen Schulen stattfand, waren regelmäßige Talent-Sichtungen. Da schauten zumeist Sport-Studenten ein- oder zweimal im Jahr nach Kindern, die sich in bestimmten Disziplinen durch besondere sportliche Leistungen hervortaten. Für sie stand dann der Weg offen, an eines der Trainingszentren TZ. delegiert zu werden, in denen als Vorstufe zu den Kinder- und Jugend- Sportschulen KJS rund 70.000 Kinder trainierten. Bei alldem handelte es sich eher um ein indirektes Beziehungsgeflecht zwischen Schule und Leistungssport. Obwohl es Ausnahmen gab und vorkam, dass ein Sportlehrer direkt auf einen Verein oder ein TZ vor Ort zuging und auf ein besonderes Talent aufmerksam machte.

Dem ersten „Entwicklungsplan Sport“ des dafür zuständigen Bundesministeriums des Innern BMI hat kürzlich der Deutsche Olympische Sportbund DOSB die Unterschrift verweigert. Nach dieser Pleite soll nachgebessert und ein neuer Entwurf vorgelegt werden, in dem auch einige Passagen zum Schulsport zu erwarten sind. Was müsste in dem Papier unbedingt drinstehen?

Mir wäre vor allem wichtig, dass mit dem Ausbau der Ganztagsschule bildungspolitisch nicht die akuten Mängel im Sport-Unterricht gegeneinander ausgespielt werden. Ich plädiere für vielfältige, ergänzende gute Sportangebote beim „Ganztag“. Doch sie dürfen keinesfalls ein Spar-Modell für den Unterricht sein. Diese Angebote dürfen unmöglich ein Ersatz für den gesetzlich verankerten Sport-Unterricht sein, wo er ausfällt oder gar nicht mehr angeboten wird. Ich würde mir wünschen, dass mit dem  Entwicklungsplan  Sport eine gründliche Analyse der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität des Kinder- und Jugendsports in Deutschland einhergeht, um Entscheidungen auf der Grundlage gesicherter Erkenntnisse zu treffen. Es müsste viel Geld in die Hand genommen werden um, die Sportstättensituation – auch in den alten Ländern – zu verbessern und um qualifizierte, bildungsrelevante Sportangebote verlässlich in den Ganztag zubekommen.

Beispielsweise wären in allen Ländern nach dem Vorbild der ostdeutschen Länder schulische Schwimm-Zentren einzurichten. Groteske Kooperationsstörungen in den Beziehungen zwischen Bund und Ländern sind politisch zu beseitigen und die Personalstellen in der Sportlehrer-Ausbildung an den Universitäten gilt es erheblich auszubauen. Der DOSB sollte auch seine gesellschaftliche Mit- Verantwortung für den Schulsport in den Ländern wieder ernst nehmen und mit entsprechenden Kommissionen der Konferenz der Kultus – und Sport-Minister zusammenarbeiten. Dokumente von der Qualität der früheren „Aktionsprogramme Schulsport“ sind wieder dringend erforderlich. Doch ganz ehrlich: Nach meinen langjährigen Erfahrungen wird es einen „Entwicklungsplan Sport“ geben, an den sich schon nach wenigen Jahren niemand mehr erinnert. Papier ist geduldig.

Interview: Andreas Müller

In einer gekürzten Fassung ist dieses Interview bereits in der „Jungen Welt“ erschienen