Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Hans-Jürgen Schulke
Zukunftsforschung nach Corona hat Konjunktur, Szenarien reichen von neuen Lebensperspektiven bis zu wirtschaftlichen Abbrüchen. Sport taucht kaum auf. Die Einschränkungen der Pandemie hat die Sportwelt komplett getroffen: Großveranstaltungen, Profisport, Vereins- und Schulsport, Bewegungskindergärten, Fitnessstudios, individuelles Sporttreiben. Formen und Strukturen des Sports sind stillgelegt. Olympia, das größte Fest der Welt, wird dieses Jahr nicht gefeiert. Noch nie seit Beginn der bürgerlichen Sportbewegung vor 200 Jahren ist die gesellschaftlich organisierte sportliche Aktivität derart komplett unterbrochen worden – das trotz zweier Weltkriege und tiefgreifender politischer, technologischer und gesellschaftlicher Umbrüche. Wert und Weiterentwicklung des Sports sind neu zu bestimmen.
Vorrangig wird derzeit der Berufssport diskutiert. Es kann sein, dass es nach Ende der Krise, von Medien und Akteuren der Unterhaltungsindustrie forciert, über kurz oder lang wieder „business as usual“ gibt. Genauso denkbar ist, dass Menschen die Krise wie die Erfahrung der Entschleunigung des Alltags, die erlebte Solidarität reflektieren. Auch ihre eingeschränkten Finanzen. Stattdessen mehr zu Veranstaltungen in ihren Stadtteilen oder ihrem Quartierverein gehen, Kinder mehr zu deren Sportterminen begleiten. Es besteht die Chance zur Rückbesinnung auf die Idee des Sports als bewegendes soziales Miteinander mit mehr Bescheidenheit, Fairness, Respekt vor Spielern und Zuschauern, Achtsamkeit und Gesundheit, Selbstorganisation. Mehr Miteinander als lautes Massenevent. Das muss von Verbänden, Veranstaltern und Politik gelebt und belebt werden.
Virologen und Epidemiologen geben unterschiedliche Prognosen. Der medizinische Erfolg der kurzfristig getroffenen Einschränkungen muss sich noch zeigen, das wird erst Ende des Jahres durch den Vergleich nüchterner Zahlen erkennbar sein. Die Grippewelle 2017 verzeichnete in Deutschland 25 000 Tote ohne staatliche Eingriffe und medialen Hype – weniger als 3000 sind 2020 in einem ähnlichen Zeitraum zählbar. Erst dann sind ökonomische, pädagogische, sportliche und psychische Kollateralschäden zu bewerten. Wichtige Aspekte einer Pandemiebekämpfung werden derzeit noch ausgeblendet. So ist die aktuelle Versorgungslogik um eine umfassende Präventionslogik zu ergänzen. Hier wird Sport wichtig. „Körperliche Bewegung an frischer Luft kostet nichts, ist aber das beste Heilmittel gegen Erkrankungen.“ Das hat Turnvater Jahn schon vor 200 Jahren gesagt. Dieser Gedanke sollte stärker in den Vordergrund rücken neben Warten auf Impfstoff oder Medikamente. Die Erkenntnis, dass auf Widerstandsfähigkeit (Resilienz) ausgerichtete Lebensführung wesentlicher Faktor bleibt, um virale Krisen zu bestehen, lässt sich an der Verteilung der Coronainfekte ablesen.
Insofern kann der Sport wiedererstarken oder sogar durch die Krise an Gewicht gewinnen, wenn er sich zukunftsgerichtet als Feld versteht, in dem Menschen körperliche und soziale Immunkompetenz, sprich „Resilienz“ stärken. Das fehlt derzeit in der öffentlichen Debatte: Welche Traditionen, Strukturen, Potenziale, welche Stärken hat der Sport, die er präventiv für solche Krisen einbringt.
Virale Attacken sind nicht zwangsläufig mit langen Krankheiten oder tödlichem Ausgang verbunden. Dramatische Verläufe betreffen vor allem Ältere oder Menschen mit Vorerkrankungen oder riskantem Lebensstil. Ein Infekt kann von einem gesunden, widerstandsfähigen Menschen eher überwunden werden. Da muss sich jeder selbst fragen: Ernähre ich mich gesund, nehme ich genug Vitamine zu mir, treibe ich genug Ausdauersport um meine Immunkompetenz zu erhöhen? Auch die sozialen Kontakte, die einem gut tun, die psychisch stabilisieren, sind ein wichtiger Faktor – genauso wie der persönliche Umgang mit Stress und berufliche Zufriedenheit oder sicheres Wohnen. Es gilt entsprechend seit einigen Jahren ein Präventionsgesetz, das gesundheitssportliche Angebote fördert.
Wie können die 90.000 Sportvereine in Deutschland daran mitwirken? Sie sollten sich konsequent als Organisator qualifizierter Gesundheitsangebote, nach der WHO als „gesunder Lebensort“ darstellen. Der Vereinssport mit 27 Millionen Mitgliedschaften ist in Deutschland die größte zivilgesellschaftliche Organisation. Er ist traditionell und strukturell idealer Partner für Gesundheit und Prävention. Er bildet einen besonderen Ort, wo freiwillig und selbstorganisiert gemeinsames Bewegen gelingt. An fast jedem Ort gibt es Sportvereine, hunderttausende Trainer sind gesundheitsrelevant ausgebildet, die Zahl der Angebote für Fitness, Gesundheit, Entspannung ist enorm, 10 Mio. Vereinsmitglieder von Kleinkindern bis Hochbetagten besuchen präventionsorientierte Angebote, finden stabile soziale Kontakte. Zögernd beginnt die Politik in der Krise die Bedeutung der Vereine zu erkennen, mindestens stellen Länder und Bund unkompliziert Mittel für unbeschäftigtes Personal, Mieten, Infrastruktur bereit. Noch ist das kein langfristiges Präventionskonzept, das auch Hygiene beinhaltet. Im Milliardenpaket der Bundesregierung ist nichts zur drängenden Sportstättensanierung zu finden.
Noch fehlt die Ideenschmiede für eine resiliente Gesellschaft. Vereine sind kreativ, agil, arbeiten verantwortungsvoll und lösungsorientiert. Auch jetzt. Sie stellen Einkaufsdienste für die Nachbarschaft oder immer mehr auch tägliche Videos mit Übungen für zu Hause oder den Garten bereit. So etwas passiert in tausenden Vereinen in der Stadt und auf dem Land. In Kleinstgruppen wird mit Abstand geradelt, gewandert und gejoggt. Längst könnte ein desinfiziertes und räumlich gut aufgeteiltes Fitnessstudio oder der Gymnastikraum von Partnern genutzt werden, statt pauschal alles zu schließen. Die totalen Einschränkungen übersehen Verantwortung und Kraft zur Selbstorganisation der Zivilgesellschaft.
Künftig sollten Vereine im Sinne gesundheitsfördernder Netzwerke ihre Kooperation mit Schulen und Kindergärten verstärken, gefährdete Gruppen gezielt ansprechen. Krankenkassen, Ärzte, Sport- und Gesundheitsämter, Gesundheitswirtschaft, Pädagogen wären geradezu berufen, gesundheitliche Aspekte des Sports vor Ort stärker zu fördern, in kooperativen Netzwerken den Weg in eine sozial solidarische und körperlich widerstandsfähige Gesellschaft zu unterstützen. Das würde stabiler Gesundheit dienen und Milliarden im Gesundheitssystem einsparen helfen. Die tägliche Sportstunde wäre ein Ziel. Man sollte in Kindergärten stärker als bisher Bewegungseinheiten einbringen und die Kooperationen zwischen Schule/Verein verstärken, Betriebs- und Rentnersport erweitern. Vereine als Hotspots der Gesundheitsprävention und -motivation hat Tradition und Zukunft.
Die aktuelle Krise greift umfassend in das gesamte Leben ein, doch wird das zurückgehen. Bereitschaft und Sensibilität für Stärkung der Gesundheit werden bleiben. Es ist wichtig, dass von Sportorganisationen und Politik konkrete Maßnahmen folgen, die die Bereitschaft im dialogischen Prozess aufgreift und konzeptionell gestaltet. Es gibt im Vereinssport eine ausgeprägte Kultur des Mitmachens, der Toleranz und Unterstützung der Schwächeren – Hilfestellung als Prinzip. Man denke an Beiträge der Vereine zur Flüchtlingsintegration, im Reha- oder dem Behindertensport, für Hochbetagte. Die Weltspiele geistig behinderter Menschen 2023 in Berlin werden Beispiel für ein neues Verständnis von Sportveranstaltung sein, werden Vorbild an Fröhlichkeit, Gemeinsamkeit, Gesundheitsförderung, kultureller Bereicherung, wie wir es im Sport lange nicht mehr erlebt haben.
Es führt kein Weg an neuen Debatten um Gesundheit und Sport vorbei, wenn das Land nachhaltig krisenfester gegen Pandemien werden soll. Indem die Politik den Gedanken ernst nimmt, Gesundheit für alle – dazu gehört das soziale Miteinander – zu stärken, Gesundheitspolitik nicht nur eng als Abwehr von Krankheiten sieht, wird Vereinssport in Zukunft eine bedeutendere Rolle spielen.
Die jetzige Krise beinhaltet für alle die Herausforderung zu reflektieren, was er oder sie vom Sport für seine Gesundheit erwartet, was aktiv mitgestaltet werden kann. Vereine sind für viele Menschen ein Stück Heimat, in der man im Alltag Unterstützung erfährt. Wenn diese Potentiale von der Politik, den Sportorganisationen, auch der Wirtschaft aufgenommen werden, kann das zum Gesundheit fördernden, humaneren Sporttreiben führen. Garantie gibt es dafür nicht. Es liegt an den Menschen und den gesellschaftlichen Institutionen, diese Perspektive zu unterstützten. Auch im Berufssport.
Profisport bleibt attraktives Element der modernen Unterhaltungsindustrie. Er wird seine Bedeutung behalten. Zuschauen, sich mit guten Leistungen identifizieren und sich von ihnen begeistern zu lassen, ist nichts Verwerfliches. Was sich ändern könnte, ist, dass die exorbitanten Summen, die im Profisport gezahlt werden, sich relativeren. Eine Hoffnung ist, dass die soziale Verantwortung der Akteure, von den Spielern angefangen über die Vereine bis zu den Spielerberatern, die diesen Geldkreislauf befeuern, zunimmt, dass sich Berufssportler nicht als abgehobene Gruppe empfinden, sich stärker den Zuschauern, den Nachwuchsspielern, den sozialen Defiziten, die es in jeder Gesellschaft gibt, verstärkt zuwenden. Und Veranstalter ihr Event auch als gesunden Lebensort gestalten. Wenn das Wirklichkeit wird, und Ansätze dafür gibt es derzeit viele, wäre das ein positiver Anstoß, den die Coronakrise hervorgerufen hat.
Die jetzigen Erfahrungen mit unserer Gefährdung und Verletzlichkeit könnten dazu beitragen, dass wir Unterhaltungsbedürfnisse bewusster in den gesamten Lebensalltag einordnen, sie nicht als Ort der Heldenverehrung und Mittelpunkt des Lebens betrachten. Den tragen in Wirklichkeit andere, die zu Recht plötzlich als „Helden des Alltags“ entdeckt wurden. Die Chance besteht, dass künftig der Zusammenhang vom Profisport mit dem Kinder- und Seniorensport in Vereinen wächst. Im Übrigen finden wir im Sport wie in anderen Freiwilligenorganisationen tausendfach und traditionell Helden des Alltags – als Kassenwart und Chronist, Kampfrichter und Trainer, Gerätewart, Fahrer, Tröster.
Hans-Jürgen Schulke ist Professor für Sport- und Eventmanagement in Hamburg (Macromedia, Hochschule für Medien und Kommunikation HKM) und Lehrbeauftragter an der Universität Bremen