Wie aus Turnern Mountainbiker wurden

Würde es ihn nicht geben, so müsste man ihn erfinden. Gewiss wird in ganz Deutschland montags Sport betrieben, doch das Sporttreiben von mehr als 20 älteren Herren am Montagnachmittag in Marquartstein ist etwas ganz Besonderes. Ohne große institutionelle Hilfen und in völliger Eigenregie findet dieser Sport im Sommer in der schönen Natur des Chiemgaus und im Winter in der bestens geeigneten Sporthalle der Realschule statt. Am 01. Oktober hat wieder die Wintersaison begonnen und Autodidakt Michi, von Beruf ist er Konditormeister, führt in meisterlicher Weise ältere Herren zu gymnastischen Bewegungen, die sie ohne seine Anleitung vermutlich niemals machen würden. Nach einem 30-minütigen Aufwärmprogramm mit einer Vielfalt von gymnastischen Laufeinlagen findet der Hauptteil der Gruppengymnastik am Boden statt. Gekonnte Bewegungsanweisungen aktivieren die oft stöhnenden Körper vom Kopf bis zur Sohle. Manch Jüngerer muss dabei zehn Jahre Ältere, oft bereits über 80 Jahre, bewundern, die in ihrer Beweglichkeit kaum zu übertreffen sind. Das gemeinsame Duschen beendet den sportlichen Teil, bevor man sich dann in gemütlicher Stammtischrunde beim Hofwirth wiederfindet und dabei die große Politik ebenso wie das kleine Ereignis im Dorf thematisiert. Immer dabei ist eine eiserne Skulptur, die einen schwarzen Serviceboy zeigt, wie sie im amerikanischen Süden noch zu Zeiten der Apartheit wohl üblich gewesen sind. Für die Montagssportler hat diese Figur eine wichtige Funktion. Sie dient als Sammelbüchse für die gemeinsamen Feiern und Aktivitäten und es ist vor allem Jan, der nahezu jeden nötigt, sich seiner Spendenpflicht bewusst zu sein. Jan ist neben Michi der zweite Capo des Montagssports, denn er ist für einen wichtigen Teil der Freiluftsaison mit verantwortlich. Versammelt Chef-Coach Michi in der Zeit von April bis Oktober die etwas leistungsstärkeren Radler Montagnachmittag um 16 Uhr um sich, um mit ihnen die Chiemgauer Berge zu befahren, so ist es Jan, der alle jene um sich schart, die das Radeln in der Ebene im Achental und vor allem rund um den Chiemsee bevorzugen. Jeden Montag gibt er ein neues Ziel vor. Bergen, der Wössner See,  das Rottauer Moor, die Schlechinger Ache, Baden im Chiemsee, Einkehr in der Feldwies. Seiner Tourenvielfalt sind keine Grenzen gesetzt. Michi kann wie Jan in diesem Jahr auf eine außergewöhnlich schöne Freiluftsaison zurückblicken. Wolfgang Sch. war es auferlegt Michi zu ersetzen, als dieser wegen einer OP für ein paar Wochen pausieren musste. Seine Führungsqualitäten waren auf Anhieb erstklassig und für jemanden, der seine Kindheit in der Pfalz verbrachte, konnte er sich mit manchem bayerischen Weggefährten in Bezug auf Ortskenntnisse und Bergerfahrung durchaus messen. Wolfgang’s und Michi’s Tourenvorschläge hatten es einmal mehr in sich, so dass auch ganz leistungsstarke Mountainbiker wie Heinz H. oder Willy B. ihre Grenzen erreichten. Kurze Touren zum Einfahren zur Rachlalm oder zur Agersgschwend-Alm gehörten dabei ebenso dazu, wie außergewöhnlich anspruchsvolle Touren auf den Unterberg, zur Haidenholzalm oder zur Schlechtenbergalm. Auch die Röthelmoosalm, die Rechenbergalm und die Jochbergalm waren beliebte Ziele und die Gscheurer Wand hat einmal mehr einen einmaligen Blick über den Chiemgau und den Chiemsee ermöglicht, wie man ihn niemals mehr missen möchte. Höhepunkt der Montagsradler war eine ganztägige Tour, die von Waidring nach Lofer, Saalfelden, Leogang, St. Ulrich zum Pillersee führte. Das Schwimmen im See war der lohnende Abschluss einer anspruchsvollen, aber umso grandioseren Rundreise. Die Ausblicke auf das Steinerne Meer, die Lofer Berge bis zum Wilden Kaiser wurden meist mit bewunderndem Erstaunen begleitet. Bei Temperaturen über 30 Gad Celsius waren wir froh, dass wir mit Bernd S. einen hochqualifizierten ärztlichen Beistand aktiv an unserer Seite wussten. Eine sehr anspruchsvolle Bergtour zum Straubinger Haus verdient es, dass sie noch gesondert erwähnt wird. Die Einkehr nach anstrengendem Anstieg und großartige Ausblicke waren hierbei eine besonders dankbare Belohnung. War die längste Tour 72 km an einem heißen Sommertag für manchen eine kleine Grenzerfahrung, so waren die Bergtouren, bei denen über 1.000 Höhenmeter zu überwinden waren, vor allem auch eine Herausforderung für die Batterien unserer E-Bikes. Wobei erwähnt werden muss, dass es immer noch zwei Montagsradler gibt, die bei all diesen Touren auf jegliche elektrische Unterstützung verzichten. Rüdiger H. weiß dabei seine Tagesetappen immer so genau zu planen, dass er mit dem elektrifizierten Hauptfeld das Ziel erreicht. Während sich Sigmund meist noch ein weiteres Ziel ausgesucht hat und eine Sonderetappe deshalb fuhr, um seine volle Befriedigung am Berg zu erlangen. Jedes unserer angestrebten Ziele haben auch sie erreicht und vor allem haben sie die dritte Halbzeit als Ziel nach unserer großen Belastungen niemals ausgelassen.  Beim „Birner“ – das Gasthaus in Schleching, beim „Hofwirth“ in Marquartstein oder das Restaurant am Wössner See wurde den Montagsradlern ein Abschluss ihrer Bergerlebnisse ermöglicht, wie er zünftiger nicht sein kann.

Marquartstein ist das Tor zum Achental. Nur wenige Flußwendungen davon entfernt liegt das Nachbardorf Unterwössen. Auch dort waren es vor allem Altersgründe, warum aus ehemaligen Turnern, Leichtathleten und Volleyballspielern moderne Mountainbiker wurden. Als „Donnerstagsradler“ haben sie schon eine gewisse literarische Berühmtheit erlangt, waren sie doch bereits mit ihren interessanten Persönlichkeitsprofilen und ihrer legendären Weihnachtsfeier eine essayistische Betrachtung wert. Der diesjährige Rückblick auf die Donnerstagsradler soll sich mit ihrer besonderen Leistungsfähigkeit auseinandersetzen, die nicht weniger beispielhaft ist.

Das Team der „Donnerstagsradler“ kann auf eine äußerst erfolgreiche Saison 2018 zurückblicken. Einmal mehr konnte das Team das weiß-blaue Trikot für die beste Mannschaft bei der Tour de Chiemgau gewinnen. Die sportlich wohl wertvollste Leistung, die Einzelwertung der Tour, ging in diesem Jahr an Hermann M. Kraft und Ausdauer, vor allem aber seine Bergerfahrung waren Grundlage für diesen überraschenden Sieg. Nicht weniger überraschend war der Gewinn der Bergwertung durch Martin D. Er verfügte wohl nicht nur über die notwendige körperliche Kraft, sondern er wusste auch die wichtige elektrische Hilfe bei seinen Etappensiegen optimal zu nutzen. Weniger überraschend ist der Sieg der Sprintwertung durch Karl Sch. Mit seinen berühmten Sprinteinlagen war er immer zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle und so wusste er einmal mehr, sich diesen wichtigen Titel zu sichern.  Den Preis für den besten Nachwuchsfahrer sicherte sich Jürgen D. Da er sich immer wieder auf Abwegen befand und die Beherrschung seiner Rennmaschine ganz offensichtlich für ihn noch eine große Herausforderung darstellt, muss er für größere Bewährungsproben noch einiges lernen. Als besonders würdevoll dürfen Hans D. und Willy B. den Gewinn der Seniorenwertung empfinden. Mit ihren Leistungen konnten sie sich jederzeit im Hauptfeld behaupten und mit einem überraschenden Etappensieg konnte Hans D. auch alle Radexperten von seiner außergewöhnlichen Leistungsfähigkeit überzeugen. Mit diesen großartigen Erfolgen können Mannschaftscoach und Teamchef Fritz D. und Toni G. vollauf zufrieden sein. Jede Etappe haben sie bestens vorbereitet und aktiv begleitet. Ihre Renntaktik ist voll und ganz aufgegangen und auch das Material hat sich einmal mehr bewährt („Rennteam Hibike“). An jedem Etappenziel war für die Kulinarik bestens gesorgt. Ob Vesper oder hausgemachter Kuchen, das besondere Kompliment muss den Sennerinnen und Sennern gelten. Während der gesamten Tour war für das Team nur ein Sturz bei einer Bergetappe zu beklagen. In einer Nadelöhrkurve auf der schweren Bergetappe zum Hochgern erwischte es Helmut D. Die überraschende Begegnung mit einer Kuh führte zu einem missglückten Ausweichmanöver, was eine mehrwöchige Physiotherapiebehandlung beim Physioteam Stöckl zur Folge hatte.

Die diesjährige Chiemgau Tour war die bislang zeitlich längste und erstreckte sich über drei Jahreszeiten. Die Anzahl der Etappen, der Rekord bei den Höhenmetern und die Länge der Tour können wohl kaum noch übertroffen werden. Das wunderbare Wetter machte dies möglich und die einzelnen Etappen suchten jeweils eine besondere Symbiose zwischen Landschaft und Natur. Drei Flachetappen zum Chiemsee gehörten ebenso dazu wie viele schwierige Bergetappen. Die Oberauerbrunst Alm war das Etappenziel während der Enzianblüte, die Rechenbergalm wurde von mehreren Seiten angefahren, um dem Schwammerlinteresse zu genügen. Ganz gleich ob das Etappenziel auf der Feldlahn Alm, Hutzenalm, Agergschwend Alm, Frankenalm oder Bäckeralm war, überall wurden die Anstrengungen unseres Teams von freundlichen Sennern und Sennerinnen belohnt und Bier erwies sich einmal mehr als idealer Elektrolytausgleich. Die Röthelmoosalm, die Chiemhauser Alm, die Vorderalm, die Staffn-Alm, die Rachlalm und die Jochberg-Alm müssen als weitere Etappenziele ebenso noch erwähnt werden. Aus kulinarischen Gründen wurden auch Etappen nach Tirol einbezogen. Die Mühlbergalm und die Rinderbrachalm eröffneten dabei die schönsten Ausblicke beim Genuss bester Schmankerl. Selten zuvor konnte eine Chiemgau Tour so viel exponierte Ziele aufweisen und den Blick auf die Chiemgauer Berge, auf den Wilden und den Zahmen Kaiser, auf die Loferer Steinberge und das Steinerne Meer eröffnen, wie es in diesem Jahr der Fall war. Für das weiß-blaue Chiemgauteam der Donnerstagsradler wird die Jahresabschlussfeier auf dem Streichen der besondere Lohn für einen außergewöhnlichen Radsommer sein.

Ob Donnerstags- oder Montagsradler, eines haben die beiden Seniorenteams von Unterwössen und Marquartstein gemein, ihr Interesse am Turnen und am Sport wurde vor vielen Jahrzehnten in der Schule und im Turn- und Sportverein geweckt und hat bis heute angehalten. Ihr Bemühen um Gesundheit und ihr Wohlbefinden spielt für ihr heutiges Tun eine wichtige Rolle. An Stelle des wöchentlichen Wettkampfes und dem Bemühen um eine Leistungssteigerung ist der Kampf mit dem Anstieg zur nächsten Alm, eine intensive Naturerfahrung und eine besonders freundschaftlich ausgeprägte Geselligkeit getreten. Turnen und Sport haben diese Senioren als Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit deren authentischen Werten erlebt und sie haben diese Werte bis ins hohe Lebensalter ins „Troisieme age“, wie die Franzosen diesen Zeitraum treffend bezeichnen, erhalten können. Mit dem modernen Hochleistungssport von heute und mit dessen aktuellen Auswüchsen hat dieser Sport nichts zu tun. Er bildet meist nur den beschämenden Kontrast, wenn man sich in geselliger Runde der Nostalgie hingibt und von den Sportereignissen und den sportlichen Helden aus früheren Zeiten schwärmt.