„Es war einmal“, „vor langer, langer Zeit“, so beginnen Märchen. Für mich kommt es einem Märchen gleich, wenn ich mich daran erinnere, dass ich während meiner gesamten Handballkarriere mit einem Trikot gespielt habe, auf dessen Vorderseite nichts anderes als das Vereinsabzeichen des SV Möhringen zu sehen war und die Rückseite lediglich meine Rückennummer aufwies. Die Vereinsfarben Blau und Weiß und das Vereinslogo waren für meine Mitspieler und für mich eine Selbstverständlichkeit. Die Frage nach der „Werbung am Mann“ und nach der Notwendigkeit eines Werbeverbots oder dessen Aufhebung haben sich für uns nicht gestellt. Mit Ausnahme des Fußballs traten noch bis in die siebziger Jahre sämtliche deutsche Athletinnen und Athleten und die Spielerinnen und Spieler von allen Mannschaftssportarten in den Trikots Ihres Vereins an, der mit Vereinsfarbe und seinem Vereinslogo auf eine lange Tradition verweisen konnte.
Im Fußball wurde die entscheidende Wende 1972 eingeleitet als Eintracht Braunschweig die Absicht an den DFB herantrug, für das alkoholische Getränk „Jägermeister“ zu werben. Dieser Antrag wurde vom DFB zunächst abgelehnt. Dies führte zur Entscheidung der Mitgliederversammlung von Eintracht Braunschweig, das Vereinswappen durch den „Jägermeister-Hirsch“ zu ersetzen. Am 24. März 1973 lief die Braunschweiger Elf zum ersten Mal in dem „Hirschkopf Trikot“ in der Bundesliga auf und konnte so „legal“ werben. Indirekt wurde damit der DFB genötigt, im Oktober 1973 die Freigabe für Trikotsponsoring zu beschließen. Um einer genaueren Geschichtsschreibung Genüge zu tun, sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass der erste Verein, der mit einem Schriftzug auf seinem Trikot Werbung für ein Unternehmen zuließ, Wormatia Worms gewesen ist. Am 20. August 1967 spielte dessen Fußballmannschaft in einem Regionalligaspiel mit dem Schriftzug „CAT“ (für Caterpillar) auf dem Trikot, um die Finanznot zu meistern, in die der Verein geraten war.
Mit der Aufhebung des Werbeverbots durch den DFB begann der Siegeszug der Trikotwerbung im Fußball und in gewissem Sinne war dies auch der entscheidende Ausgangspunkt für das Sportsponsoring in Deutschland. Hertha BSC war es vorbehalten als erstes Team mit Werbung für die Spirituose „Campari“ in der Bundesliga aufzulaufen. Ihr folgten der MSV Duisburg mit dem Strickwarenhersteller „Brian Scott“, Fortuna Düsseldorf mit „Allkauf“ und der FC Bayern München mit „adidas“. Dem Bundesligafußball folgte die Eishockey- Bundesliga. 1978 wurde im Deutschen Eishockey Bund „Werbung am Mann“ erlaubt. Zuvor hatten schon einige Mannschaften beim Aufwärmen vor dem Spiel Trikots mit Sponsorenaufdruck getragen.
Diese deutsche Entwicklung kann auch in einem größeren historischen Zusammenhang betrachtet werden. Beim 11. Olympischen Kongress vom 20. September bis 3. Oktober 1981 in Baden-Baden wurden die Ausführungsbestimmungen zur Regel 26 in der Charta des IOC (die sog. Amateur-Regel) wesentlich geändert und damit den Entwicklungen im internationalen Leistungssport angepasst. Diese Regeländerung eröffnete unter anderem für den Einzelsportler bzw. für die Einzelsportlerin erstmals auch die Möglichkeit als Werbepartner der Wirtschaft aufzutreten – bis hin zur “ Werbung am Mann/Werbung an der Frau“. Diese neue Regelung verschaffte auch der Stiftung Deutsche Sporthilfe und auch dem damaligen DSB und den Sportverbänden neue „Einnahmequellen“.
Längst haben sich Athletinnen und Athleten, Spielerinnen und Spieler an einen „Werbesalat“ gewöhnt, der auf ihrer Sportkleidung abgebildet wird. Auch die Zuschauer müssen sich mittlerweile damit abfinden, dass, wann immer sie sich mit Sport in den Massenmedien unterhalten lassen wollen, sie gleichzeitig und kontinuierlich einer Schleichwerbung von Wirtschaftsunternehmen ausgesetzt sind, die auf diese Weise die Rezipienten der Sportsendungen zum Kauf ihrer Produkte animieren möchten.
Aus der Sicht von heute betrachtet, müsste angesichts der äußerst dynamischen Entwicklung, die die Werbung im Sport genommen hat, eigentlich schon längst die Frage gestellt werden, ob die Menschen d.h. die Athletinnen und Athleten, die Spielerinnen und Spieler in den Mannschaftssportarten auch ihre Bereitschaft bekundet haben, dass mit ihrem Körper bzw. auf ihrer Bekleidung Werbeinteressen verfolgt werden, auf die sie selbst keinen Einfluss haben. Es stellt sich somit auch die Frage nach der ethischen Akzeptanz der Schleichwerbung im Sport. Zwischen Sportorganisationen und den Athletinnen und Athleten gibt es mittlerweile viele vertragliche Konstellationen, da die sportlichen Wettkämpfe immer bedeutsamer wurden und mit vielen externen Interessen verbunden werden, die oft auch nur indirekt mit dem Wettkampf etwas zu tun haben. Athletenvereinbarungen bestehen mittlerweile für viele Bereiche, so zum Beispiel für die Durchführung von Dopingkontrollen, für die Einwilligung zu Schiedsgerichtsverfahren, für die Teilnahme bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen, für die Ausschüttung von Siegprämien etc. Es stellt sich für mich dabei die Frage, ob es in diesen Vereinbarungen explizit Paragraphen gibt, in denen die Athletinnen und Athleten ihr Einverständnis für die Werbung am Mann/an der Frau erklären und ob es Paragraphen gibt, in denen festgelegt ist, was geschieht, wenn ein Athlet oder eine Athletin gegen die vereinbarten Regeln verstößt.
Die Frage, welche Werbung im Sport erlaubt sein soll und welche zu verbieten ist, wird jedoch seit der Freigabe der Werbung am Mann immer wieder von neuem geführt und in ethischer Hinsicht scheint dabei kein Konsens in Sicht zu sein. Am häufigsten wurde die Frage eines Werbeverbots für Alkoholgetränke diskutiert. Mittlerweile ist Alkoholwerbung im Sport von Gesetzes wegen in Frankreich, Norwegen, Schweden, Portugal und Finnland verboten. In Deutschland gibt es lediglich ein Verbot für den Bereich des Jugendsports. In jüngster Zeit stand auch ein Verbot der Sportwerbung für Krankenkassen ganz oben auf der politischen Agenda des Gesundheitsministers. Bei der Fußball-Europameisterschaft, die erst vor wenigen Wochen zu Ende gegangen ist, gab es ebenfalls zwei Ereignisse, die den Diskurs über eine ethisch legitime Werbung im Hochleistungssport bereichert haben. Zwei der derzeit überragenden Ikonen des Weltfußballs machten mit spektakulären Handlungen auf einen ethischen Konflikt aufmerksam, den die UEFA und deren Werbepartner am liebsten verdrängt hätten. Cristiano Ronaldo entfernte bei einer Pressekonferenz ein Sponsoren- Getränk vom Podium. Nachdem er die vor ihm stehende Coca-Cola Flasche entfernt hatte, hielt er eine Wasserflasche hoch und rief mit dem Wort „aqua“ deutlich hörbar zum Wassertrinken auf. Ronaldo, der sich durch eine große Anzahl von hochdotierten Sponsorenverträgen auszeichnet, weist zum Getränkehersteller Coca-Cola keine Sponsoringbeziehung auf, hingegen ist Coca-Cola der offizielle Getränkesponsor der UEFA. Einen Tag später war es dem französischen Nationalspieler Paul Pogba vorbehalten, ebenfalls während einer Pressekonferenz eine Flasche der Brauerei Heineken zu entfernen, die vor ihm platziert worden war. Pogba ist praktizierender Moslem. Der Islam gebietet ihm auf Alkohol zu verzichten und für Pogba haben ganz offensichtlich die im Koran vorgegebenen Verhaltensregeln eine höhere Bedeutung als die Regeln, die zwischen der UEFA und der Firma Heineken vereinbart wurden. In beiden Fällen geht es um eine Werbeform, der man den Namen „product placement“ gegeben hat und die ebenfalls unter die Rubrik „Schleichwerbung“ einzuordnen ist, wie dies auch bei der Trikotwerbung der Fall ist.
Die jüngste Fußball EM hat gezeigt, dass man aber mit dem Fußballsport nicht nur für Wirtschaftsunternehmen werben kann. Eine Armbinde am Arm eines Torhüters der deutschen Nationalmannschaft, mit der die Farben des Regenbogens dargestellt wurden, muss als eine Werbeaktion für eine politische Überzeugung gedeutet werden. Im Fall des Torhüters Neuer sollte damit eine tolerante Haltung gegenüber sogenannten LSBTIQ-Menschen (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*, Inter*und Queer) zum Ausdruck gebracht werden. Für mich stellte sich dabei als erstes die Frage, ob Neuer ein glaubwürdiger Akteur für eine derartige politische Demonstration ist, wenn er selbst einer Vereinsmannschaft angehört, die seit Jahrzehnten enge Beziehungen zu Staaten aufweist, in denen Homosexualität verboten ist und mit inhumanen Strafen verfolgt wird. Wichtiger ist jedoch die Frage, ob solche politisch ausgerichteten Werbeaktionen in Verbindung mit Sportveranstaltungen von den Sportorganisationen zu erlauben sind und wer dabei entscheidet, ob eine Aktion angemessen und mit einer Ethik des Sports zu vereinbaren ist oder ob eine Aktion dagegen verstößt und deshalb verboten werden muss. Wäre Neuer mit einer Armbinde angetreten auf der ein nationalsozialistisches Symbol zur Darstellung gebracht wird, so wäre für uns alle hoffentlich die Entscheidung eines Verbotes naheliegend und zwingend gewesen. Doch welche Entscheidung wäre angemessen, wenn ein Spieler mit einem Federschmuck auf seinem Kopf auf die Diskriminierung der Ureinwohner in den Vereinigten Staaten aufmerksam machen möchte. Fragwürdig scheint für mich auch das Anliegen der Stadt München und des bayerischen Freistaates zu sein, die Münchner Allianz Arena mit den Farben des Regenbogens auszuleuchten, um beim Spiel Deutschland gegen Ungarn gegen Menschenrechtsverletzungen in Ungarn zu protestieren. Bei allen übrigen Spielen in der Münchner Allianz-Arena bemühte man sich nicht um eine Beleuchtung in Regenbogenfarben. Aus der Sicht der ungarischen Fußballnationalmannschaft wurde das bayrische Vorgehen meines Erachtens zu Recht als ein Verstoß gegen die Regeln des Fair Play bewertet.
Ein weiteres Beispiel für die Problematik der Werbung im Sport ist eher humorvoll, doch verweist es auf eine interessante weiterführende Fragestellung. Bei einem Vorbereitungsspiel der TG Donzdorf im Jahr 1974, die damals in der 2. Handball-Bundesliga spielte, betrat deren Mannschaft die Sporthalle von Uhingen mit einem Trainingsanzug mit der Aufschrift „Zieh mit – wähle Helmut Schmidt“. Für eine von der CDU seit Jahrzehnten dominierte Gemeinde Donzdorf war dies ein besonderer Eklat, zumal der Vorsitzende der TG Donzdorf ebenfalls der CDU angehörte. „Rädelsführer“ dieser Aktion war der ehemalige Nationalspieler Armin Eisele, der zu dieser Zeit als Mannschaftskapitän für die TG Donzdorf spielte. Gemäß der Statuten der TG Donzdorf war solch eine Aktion nicht verboten, und da die Politik(er)werbung nicht während des Spiels stattgefunden hat, gab es dafür auch innerhalb der Statuten des DHB keine Regeln gegen die diese Werbeaktion verstoßen hätte.
Mittlerweile wird jedoch sehr häufig in Werberichtlinien von Sportverbänden zwischen einer während des Wettkampfs erlaubten Werbung und einer Werbung, die lediglich beim Aufwärmen erlaubt ist, unterschieden. In den meisten neueren Werberichtlinien sind meist auch Paragraphen enthalten, dass Werbung nicht im Gegensatz zur satzungsgemäßen politischen und konfessionellen Neutralität des Sportverbandes stehen darf. Außerdem darf Werbung nicht gegen allgemeine, insbesondere im Sport gültige Grundsätze von Ethik und Moral verstoßen. Daneben wird in solchen Werberichtlinien meist sehr genau definiert, wo auf Kleidung und Sportgeräten der jeweiligen Sportart geworben werden darf. Der Deutsche Eishockey Bund zum Beispiel beschreibt in seinen „Richtlinien über Trikot-, Hosen- und Helmwerbung“ äußerst exakt wie viel von der jeweils zur Verfügung stehenden Fläche mit Werbung bedeckt sein darf, was auf dem Spielertrikot auf der Vorderseite und Rückseite auf Ärmeln und Schultern zulässig ist. Es ist auch festgelegt, welche Werbung auf der Hose und auf den Stutzen, auf Torwartfang-und Stockhandschuh sowie auf den Torwartschienen in welcher Größe erlaubt ist. Geworben werden darf mit Firmennamen, mit Geschäftsabzeichen, mit geometrischen Figuren und mit Warenzeichen und Dienstleistungsmarken. Werbesprüche, Schlagworte und Schlagwortzeile sind ebenfalls erlaubt. Ähnlich detailliert sind mittlerweile sämtliche Werberichtlinien der Olympischen Sportfachverbände und der verschiedenen Dachorganisationen des Sports.
Neben den Werberichtlinien wird vor allem über Athletenvereinbarungen und Athletenerklärungen in den Sportverbänden sehr detailliert festgelegt, welche Rechte und Pflichten die Athleten und Athletinnen haben und wie sich die Verbände ihre Vermarktungsrechte sichern. Meist findet dabei eine Abwägung zwischen den persönlichen Rechten der Athleten und den Rechten des Verbandes statt, die dieser benötigt, um seine Verbandsaufgaben zu erfüllen. In jüngster Zeit gelingt diese Abwägung der jeweils unterschiedlichen Interessen immer seltener. Dabei sind es vor allem solche Athleten und Athletinnen, die mit ihren herausragenden sportlichen Erfolgen über eine gute Möglichkeit zur Selbstvermarktung verfügen, die mit den bestehenden Athletenvereinbarungen nicht mehr zufrieden sind. Hingegen ist die große Mehrheit der Athleten und Athletinnen in den meisten Sportarten auf eine gelungene Vermarktung durch ihren Verband angewiesen, um zumindest über dessen Erlöse eine teilweise Erstattung ihrer Aufwendungen für Training, Wettkampfreisen und Wettkämpfe zu erhalten. Besonders zugespitzt hat sich dieser Konflikt im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen und deren Vermarktung. In der olympischen Charta wird über die Regel 50 ein für die internationalen Sportorganisationen bemerkenswertes und einmaliges Werbeverbot ausgesprochen, durch das die Olympischen Spiele sich als ein werbefreies Ereignis mit einem Alleinstellungsmerkmal auszeichnen können. Die Regel lautet im Wortlaut folgendermaßen:
„Es ist keinerlei Werbung, weder zu kommerziellen noch anderen Zwecken, auf Personen, Sportbekleidung, Zubehör oder im Allgemeinen, auf irgendwelchen Kleidungsstücken oder Ausrüstungsgegenständen, die von Wettkämpfern, Team-Funktionären, anderen Team- Mitarbeitern sowie allen anderen Teilnehmern der Olympischen Spiele getragen oder benutzt werden zulässig, außer zur Identifizierung – wie in Abs. 8 definiert – des Herstellers des betreffenden Artikels oder Ausrüstungsgegenstandes, vorausgesetzt dass eine solche Identifizierung nicht auffallend zu Werbezwecken gekennzeichnet ist“.
Das IOC möchte mit dieser Regel vermeiden, dass sich die Olympischen Spiele in einer unangemessenen Weise als kommerzielle Spiele darstellen. Deshalb sollen die Olympischen Sportstätten, einschließlich der Spielfelder, Siegerehrungen und der Sportuniformen und Ausrüstungsgegenstände von auffallender Werbung freigehalten werden. Man möchte damit aber auch vermeiden, dass Olympische Spiele als eine Plattform verwendet werden, bei der persönliche Interessen in den Vordergrund treten, die mit nicht zulässiger kommerzieller, politischer, religiöser oder rassistischer Werbung in einem Zusammenhang stehen. Auch möchte man dadurch vermeiden, dass die Olympischen Spiele in und auf den Sportstätten für politische Proteste, Demonstrationen oder für einseitig religiöse und ethnische Parteinahmen missbraucht werden.
In jüngster Zeit wurde eine äußerst aggressiv geführte Diskussion von einer Minderheit von Athleten und Athletinnen über den Sinn und Unsinn der Regel 50 in der olympischen Charta entfacht. Zwei Gründe für diese Situation sind dabei zu unterscheiden:
Der nach wie vor in vielen Ländern der Welt bestehende Rassismus gegenüber Schwarzen, bei dem sich vor allem die USA durch gravierende Menschenrechtsverletzungen auszeichnen, hat zu weltweiten Solidaritätsbekundungen mit der schwarzen Bevölkerung der USA geführt. Der Kniefall des amerikanischen Footballstars Colin de Kaepernick hat mittlerweile nahezu in allen olympischen und nichtolympischen Sportarten Nachahmer gefunden und immer mehr Athleten und Athletinnen fordern, dass man bei internationalen Sportereignissen und vor allem bei Olympischen Spielen als Athletin oder Athlet sein Engagement zu Gunsten von Menschenrechten mit symbolischen Gesten darstellen darf.
Der zweite Grund ist in den kommerziellen Interessen besonders erfolgreicher Athleten zu suchen. Über die Regel 50 sehen sie sich in ihren eigenen Werbeinteressen-und möglichkeiten eingeschränkt, und was die Einnahmen des IOC durch die Vermarktung der Olympischen Spiele betrifft, wird die Auffassung vertreten, dass die Athleten und Athletinnen an diesen Einnahmen nicht angemessen beteiligt seien und deshalb ein Recht auf eine bessere Beteiligung haben.
Über die Fakten des öffentlich zugänglichen Haushalts des IOC, d.h. über dessen Einnahmen und Ausgaben kann allerdings sehr schnell belegt werden, dass der zweite Grund, der zu einer Änderung der Regel 50 der Olympischen Charta führen soll, wohl kaum tragfähig ist. Das IOC schüttet 90 % seiner Einnahmen an die für das Fortbestehen der Olympischen Spiele wichtigsten Stakeholder aus. Hierzu gehören vor allem die Internationalen Sportfachverbände, die meist ohne die finanziellen Zuwendungen des IOC nicht existieren könnten. Aber auch die Nationalen Olympischen Komitees sind in ihrer großen Mehrheit von den finanziellen Zuwendungen des IOC abhängig. Außerdem finanziert das IOC mit seinem „Olympic Solidarity“-Programm Vorbereitungs- und Trainingsmaßnahmen in vielen Ländern der Dritten Welt und nicht zuletzt ermöglicht das IOC mit seinen Einnahmen ein qualitativ immer besser werdendes Anti-Dopingprogramm der „Welt-Anti- Dopingagentur“ (WADA). Die an das IOC herangetragenen Forderungen der Athleten müssten deshalb an ihre Internationalen Sportfachverbände und an ihre Nationalen Olympischen Komitees gerichtet werden, und es wäre zu prüfen, ob diese in angemessener Weise ihre Olympiamannschaftsmitglieder bei der Nutzung der vom IOC zur Verfügung gestellten Finanzen angemessen berücksichtigen.
Unter Beachtung der hier vorgetragenen Argumente ist meines Erachtens der zweite Grund für eine Änderung der Olympischen Charta kaum oder gar nicht relevant. Anders verhält es sich mit der ersten Begründung, dem Engagement gegen Rassismus, mit der eine Änderung der Charta gefordert wird. Hier wird wie in den oben angeführten Beispielen eine ethische Problematik des internationalen Sports aufgezeigt, für die es meines Erachtens noch keine befriedigende Lösung gibt. Die vielen neu gegründeten Ethikkommissionen der internationalen Sportorganisationen und der nationalen Sportverbände haben sich mit der Frage der politischen und religiösen Neutralität meist gar nicht oder nur sehr unzureichend auseinandergesetzt. Auch die Frage, über welche Rechte die Athleten und Athletinnen verfügen müssen, wenn mit ihrer Anwesenheit oder mit ihrem Körper selbst und deren Bekleidung Werbung gemacht wird, wurde meines Erachtens in der Vergangenheit nicht ausreichend klar beantwortet. Ist es rechtens, wenn ein Hochleistungssportler, der zu höchsten sportlichen Leistungen befähigt ist, von sportlichen Wettkämpfen ausgeschlossen werden darf, nur weil er möchte, dass sein Körper und seine Bekleidung von jeder Werbung, ganz gleich welcher Art, befreit sein sollte. Nach welchen Kriterien kann entschieden werden, ob eine symbolische Geste während eines Wettkampfes oder bei einer Siegerehrung eine politische oder eine unpolitische Inanspruchnahme des Sports darstellt. Muss ein Athlet bzw. eine Athletin bestraft werden, wenn er oder sie aus einer inneren Überzeugung heraus das „product-placement“ missachtet. Mir scheint es notwendig, dass die Liste solcher Fragen dringend erarbeitet und fortgeführt wird, und dass sich die Verantwortlichen in den Organisationen des Sports mit ihren Ethikkommissionen möglichst unter Beteiligung der Athletinnen und Athleten mit diesen Fragen beschäftigen. Dass diese Fragen nur als öffentlicher Eklat bei einer Fußballeuropameisterschaft oder bei anstehenden Olympischen Spielen der Sensationsgier der Massenmedien überlassen wird, kann ganz gewiss nicht akzeptiert werden. Die Persönlichkeitsrechte der Athletinnen und Athleten bedürfen in der Zukunft eines sehr viel intensiveren Schutzes als dies in der Vergangenheit der Fall war. Dies muss auch vor dem Hintergrund einer noch immer sich ins Maßlose steigernden Kommerzialisierung des Sports zwingend gefordert werden. Es legt uns dies aber auch die noch immer zunehmende Digitalisierung des modernen Sports nahe.
Letzte Bearbeitung: 22.Juli 2021