Es ist das Jahr 1980 und von der Bundesregierung wird die vom US- Präsidenten Jimmy Carter vertretene Auffassung unterstützt, dass das Nationale Olympische Komitee für Deutschland die bevorstehenden Olympischen Spiele in Moskau wegen des Einmarsches sowjetischer Truppen in Afghanistan zu boykottieren hat. In der dafür eigens einberufenen Mitgliederversammlung des NOK für Deutschland, die am 15. Mai 1980 in Düsseldorf stattfand, findet sich eine 59:40 Mehrheit für diesen Boykott, was dazu führte, dass unsere bestens vorbereitete Olympia-Mannschaft an den Spielen in Moskau nicht teilnehmen durfte. Zuvor hatte sich bereits am 9. Mai bei einer Präsidiumsitzung des NOKs in Frankfurt eine Mehrheit für den Boykott ausgesprochen. Vor der Abstimmung in Düsseldorf hatte der damalige Präsident des Deutschen Schwimmverbands, Harm Beyer, eine namentliche offene Abstimmung verlangt, was jedoch abgelehnt wurde. Somit konnte die „stille Mehrheit“ der Boykottbefürworter anonym bleiben.
Wie dennoch bekannt wurde stimmten aus der Gruppe der Olympischen Sommersportverbände Fechten, Fußball, Hockey, Judo, Kanu, Moderner Fünfkampf, Radsport, Reiten, Schützen, Segeln, Turnen, Volleyball für die Boykott- Empfehlung des Präsidiums. Gegen diese Empfehlung stimmten Basketball, Boxen, Eissport, Gewichtheben, Handball, Leichtathletik, Ringen, Rudern, und Schwimmen. In einigen Verbänden fand vorher eine Anhörung der nominierten Olympiaathleten statt. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Beispiel der Fechter: Von 21 Aktiven sprachen sich 19 für eine Teilnahme aus, dennoch stimmte die damalige Führung des Deutschen Fechterbundes für einen Boykott.
Gegen den Boykott hatten sich in der Aussprache auch mehrere Mitglieder des NOKs ausgesprochen, so u.a. die IOC-Mitglieder Willi Daume und Berthold Beitz, DLV Präsident August Kirsch, der damalige Vorsitzende des BAL, Heinz Fallak, und aus der Gruppe der persönlichen Mitglieder Willi Bogner, Hans Lenk, Horst Meyer, Rosie Mittermaier und Siegfried Perrey. Vor allem war auch Thomas Bach gegen einen Boykott, der zu diesem Zeitpunkt noch Sprecher der Athleten gewesen ist. Gemeinsam mit Thomas Wessinghage und Eberhard Gienger hatte er zuvor eine „Resolution pro Olympia“ ausgearbeitet, die am 21. April 1980 bei einer Veranstaltung vor 4000 Besuchern in der Dortmunder Westfalenhalle verkündet wurde. Die Veranstaltung hatte den Titel „Olympia lebt!“. In der Frankfurter NOK- Sondersitzung hatte Thomas Bach kein Stimmrecht. Deshalb benötigte er vor seiner Rede die Zustimmung der Mitgliederversammlung, die ihm gewährt wurde.
Seine damalige kurze Ansprache ist meines Erachtens vor allem deshalb erinnerungswürdig, weil er in seinem letzten Satz die anwesenden Stimmberechtigten daran erinnert, dass wer auch immer ein gewähltes Mitglied in einem Führungsgremium eines deutschen Sportfachverbands ist, er zunächst und vor allem ein Mandatsträger des Sports und nur des Sports zu sein hat und dabei sich immer auch als ein Mandatsträger der aktiven Sportler und Sportlerinnen zu verstehen hat.
Über genau dieses besondere Mandat muss gesprochen werden, wenn wir das fragwürdige Handeln von Verantwortlichen im deutschen Sport in den vergangenen Jahren und jetzt im Zusammenhang mit der Frage der Teilnahme sog. „neutraler Athleten“ an den bevorstehenden Olympischen Spielen in Paris 2024 in den Blick nehmen.
Schon in der Zeit der Corona- Pandemie wurde es deutlich, dass ein großer Teil der für den deutschen Sport in ihren Organisationen Verantwortlichen ganz offensichtlich nicht weiß, welche Interessen sie als Mandatsträger zu vertreten haben, welche Interventionen gegenüber der staatlichen Politik man von Ihnen erwarten muss, wenn die Interessen des Sports von der Politik nur unzureichend oder gar nicht zur Kenntnis genommen werden und welche Formen des organisierten Protests zu ergreifen sind, wenn die Politik die Interessen des Sports mit Füßen tritt. Der damalige, während der Corona- Pandemie verantwortliche DOSB- Präsident, Alfons Hörmann, folgte dabei kritiklos der „Linie“ der Bundesregierung und seines Parteifreundes, des Bundesministers des Innern für Bau und Heimat, Horst Seehofer, und die meisten Landesverbandspräsidenten und Präsidenten der Spitzenfachverbände erwiesen sich als devote und obrigkeitsergebene Personen, die ihre tatsächliche oder angebliche finanzielle Abhängigkeit zu den staatlichen Entscheidungsträgern als Entschuldigung für ihr durch Schweigen und Anpassung geprägtes Handeln vorschoben.
Die vom DOSB und fast allen seinen Mitgliedsverbänden eingenommene Position in Bezug auf eine Teilnahme „neutraler Athletinnen und Athleten mit russischem oder belarussischem Pass“ hat gezeigt, dass die große Mehrheit der gewählten Mandatsträger in den Sportorganisationen ganz offensichtlich die juristischen und ideellen „Grundlagendokumente“ nicht kennen und vermutlich diese auch nicht einmal gelesen haben, was für eine verantwortungsvolle Erfüllung ihres Mandats jedoch zwingend erforderlich wäre. Hierzu zählen mindestens das „Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“, in dem die Autonomie der sportpolitischen Entscheidungsbefugnisse gegenüber möglichen staatlichen Interventionen und das Subsidiaritätsprinzip im Verhältnis zwischen Sport und Staat definiert sind. Dies gilt auch für die „Olympische Charta“, in der die Prinzipien des modernen Olympismus in codifizierter Weise vorliegen, wodurch klare Regeln und Prinzipien für die Nationalen Olympischen Komitees und für die Olympischen Fachverbände vorgegeben sind. Teilweise gilt dies auch für die eigenen Satzungen der jeweiligen Sportorganisationen, in denen ebenfalls die sportpolitische Unabhängigkeit der Organisation und deren Führungsgremien und das Prinzip der Nicht- Diskriminierung festgeschrieben sind. Das Prinzip der Nicht- Diskriminierung bezieht sich dabei auf das Verbot einer Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion, der Weltanschauung, der Behinderung, des Alters und der sexuellen Ausrichtung. Dieses Verbot wurde sowohl von den Mitgliedstaaten der UN als auch der Europäischen Union einstimmig beschlossen.
Dieses Diskriminierungsverbot hat seine Gültigkeit nicht nur auf der Grundlage eines dezidiert darauf ausgerichteten Gesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Es gilt für alle Mitgliedsländer der EU und für alle Länder der Welt, die die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen unterschrieben haben. Dieses Verbot ist aber auch in der Olympischen Charta festgeschrieben und die nationalen Olympischen Komitees und die Olympischen Sportfachverbände haben sich verpflichtet, auf der Grundlage der Olympischen Charta dieses Diskriminierungsverbot zu befolgen und zu beachten.
- Wenn nun die Führung des Deutschen Olympischen Sportbunds und die Führungsgremien wichtiger deutscher Olympischer Sportfachverbände beabsichtigen, russische Athleten allein wegen ihrer Staatsangehörigkeit von olympischen Spielen auszuschließen, so ist dies ein klarer Verstoß gegen das bestehende Diskriminierungsverbot.
- Wenn ein hessischer Innenminister mehrfach die Sportorganisationen auffordert, dass sie dafür eintreten sollen, dass die Olympische Charta dahingehend zu ändern ist, dass eine Nation, die einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führt, grundsätzlich von laufenden und zukünftigen Olympischen Spiele auszuschließen ist, so ist dieser Vorschlag nicht nur als populistischer Vorschlag ein Ärgernis, weil der Politiker aus gutem Grund die Antwort auf die Frage schuldig bleibt, wer darüber zu entscheiden hat, ob ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg vorliegt. Er verkennt dabei vermutlich auch, dass in diesen Tagen nicht nur der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und der barbarische Terrorakt der Hamas gegen unschuldige israelische Bürger und in dessen Folge viele unschuldige Opfer in Gaza zu beklagen ist, sondern es gleichzeitig auf dieser Welt noch viele völkerrechtswidrige Angriffskriege gibt und dies, gemäß seiner Empfehlung, zum Ausschluss sehr vieler Nationen von den Olympischen Spielen führen müsste. Man müsste vermutlich diesen Innenminister auch fragen, ob er den Ausschluss der USA ebenfalls begrüßen würde, die ja in der Vergangenheit mehrfach völkerrechtswidrige Angriffskriege geführt haben, so wie z.B. 2003 gegen den Irak wegen des angeblichen Besitzes von Massenvernichtungswaffen, die dann aber nie gefunden wurden und denen teilweise unterstellt wird, dass sie dies auch heute noch tun. Doch all diese Fragen wurden in Erwiderung auf den Vorschlag des hessischen Ministers von den Verantwortlichen des deutschen Sports nicht gestellt und schon gar nicht hat man sich dagegen verwahrt, dass man seine „Vorschläge“ und seine Kritik am IOC-Präsidenten Bach als einen inakzeptablen Eingriff in die Autonomie des Sports verstehen muss.
- Wenn eine stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Berliner Partei „Bündnis90/Die Grünen“ und Sprecherin für Sportpolitik dem „Tagesspiegel“ ein Interview gibt und dabei fordert, dass das „Gaming“ als Sport anzuerkennen ist und dass sie schockiert sei, dass die derzeitige Regierung Berlins sich möglicherweise für die Austragung der Olympischen Spiele im Jahr 2036 in Berlin bemühe, so müssten bei den Mandatsträgern des deutschen Sports, die in diesen Tagen eine Olympia Bewerbung planen, die Alarmglocken läuten, denn immerhin regiert die Partei „Bündnid90/Die Grünen“ in der derzeitigen Drei-Parteien-Bundesregierung mit und ist an der Spitze von zwei Ministerien, dem Außen- und dem Wirtschaftsministerium. Gerade deren Unterstützung bei einer deutschen Olympia- Bewerbung wäre zwingend erforderlich. In ihrem Interview machte die Politikerin noch einige weitere bemerkenswerte Ausführungen: „Es ist total absurd zum 100-jährigen Jubiläum der Nazi Spiele 1936 auch nur darüber nachzudenken, sich als Berlin zu bewerben“. Ferner führte sie aus, dass man „15 Jahre benötigen würde, um eine Infrastruktur aufzubauen“ und ohnehin der größte Feind des olympischen Gedankens das IOC selbst sei. „Finanziell profitiert von solchen Events nur das Olympische Komitee – nicht die Länder, die sie austragen. Die Vergabekriterien sind so strikt, dass am Ende das Komitee entscheidet wie die Sportstätten auszusehen haben und welche noch gebaut werden müssen… Das Problem ist, das IOC hat die Rechte an allen Logos und am Merchandise. Der Bäcker neben an ist nicht dazu befugt, die olympischen Ringe auf dem Brötchen abzubilden. Auch die Profite aus den Fernsehübertragungen gehen zu 100 % ans Komitee. Erst muss sich das IOC vom Kopf auf die Füße stellen, dann können wir über eine Bewerbung nachdenken.… Doch innerhalb von zehn Jahren reformiert sich so ein korrupter Tanker nicht.“ Liest man das zwei Seiten umfassende Interview dieser Repräsentantin der Partei „Bündnis90/Die Grünen“, die eine der derzeit amtierenden drei Regierungsparteien stellt, so kann man sich wohl als erstes die Frage stellen, warum ausgerechnet das IOC seine Olympischen Spiele in ein Land vergeben soll, in dem Repräsentanten einer Regierungspartei das IOC beleidigen und einen Unsinn über die Regeln und Strukturen verbreiten, die angeblich bei der Durchführung von Olympischen Spielen gelten sollen. Die Antworten und Ausführungen der Politikerin sind Belege für eine geradezu erschütternde Unkenntnis der aktuellen Regularien des Weltsports und für nicht vorhandenes Wissen. Sie zeugen aber auch für politische Dummheit, Unverschämtheit und Polemik, die sich wohl kaum noch übertreffen lassen.
Die wichtigere Frage, die sich stellt, ist jedoch jene nach den Reaktionen der Verantwortlichen in den Gremien des deutschen Sports auf ein derartiges Interview. Die DOSB-Initiative „Deine Ideen. Deine Spiele“ hat in den sozialen Medien mit einer Stellungnahme reagiert und auf einige Unkorrektheiten hingewiesen, so u.a. dass das IOC aus seinen Einnahmen die zukünftigen Organisatoren der Spiele finanziell unterstützt (Paris erhält vom IOC 1,7 Milliarden €), dass das IOC die Bewerbungskosten erheblich gesenkt hat, dass bei einer deutschen Bewerbung keine neuen Sportstätten gebaut werden müssen und dass es bei der genannten Summe von 16 Milliarden als Kosten für die Spiele um eine fiktive Zahl handelt, die völlig aus der Luft gegriffen ist. In einem diplomatisch gut gemeinten Sinne wird in der Stellungnahme darauf hingewiesen, dass aus der Sicht des DOSB ansonsten die Politikerin von „Bündnis90/Die Grünen“ sehr gute Ansätze hat, wenn sie sich für die Sanierung der Schul- und Breitensportstätten einsetzt.
Dass das IOC seine Einnahmen nahezu vollständig an seine 206 Nationalen Olympischen Mitgliedskomitees und an sämtliche Olympische Fachverbände ausschüttet und neben dem hohen Ausrichterzuschuss noch viele soziale Projekte finanziert, dass das IOC eine Reform- „Agenda 2020“ und „2020 +5“ unter der Führung von IOC Präsident Bach umgesetzt hat und derzeit noch umsetzt und was die Inhalte dieser Reform sind, all dies wird allerdings in der Stellungnahme des DOSB nicht erwähnt. Auch auf die „Gaming“- Forderung wird nicht eingegangen. Man muss sich deshalb fragen, ob dies die einzige Form des Protests der deutschen Sportverbände war oder ob es nicht notwendig wäre, dass man gegenüber der Führung der Bundespartei „Bündnis90/Die Grünen“ interveniert und protestiert und die Bundesregierung, einschließlich des Kanzlers, darauf hinweist, dass bei einer Fortsetzung einer derartig polemischen IOC- Kritik eine geplante Bewerbung des DOSB für zukünftige Olympische Spiele ganz gewiss keinen Erfolg haben wird.
Gleiches gilt für mehrere Äußerungen der Bundesministerin des Inneren, die diese in den vergangenen Monaten über das IOC und zu einer möglichen Teilnahme „neutraler Athleten“ an Olympischen Spielen gemacht hat. Für sie gibt es keinerlei Gründe für eine Rückkehr russischer Athleten in den Weltsport und sie drohte sogar mit einem Einreiseverbot für russische Athletinnen und Athleten bei Qualifikationswettkämpfen für die Spiele 2024 in Paris, sollten diese in Deutschland stattfinden. Dem IOC- Präsidenten wirft sie vor, mit der von ihm angestrebten Teilnahme „neutraler Athleten mit russischem oder belarussischem Pass“ Diktator Putin eine Propagandaplattform zu bieten.
Auch diesbezüglich müsste man eigentlich erwarten, dass die Verantwortlichen im DOSB und in den deutschen Olympischen Fachverbänden der Ministerin in aller Entschiedenheit widersprechen und sie darauf hinweisen, dass sie in ihren öffentlichen Äußerungen vorurteilsbefangen über Beschlüsse und Vorgaben des IOCs spricht, die es bis heute so nie gegeben hat. Doch auch bei dieser Missachtung des Gebots der sportpolitischen Autonomie und einer dringend erwünschten parteipolitischen Neutralität sind Proteste aus dem Kreis der deutschen Sportorganisationen nahezu völlig ausgeblieben.
Kommen wir zurück zu der auch aus heutiger Sicht sehr bewegenden Rede des damaligen Athletensprechers Thomas Bach im Jahr 1980, so scheint es angebracht zu sein, dass man noch einmal seine letzten Sätze in Erinnerung ruft:
„Für Sie, meine Damen und Herren, möchte ich für Ihre Entscheidung ans Herz legen, daß Sie, wenn Sie ihre Stimme abgeben, auch daran denken, daß Sie Mandatsträger im Sport sind und allein Mandatsträger des Sports und damit auch Mandatsträger von uns Sportlern“.
Angesichts des Versagens der Sportpolitik während der Corona- Pandemie und angesichts der in diesen Tagen weitverbreiteten Feigheit, Interventionen der staatlichen Politik zu Belangen einer autonomen Sportpolitik abzuwehren, möchte man gerne noch einen Satz hinzufügen:
Zum Mandat der gewählten Repräsentanten des deutschen Olympischen Sports gehört auch, dass sie ihre eigene Satzung kennen und befolgen, dass sie um die Bedeutung der Olympischen Charta und des modernen Olympismus Bescheid wissen und dass sie das „Solidaritätsgebot“(communiter), wie es im erweiterten Olympischen Motto zum Ausdruck gebracht wird, in ihrer täglichen sportpolitischen Arbeit in den Gremien des deutschen Olympischen Sports berücksichtigen und beachten.
¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.
Letzte Bearbeitung: 19.11. 2023