Warum der beste Sportler und die beste Sportlerin des Jahres nicht zu finden sind

Für die Welt des Sports ist es eine ihrer grundlegenden Ideen, in allen Sportarten den oder die jeweils Beste zu ermitteln. Gesucht wird der Sportler des Jahres, der Fußballer des Jahres und der Leichtathlet des Jahres. In manchen Sportarten sucht man auch den Sportler des Jahrhunderts. Inzwischen haben auch einige Sportarten eine „Hall of Fame“ eingerichtet und auch hier sollen nur die Besten einen Platz in der Ahnenkultur einer Sportart erhalten. Betreiben beide Geschlechter eine Sportart, so gibt es eine weibliche und männliche Variante der Suche und wird die Sportart als Mannschaftssport betrieben, so ist die Suche nach der Mannschaft des Jahres folgerichtig.

In den Wettkämpfen der verschiedenen Sportarten findet man die jeweils Besten auf der Grundlage kodifizierter Regeln. Diese geben die Rahmenbedingungen vor, wie ein Sieger in einem Handballspiel, der Beste in einem 100m-Lauf oder in einem Schießwettbewerb ermittelt werden muss. Grundlegend für die niedergelegten Regeln der jeweiligen Sportarten ist das Prinzip des Fair Play, denn die besten Leistungen sollen auf ehrliche und faire Weise erbracht werden. Nicht Betrüger sollen die Besten sein, sondern jene sollen ausgezeichnet werden, die sich an einem chancengerechten Wettkampf dank ihrer persönlichen Leistungen als Beste erwiesen haben.

Für die „Wahlwettkämpfe“ im Sport gibt es aus gutem Grund nur selten kodifizierte Regeln. Meist werden lediglich einige Prinzipien vorgegeben, an denen sich jene auszurichten haben, die ihre Stimme abgeben, um die Sportlerin und den Sportler oder die Fußballerin und den Fußballer des Jahres zu küren. Für die Sportlerinnen und Sportler stellt sich bei diesen wettkampfähnlichen Auseinandersetzungen dennoch die Frage, ob dabei das für den Sport so wichtige Prinzip des Fair Play angemessen beachtet wird und ob Athletinnen und Athleten gleiche Chancen haben, die außergewöhnliche Würde eines Sportlers des Jahres zu erreichen. In einer Welt des Spitzensports, die von einer Dreiecksbeziehung der Massenmedien, der Wirtschaft und der Zuschauer geprägt wird und in deren Zentrum die ökonomischen Interessen des Sports stehen, geht es bei diesen Wahlen ja ohne Zweifel nicht nur um Ruhm, sondern in erheblicher Weise auch um den Marktwert von Athleten und aus nahe liegenden Gründenwird jede dieser Wahlen aus Promotions- und Kommunikationsinteressen durchgeführt, die von der Logik von Investition und Rendite geleitet sind.

In der Welt des Sports gibt es nicht zuletzt deshalb viele Sportlerehrungen, bei denen die Wahlentscheidungen unter Manipulationsverdacht stehen. Bei so mancher internationalen Sportorganisation werden nur solche Athleten und Athletinnen mit besonderen Ehrenzeichen ausgelobt, wenn deren Anwesenheit bei der entsprechenden Gala garantiert wird und fast immer werden nicht die Kriterien offengelegt, die zur Wahl bestimmter Athleten geführt haben.

Betrachtet man aus dieser Sicht die zunehmend inflationär durchgeführten Ehrungen und nimmt man die in diesem Zusammenhang immer häufiger geäußerte Kritik der Athletinnen und Athleten zur Kenntnis, so scheinen erhebliche Zweifel berechtigt zu sein, ob bei diesen Bühnenwettbewerben des olympischen Sports das Prinzip des Fair Play ausreichend beachtet wird.

In einer Sportart wie der Leichtathletik ist es äußerst unwahrscheinlich, dass ein Hammerwerfer, so erfolgreich er auch sein mag, Leichtathlet des Jahres werden kann. Bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen kann er jeweils immer nur eine Goldmedaille gewinnen, hingegen ist es für Sprinter möglich, dass sie von einem Großereignis mit drei Goldmedaillen nach Hause reisen, so wie dies in den letzten Jahren für Usain Bolt nahezu eine Selbstverständlichkeit war. Stellen sich ein erfolgreicher Sprinter und ein erfolgreicher Werfer zur Wahl, so ist es nahezu selbstverständlich, dass, ganz gleich wie sich die Jury zusammensetzt, die Entscheidung auf den Sprinter fällt. Wäre es deshalb nicht fairer, man würde auf die Wahl eines Leichtathleten des Jahres verzichten und an dessen Stelle den Werfer des Jahres, den Springer des Jahres und den Läufer des Jahres ausloben. Haben Torhüter bei der Wahl zum Fußballer des Jahres vergleichbar gute Möglichkeiten den höchsten Titel zu erreichen, wie beispielsweise jene Stürmer, die sich durch viele Torschüsse auszeichnen? Welche Chance hat ein Verteidiger, will er zum Fußballer des Jahres gekürt werden? Wäre hier eine Differenzierung nach Abwehr, Angriff und Torwart nicht möglicherweise ebenfalls eine fairere Lösung?

Sind die Spitzenleistungen bei den olympischen Winterspielen von Pjöngjang mit den herausragenden Leistungen im Sommersport desselben Jahres zu vergleichen? Ist ein Staffelsieg im Schwimmen eine vergleichbare Leistung wie ein Sieg einer Volleyballmannschaft? Solche und ähnliche Fragen werden in die Diskussion eingebracht. Meist möchte man dabei sehr gerne seine eigenen erfolgreichen Athleten weit vorne platziert sehen. Andere Sportarten werden hingegen sehr schnell in polemischer Weise in Frage gestellt. Fechten wird dabei als „Stangenboxen“ bezeichnet. Beim Viererbob fragt man nach der olympischen Leistung jener Athleten, die zwischen Pilot und Bremser sitzen und in der neuen olympischen Winterdisziplin Aerial sieht man ein Plagiat des Wasserspringens. Profisportler werden besonders skeptisch beurteilt, auch dann, wenn alle übrigen längst keine Amateure mehr sind. Den Fußballprofis wird dabei die größte Skepsis entgegengebracht.

Beobachtet man diese Diskussionen mit einer gewissen Distanz, so kann man erkennen, dass es in der Welt des Hochleistungssports in der Tat äußerst schwierig geworden ist, Gütemaßstäbe zu finden, mit denen sich herausragende Leistungen von weniger herausragenden Leistungen unterscheiden lassen. Mit der Inflation der Sportarten, Wettbewerbe und Meisterschaften und mit der Vervielfältigung der Disziplinen innerhalb der Sportarten ist die Möglichkeit immer mehr verloren gegangen, die wirklich herausragenden Leistungen zu kennzeichnen.

Es ist nachzuvollziehen und verständlich, warum von einer Jury eine mehrfach wiederholte Spitzenleistung besondere Beachtung erhält. Hat ein Sieger zum vierten Mal in Serie die Formel-1 gewonnen, so wird der vierte Sieg höher bewertet als der dritte. Die Wahrscheinlichkeit ist somit gegeben, dass er mit der Wiederholung seiner Leistung erneut zum Athleten des Jahres gewählt wird, wenn er dies bereits im Jahr zuvor mit einer nahezu gleichen aber doch nicht ganz vergleichbaren Leistung erreicht hat. Doch auch hier stellt sich die Frage, ob sich die Möglichkeit zum wiederholten Sieg in allen Sportarten in gleicher Weise stellt. Vergleicht man die Sportarten unter diesem Gesichtspunkt, so erkennt man sehr schnell, dass es einige Sportarten gibt, in denen der Mehrfachsieg höchst unwahrscheinlich ist, andere hingegen eröffnen den Athleten die Möglichkeit über Jahre hinweg die Weltspitze zu behaupten.

Will ein Athlet in die „Hall of Fame“ der Leichtathleten aufgenommen werden, so muss er verschiedene Bedingungen erfüllen. Seine Karriere muss mindestens zehn Jahre beendet sein, er muss mindestens zwei Goldmedaillen gewonnen haben und er sollte in seiner Disziplin einen Weltrekord aufgestellt haben. Damit ist ohne Zweifel eine anspruchsvolle Hürde aufgebaut, so dass die „Hall of Fame“ der Leichtathletik angesichts ihrer 47 Einzeldisziplinen nicht zu schnell übervölkert sein wird. Die Frage, die sich jedoch stellt, ist, ob diese Hürden auf faire Weise konstruiert sind. Sprinter können sie mit einer einzigen Weltmeisterschaft oder mit einer einmaligen Teilnahme an Olympischen Spielen überwinden, ein Hochspringer hingegen muss mindestens bei zwei Großveranstaltungen erfolgreich gewesen sein. In fast allen Disziplinen war es zu früheren Zeiten eher möglich, Weltrekorde zu überbieten, als dies heute der Fall ist. Einige Weltrekorde bestehen bereits über ein Jahrzehnt und deuten darauf hin, dass die Leistungsentwicklung in dieser Disziplin an eine Grenze gelangt ist. In anderen Disziplinen scheint die Grenze noch in weiter Ferne zu sein. Auch scheinen manche Weltrekorde deshalb unerreichbar, weil die Vermutung im Raum steht, dass sie mit medikamentöser Manipulation erreicht wurden.

Hat man bei der Bewertung ein ganzes Jahrhundert im Blick, so stellt man fest, dass es offensichtlich sehr große Schwierigkeiten bereitet, frühere mit heutigen Leistungen zu vergleichen. Jahrhundertereignisse und Jahrhundertleistungen scheinen dabei immer die jüngsten zu sein, weil man damit einem Spektakel einen herausragenden Status geben kann. Ob das jüngste Ereignis tatsächlich bedeutsamer ist als das frühere Ereignis entzieht sich jeder Bewertung.

Den aufgezeigten Beispielen könnten noch viele hinzugefügt werden. Sie alle machen deutlich, dass sich ohne Zweifel die Frage nach dem Fair Play bei den Ehrungswettkämpfen des Sports stellt und dass die immer häufiger vorgetragene Kritik der Athletinnen und Athleten an den Auswahlprinzipien dieser Ehrungen berechtigt ist. Nicht zuletzt unter Marketinggesichtspunkten ist es deshalb wichtig, dass jene, die für diese Athletenwettbewerbe verantwortlich zeichnen, ständig bemüht sind, die Geschäftsbedingungen dieser Wettbewerbe mit Blick auf das Prinzip des Fair Play zu verbessern und eine kompetente Jury zu gewährleisten, die sich der Bedeutung des Fair Plays bewusst ist.

Die Diskussionen über die Ehrung von Sportlern und Sportlerinnen verweist auf ein generelles Problem. Es zeigt sich uns im Umfeld der Olympischen Spiele, es findet sich innerhalb der Sportarten und es betrifft im weitesten Sinne das Prinzip Leistung, das für den Hochleistungssport kennzeichnend und bestimmend sein sollte. Aus gutem Grund wurden bei der Entwicklung der modernen Olympischen Spiele Regeln definiert, mit Hilfe derer entschieden werden kann, wann eine Sportart olympisch sein darf. Die globale Verbreitung einer Sportart war dabei gewiss die wichtigste Voraussetzung. Doch längst sind auch diese Regeln unglaubwürdig geworden. Sportarten werden in jüngster Zeit olympisch, weil man sie als besonders „jugendlich“ einschätzt. Andere Sportarten genügen besonders den Interessen des Fernsehens. Auch die Frage der Vermarktung einer Sportart spielt eine Rolle. Das wohl verlässlichste Kriterium zur Bestimmung sportlicher Leistung, das Vorhandensein einer quantitativ und qualitativ definierten Leistungspyramide, wurde längst nahezu außer Kraft gesetzt. In der einen Sportart geht man als Olympiasieger aus einem Wettbewerb hervor an dem sich mehr als 200 Nationen beteiligt haben. In der anderen olympischen Disziplin sind es kaum mehr als 30 Länder, die an ihrem Wettbewerb teilnehmen. Quotierungssysteme haben dazu geführt, dass auch bei olympischen Wettbewerben, so z.B. bei den Olympischen Jungendspielen, von Mannschaften Medaillen gewonnen werden, die sich bei Kontinentalentscheidungen auf einem anderen Kontinent nicht einmal hätten qualifizieren können.

Betrachten wir die Profile der sportlichen Spitzenleistungen in den verschiedenen Sportarten, so müssen wir erkennen, dass auch dort erhebliche Unterschiede existieren. Ein Spieler einer olympischen Handballnationalmannschaft muss sich durch eine Leistungsfähigkeit auszeichnen, die höchste Komplexität aufweist. Kognitive Höchstleistungen sind hier ebenso erforderlich wie Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, körperliche Fitness und vieles mehr. Hingegen gibt es andere Sportarten, bei denen lediglich die Ausdauer über Sieg und Niederlage entscheidet. Taktik, Raffinesse und Strategie haben eher nach geordnete Bedeutung. In anderen ist monoton auf Kraft zu setzen.

Das Erbringen sportlicher Höchstleistungen befindet sich nicht selten aber auch in schwierigen Abhängigkeitsverhältnissen, die vom jeweiligen Spitzenathleten nur bedingt zu beeinflussen sind. Spielt er z. B. im Doppelfinale eines olympischen Tennisturniers, so kann seine Leistung herausragend sein und dennoch reicht es nicht zum Sieg, weil sein Partner keine vergleichbare Leistungen aufzuweisen hat. Sportliche Spitzenleistungen sind in der Regel aber auch von vielfältigen Formen der Betreuung abhängig. Technologien und Materialien, bereitgestellt von Experten, können Erfolge möglich machen, sie können sie aber auch verhindern. Auch Trainerentscheidungen können Erfolge ermöglichen, sie können sie aber auch unwahrscheinlich werden lassen. Der Einfluss des Coaching auf die sportliche Spitzenleistung in den Individualsportarten wird wohl von allen gesehen. Welches Ausmaß und welche Rolle das Coaching für die sportliche Höchstleistung hat, ist bislang jedoch weitestgehend unerforscht.

Der verständliche Wunsch, das scheinen diese Beispiele nahezulegen, dass sportliche Höchstleistungen gerecht zu beurteilen sind, scheint in der heutigen Zeit unerfüllbar zu sein. Kommen bei der Beurteilung sportlicher Spitzenleistungen dann noch weitere Kriterien hinzu, wie z.B. die Persönlichkeit des Athleten, dessen Vorbildcharakter, sein Fairplay-Verhalten, wie man sich dies für die Wahl eines Sportler des Jahren wünschen muss, so ist zu erkennen, dass die vielfältigen subjektiven Kriterien, an denen sich z.B. eine Fachjournalistenjury orientiert, wenn sie den Sportler, die Sportlerin und die Mannschaft des Jahren wählen, vermutlich die gerechtesten sind und dennoch diese Wahl von vielen zurecht als nicht gerecht empfunden wird. Ist dies der Fall, so kann man sich nur wünschen, dass die Diskussionen über die jährlich stattfindenden Sportlerehrungen nicht allzu ernst genommen werden. Sind Sportlerwahlen ein gesellschaftliches Ereignis, das den Interessen der Spitzensportler gerecht wird, so haben sie einen Wert an sich. Wenn es dabei gelingt, immer wieder schöne sportliche Leistungen ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu rücken, ohne andere dabei zu beschädigen, so kann man sich auch zukünftig auf die fragwürdige Kompetenz der nationalen und internationalen Juryexperten verlassen.