Turner und Radler in Zeiten der Corona-Pandemie

Für das, was wir jeden Montagabend in einer Sporthalle in Marquartstein im Chiemgau tun, gab und gibt es viele Namen. Früher hätte man es Leibesübungen, Gymnastik oder Turnen genannt. Heute heißt es an manchen Orten Seniorensport oder Fitnesstraining. Oft mehr als fünfzehn Rentner und Pensionäre, meist älter als 70 Jahre, laufen im Kreis, machen Dehn-, Streck-und Beweglichkeitsübungen, üben auf der Matte. Kniebeugen und Liegestützen gehören ebenso dazu wie ein einbeiniges Springen und Hüpfen. Die Übungen dienen der Beweglichkeit, der Kraft und der Geschicklichkeit. Auch ein klein wenig der Ausdauer. Mancher kommt dabei ins Schwitzen. Nach 70 Minuten intensiver Belastung freut man sich auf die Dusche und vor allem auf die „dritte Halbzeit“ im Gasthof „Hofwirt“.  Ein Weizenbier und eine Brotzeit sind die wohlverdiente Belohnung für das harte Trainieren und Üben.

Wenn das Wetter es zulässt treffen sich diese Turner auch einmal oder zweimal in der Woche zum gemeinsamen Radfahren. Mit ihren E- Mountainbikes geht es hinauf auf die Chiemgauer Berge zu den schönsten Almen Deutschlands. Jedes Mal werden ihnen dabei Natur -und Bergerlebnisse eröffnet, für die man die Radler nur beneiden kann.

Vor einem Jahr, Mitte März, war alles plötzlich ganz anders. Der Turnabend wurde aufgrund einer Corona–Verordnung der Bayrischen Landesregierung verboten, das gemeinsame Fahrradfahren in größeren Gruppen war nicht mehr erlaubt. Ein gesellschaftspolitischer Lockdown war angesagt und der ersten Corona-Welle folgte eine zweite und seit wenigen Monaten eine dritte. Über ein Jahr befinden sich somit die Turner und Radler aus Unterwössen und Marquartstein im „sportlichen Entzug“ und nicht wenige von ihnen erleben sich schon über ein Jahr lang in einer „selbst auferlegten Quarantäne“ in ihren Wohnungen und Häusern mit Gärten, die sie nur noch ganz selten verlassen haben.

In diesen Tagen hat sich mir die Frage gestellt wie meine Radler – und Turnerfreunde das erst vor kurzem zu Ende gegangene erste Jahr der Pandemie erlebt haben. In mehreren Telefonaten habe ich deshalb mit meinen Turnern und Radlern einen Gedankenaustausch gesucht und sie mit Fragen konfrontiert, die einen Einblick in ihre Erfahrungen mit der Corona – Pandemie ermöglichen.

Auf die Frage, was sie seit Beginn der Pandemie bis heute am meisten vermissen, gab es nahezu eine einhellige Antwort: Die Geselligkeit mit anderen, das gemeinsame Sporttreiben und die gemeinsamen Radtouren wurden am meisten vermisst. Die Schafkopfspieler vermissen das gemeinsame Spiel. Das Spiel mit dem Computer war hierbei ein völlig unzureichender Ersatz.

Ansonsten hat meine Gruppe von Seniorensportlern das vergangene Jahr mit wenigen Ausnahmen eher positiv erlebt. Dies hat mich überrascht. Viele haben ganz offensichtlich mehr Zeit für die Familie gefunden vor allem waren die Enkelkinder sehr wichtig. Einige sind allein oder zu zweit gewandert und einige haben interessante Bergtouren erlebt. Die Ruhe im eigenen Haus oder in der eigenen Wohnung, in der Nachbarschaft und im ganzen Dorf haben die meisten eher als wohltuend empfunden. Das Familienleben hat sich somit für die meisten Senioren kaum verändert. Im Gegenteil: die Erfahrungen und Erlebnisse mit der Familie waren intensiver. Allerdings war und ist für jene Senioren, die allein leben, die Schließung der Gaststätten, der Almen und der Biergärten ein großes Problem. „Essen to go“ war für manchen eine völlig neue Erfahrung.

Nur wenige haben beobachtet, dass sie mittlerweile öfter zu viel essen. Doch von einer grundlegenden Veränderung ihres Ernährungsverhaltens kann nicht gesprochen werden. Die meisten legten auch Wert darauf, dass sich ihr Alkoholkonsum nicht erhöht hat und dass sie ihr Körpergewicht möglichst auf dem Niveau vor der Pandemie halten konnten. Das Problem der Gefahr des Übergewichts wird dennoch von einigen beklagt. Überraschend gut haben die meisten auch ihren Fitnesszustand erhalten können. Diejenigen, die zuvor bereits sehr viel auf ihre körperliche Beweglichkeit und einen guten Gesundheitszustand geachtet haben, haben dies auch während der Pandemie getan. Von ihnen werden nur kleine Einschränkungen und eine geringfügige Reduktion der Fitness   beklagt. Sie haben jedoch bereits heute wieder sehr gute Vorsätze für die nächste Zukunft.  Die bewegungslose Zeit hat die gesundheitlichen und körperlichen Risiken vor allem bei jenen erhöht, die auch bereits vor der Pandemie zu viel Gewicht und nur eine begrenzte Beweglichkeit und Belastbarkeit aufwiesen. Ein Schlaganfall muss dabei beklagt werden.  Einige berichten über zu hohen Blutdruck und einer hat einen Sturz auf einer Treppe zu beklagen. Alle gemeinsam haben beobachtet, dass ohne ein regelmäßiges Sporttreiben sehr schnell die allgemeine Beweglichkeit und Geschicklichkeit, ja ihre gesamte Mobilität abzunehmen droht.

Aus einer prinzipiellen Perspektive betrachtet haben die Senioren die Pandemie nur ganz selten als eine schwere Belastung empfunden. Sie haben eher Mitgefühl mit den jungen Menschen, denen in dem vergangenen Jahr viele Möglichkeiten genommen wurden, über die man selbst, als man im selben Alter war, wie selbstverständlich verfügen konnte. Die befragten Senioren waren und sind dabei überaus kritische Beobachter der aktuellen Entwicklungen und unserer gesellschaftlichen Situation.

Einige äußern sich kritisch über die ständig wechselnden Meinungen von wissenschaftlichen Corona-Experten und über ihren fragwürdigen Einfluss auf unser Verhalten. Viele ihrer empfohlenen Maßnahmen haben sich als nicht schlüssig erwiesen, und die Kontrolle der ergriffenen Maßnahmen war meist unzureichend. Irritierend waren vor allem die vielen unterschiedlichen Meinungen der Wissenschaftler. Einige Senioren beklagen, dass man sich eigentlich nie ein eigenes Bild machen konnte. Andere hätten sich gewünscht, dass man den Wissenschaftlern mehr Entscheidungsbefugnisse gegeben hätte. Beklagt wurde, dass mancher Wissenschaftler auch an Fremdinteressen gebunden war, die eigentlich nicht zur Wissenschaft gehören.

Die große Mehrheit der befragten Senioren ist enttäuscht von der Politik. Vor allem die mit der Corona-pandemie verbundenen Korruptionsfälle werden angeprangert, wobei viele bei ihren Antworten hinzufügen, dass man auch vor der Pandemie bereits gegenüber der Politik und den politischen Parteien eher skeptisch   gewesen ist. Insgesamt hat sich jedoch die Einstellung der Befragten gegenüber der Politik eher zum Negativen verändert. Es wird von einem „Chaoshaufen“ gesprochen, der uns regiert. Manche Politiker werden namentlich als große Enttäuschung benannt. Beklagt wird auch, dass die Corona-Pandemie zum Wahlkampfthema verkommen ist. Die Coronapolitik kann in ihrer föderalen Vielfalt von niemandem mehr durchschaut werden. Die Entscheidungen zu den Kindergärten und Schulen, die einem ständigen Wechsel unterliegen, werden ebenso beklagt. Diesbezüglich haben einige auch Zweifel am föderalistischen System der Bundesrepublik.

Am meisten haben sich die Radler und Turner über die Corona-Verordnungen geärgert, durch die das Turnen in der Turnhalle und das Radfahren im Freien für über ein Jahr verboten wurde. Diese Entscheidungen wurden von keinem der Senioren verstanden. Sie sehen sich im Gegenteil eher dadurch bestätigt, dass in jüngster Zeit Aerosol – Wissenschaftler darauf hingewiesen haben, dass sich über 90 % der Infektionen in geschlossenen Räumen ereignen und die Ansteckungsgefahr im Freien äußerst gering ist. Das Totalverbot des Skifahrens wird dabei als besonderes Ärgernis erwähnt.  Auch die Grenzschließungen gegenüber Tirol haben das Wandern und Tourengehen erheblich beeinträchtigt.

Generell hat das Verbot bewirkt, dass sich die Radler und Turner untereinander über ein Jahr lang so gut wie nicht getroffen haben. Obwohl kein Ausgehverbot bestanden hat, haben die Senioren selbst beim Einkaufen in den Supermärkten in den beiden Dörfern nur ganz selten andere Radler oder Turner getroffen. Diese Radler und Turner wohnen in Dörfern, in denen eigentlich jeder jeden kennt und dennoch ist man über ein ganzes Jahr hinweg so gut wie niemand außerhalb des eigenen Hauses begegnet. Die Coronagefahren wurden von allen Befragten sehr ernst genommen und man hat sich deshalb auch allen staatlichen Verordnungen mit Einsicht gebeugt. Lediglich die Schließung der Gastronomie und der Ferienwohnungen war für manchen nicht einsichtig. Gleiches gilt für die Maßnahmen gegen das gemeinsame Sporttreiben. Das Golfspielverbot oder das lange Verbot des Tennisspielens konnte kaum mit der Einsicht der Senioren rechnen.

Bei einer Frage gab es bei den Senioren eine Antwort, die bei allen übereinstimmt: Die Berichterstattung über die Corona-Pandemie im Fernsehen haben sie als eher verwirrend und als ein einziges Ärgernis erlebt. Die meisten haben einfach aufgehört, sich dieser Berichte und Sondersendungen auszusetzen: „Immer dasselbe“, „die drehen sich nur im Kreis“, “immer die gleichen Leute, die sich nach vorne drängen“, „Die Talk – Shows sind unerträglich“, “kein echtes Pro und Contra“. Als hilfreich hat diese Berichterstattung zumindest in der Gruppe der befragten Senioren niemand empfunden.

Der Ausgangspunkt der hier vorgelegten kleinen Studie lag in der neugierigen Frage, wie meine eigenen Seniorensportgruppen das vergangene Jahr der Corona-Pandemie erlebt haben und welche Erfahrungen sie dabei gemacht haben. Die Antwort kann man auf einen Nenner bringen: Die Unterwössener und Marquartsteiner Seniorensportler haben die Krise sehr gut gemeistert. Corona-Leugner sind unter ihnen ganz gewiss keine anzutreffen. Sie haben wohl auch manche Ungereimtheit geduldig ertragen und sie hoffen auf eine baldige Normalität. Sie sind vor allem aber auch dankbar, dass sie mit den sie umgebenden Chiemgauer Alpen und dem Chiemgau in einer Naturlandschaft leben, die einem Paradies gleichkommt.

Mittlerweile sind fast alle Senioren mindestens einmal, die meisten sogar bereits zum zweiten Mal geimpft. Sie hoffen nun alle, dass bald das gemeinsame Turnen und die gemeinsamen Radtouren wieder erlaubt werden. Sonderrechte werden von Ihnen nicht nachgefragt. Vielmehr möchten Sie vor allem in der freien Natur sich gemeinsam mit Freunden aktiv bewegen, zum schönen Erlebnis der Geselligkeit zurückfinden und damit vor allem einen aktiven Beitrag zu ihrem eigenen Wohlbefinden und zu ihrer eigenen Gesundheit leisten. Ihr eigenes Immunsystem wird Ihnen dafür dankbar sein. Man kann dabei nur hoffen, dass die Politik endlich versteht, welche bedeutsame Funktion das aktive sich bewegen, das Sport treiben, die Geselligkeit und die Freude an der Natur für ein intaktes Gesundheitssystem haben kann.

Verfasst: 15.04.2021