Stockschießen – das besondere Gemeinschaftserlebnis

Um ehrlich zu sein, ich habe mich wohl in meinem Beruf als Sportwissenschaftler über mehr als 50 Jahre mit der gesamten Vielfalt des Sports auseinandergesetzt, doch von der Sportart „Stockschießen“ hatte ich bis vor wenigen Wochen so gut wie gar keine Ahnung. Ich sah wohl in manchem Dorf im Chiemgau eine Asphaltbahn, die als die geeignete Sportstätte für das Stockschießen gilt. Meist befindet sich neben diesen Bahnen ein Biergarten mit einer Gaststätte, und so habe ich das Stockschießen eher als eine Bereicherung des bayerischen Alpenkolorits betrachtet. Meine bayerischen Mountainbikefreunde aus Marquartstein haben jedoch immer wieder von der Schönheit dieser Sportart geschwärmt und sie haben immer wieder die Einladung an mich herangetragen, dienstagabends auch beim Stockschießen teilzunehmen, um die Schönheit dieser Sportart kennenzulernen. Vor drei Wochen war es dann soweit. Der Trainer der Stockschützen-Abteilung des TSV Marquartstein stellte mir einen Stock zur Verfügung und führte mich mit wenigen Hinweisen in eine für mich völlig neue Sportwelt ein. Auch die Freunde aus meiner Mountainbikegruppe gaben mir hilfreiche Tipps. Eine ganze Stunde übte ich alleine und musste erkennen, dass es keineswegs einfach ist, den Stock über eine längere Distanz gleiten zu lassen und dass es bei mir eher Zufall war, wenn ich einmal in die Nähe des Ziels, der sog. „Daube“ gekommen bin. Doch bereits nach 1 Stunde des Übens musste ich bei einem Mannschaftswettbewerb mitmachen. Dabei wurden mehrere Partien gespielt und vor Beginn der einzelnen Wettbewerbe wurden die Mannschaften über eine spezielle Übung ausgewählt. Jeder Teilnehmer musste seinen Stock mit dem Fuß in die Mitte eines Kreises schieben und über die Lage der verschiedenen Stöcke wurden die Mannschaften festgelegt. Jede Mannschaft, der ich dabei zugeteilt wurde, musste mit dem Schicksal leben, dass ihre Siegchancen durch meine Mannschaftszugehörigkeit erheblich gemindert wurden. Die finanzielle Belastung meiner Niederlagen war jedoch nicht sehr hoch. Am Ende der Wettkämpfe hatte ich gerade einmal einen Euro verloren. Mich hatte das ständige auf und ab und das Schießen des Stockes durchaus etwas angestrengt und so habe ich mich bereits vor Spielende auf die „dritte Halbzeit“ gefreut, die dann unmittelbar danach im Biergarten neben der Stockschützenbahn stattfinden sollte. Ein Weißbier und eine gute Brotzeit waren für mich die gerechte Belohnung für meine ersten Gehversuche im Stockschießen.

Meine erste Begegnung mit dem Stockschießen machte mich neugierig. Am nächsten Morgen setzte ich mich an meinen Computer und gab das Wort „Stockschießen“ ein und wurde sofort mit einem interessanten Wikipedia-Beitrag konfrontiert. Meine nächste Suche widmete ich dem Deutschen Eisstock-Verband, um dann zu erkennen, dass es auch einen Internationalen Verband (IFI) gibt, der in diesen Tagen eine besondere Form der internationalen Anerkennung feiern darf. Denn das IOC hat das Stockschießen offiziell als olympische Sportart anerkannt und es besteht somit die Möglichkeit, dass das Stockschießen zukünftig auch bei Olympischen Spielen stattfinden kann. Ich musste auch lernen, dass das Stockschießen bereits 1936 und 1964 bei den Olympischen Spielen von Garmisch-Partenkirchen bzw. Innsbruck als Vorführwettbewerb ausgetragen wurde. Ein großer Kenner des Sports machte mich auf eine weitere Quelle aufmerksam. In der „Geschichte des Sports aller Völker und Zeiten“ von G. A. E. Bogeng aus dem Jahr 1926 konnte ich erfahren, dass das Curling der Gegensatz zu dem bäuerlichen Eischießen war, das vorwiegend in Bayern gespielt wurde. Curling war das vornehme schottische Spiel und ist es noch bis auf den heutigen Tag geblieben. In schweizerischen Wintersportplätzen spielt es eine große Rolle. Königliche englische Curlingvereine-und Verbände haben es gepflegt und englische Adelige und Diplomaten hatten das Spiel in die Schweiz gebracht. 1924 gab es bereits 483 Clubs in Schottland, 22 in England, sieben in Neuseeland, vier in den Vereinigten Staaten und 59 Clubs in Kanada.

Weiterer Verwandte des Stockschießens sind das „Bosseln“ und das so genannte „Klootschießen“. Sie wurden anfangs vor allem von Fischern in den Küstengebieten gespielt.

Mein Interesse und damit auch meine Neugierde an der Sportart des „Stockschiessens“ waren damit geweckt und ich glaube, dass es vor dem Hintergrund meiner eigenen Erfahrung ein wichtiges Anliegen sein könnte, die Sportart noch etwas genauer vorzustellen.

Das Stockschießen, vor allem als „Eisstocksport“ kann auf eine Jahrhunderte alte Tradition verweisen. Schon in einem der schönsten Bilder aus dem Jahr 1565 von Peter Breughel kann man Eisstockschützen auf den zugefrorenen Grachten in den Niederlanden sehen. Heute ist das Stockschießen vor allem im Alpenraum beheimatet. Doch wird mittlerweile Stockschießen auf allen Kontinenten betrieben. Der Internationale Eisstockverband weist mehr als 40 Nationen als seine Mitglieder aus. Die ersten Europameisterschaften fanden 1951 in Garmisch-Partenkirchen statt und die ersten Weltmeisterschaften wurden 1983 in Frankfurt a.M. durchgeführt. Im Winter wird auf Kunsteisanlagen mit (künstlich aufgerauten) „Riefeneis“ oder auf Natureis gespielt. Im Sommer bilden Asphalt, Betonpflaster, Hartstoffestrich oder thermoplastische Kunststoffbahnen die Sportstätte für diese Sportart. Das Sportgerät besteht aus dem Stockkörper, verschiedenen Laufsohlen und dem Stiel. Die Stockkörper wiegen zwischen 2,73 kg (Schülerstock) und 3,83 kg und sind je nach Gewicht mit einem Kennbuchstaben versehen, welcher sichtbar am Stock angebracht sein muss (Typ: M, L, P oder E). Im Seniorenbereich werden die Typen M und L geschossen. M ist der schwerste Stock E ist der leichteste. Auf Eis sind die Laufsohlen aus Gummi und auf den Sommersportböden aus Kunststoff. Je weicher die Mischung des Materials desto strenger verhält sich die Laufsohle beim Gleiten über den Asphalt, d.h., der Stock kommt bei gleichem Krafteinsatz eher zum Stehen. Die Laufsohlen gibt es in unterschiedlichen Härtegraden („Shores“ genannt). Diesen unterschiedlichen Härtegraden sind entsprechende Farben zugeordnet. Am meisten Kraft benötigt der Spieler für die besonders weiche lila Laufsohle. Die Abstufung verläuft dann über blau, gelb, orange, grau, schwarz, grün und weiß. Im Sommer gibt es noch eine leichte rote Laufsohle mit einem besonderen Profil.

Die Wettbewerbe im Stocksport werden als Mannschaftsspiel, Zieleinzelwettbewerb und Weitenwettbewerb durchgeführt. Beim Mannschaftsspiel versuchen zwei Vierermannschaften die Stöcke von einer Standvorrichtung möglichst nahe an die Daube zu schießen. Die Daube ist ein bewegliches Ziel aus Gummi (Durchmesser 12 cm, Höhe 4,5 cm). Das Spielfeld ist 28 m lang und 3 m breit. Auf beiden Seiten ist eine Abschussstelle und ein Zielfeld von 6 m x 3 m, in der Mitte ist das Daubenkreuz markiert. Jedes Spiel besteht aus sechs Durchgängen, den sogenannten „Kehren“. Gewinner ist, wer die meisten Stockpunkte erzielt. Dabei zählt der erste Stock, der der Daube näher ist als der beste des Gegners drei Punkte, jeder weitere zwei Punkte. Eine „Kehre“ bringt somit im Höchstfall 3 + 2 + 2 + 2=9 Stockpunkte. Wenn das Augenmaß nicht ausreicht, um über die beste Lage der Stöcke zu entscheiden, muss das Bandmaß entscheiden.  Für ein gewonnenes Spiel gibt es zwei Punkte, für ein Unentschieden einen Punkt für jede Mannschaft.

Beim Zieleinzelwettbewerb werden vier Durchgänge mit unterschiedlichen Aufgaben gespielt. Bei den Durchgängen eins und drei wird auf fünf Zielringe gespielt, die auf der Spielfläche markiert sind sind.  Im zweiten Durchgang müssen Zielstöcke aus markierten Kreisen herausgeschossen werden. Beim vierten Durchgang wird ebenfalls auf Zielstöcke in markierten Kreisen gespielt. Die Aufgabe besteht jedoch darin, dass der Stock des Spielers abgelenkt wird und auf den Zielringen zum Stehen kommt. Bei jedem Durchgang können maximal 60 Punkte erzielt werden.

Spielfeld

Der Weitenwettbewerb benötigt sehr lange Bahnen und wird in erster Linie auf Eisbahnen ausgetragen. Je nach Beschaffenheit von Laufsohle und Eis können weiten von über 500 m erzielt werden. Der derzeitige Weltrekord liegt bei 566 m.

Zahlen und Fakten:

Der Deutsche Eisstock-Verband wurde 1920 gegründet. Er ging aus dem bayerischen Eisstockverband hervor der bereits 1914 die ersten Eisstockmeisterschaften durchführte. Vor dieser Zeit wurden vor allem in Tirol das so genannte „Prä (Preis)-Eisschießen“ durchgeführt. Im Jahr 2020 wies der Deutsche Verband 26000 Mitglieder auf. In diesem Jahr wurde der Stocksport in 1189 Vereinen in Deutschland gespielt. Von den Mitgliedern ist die große Mehrheit männlich, die Mädchen und Frauen erreichen einen Anteil von circa 14 % der Mitglieder. Es besteht deshalb noch ein gewisser Nachholbedarf in Bezug auf die weiblichen Mitglieder des Verbands. Der DESV ist jedoch innerhalb der Wintersportverbände einer der größten und er weist auch mehr Mitglieder auf als mancher olympische Fachverband. So liegt er in der Mitgliederstatistik des DOSB vor den Fachverbänden des Fechtens und des Gewichthebens, aber auch vor dem des Deutschen Rugby Verbands und vor dem Deutschen Curling Verband.

Die Stockschützen haben längst die Zeichen der Zeit erkannt. Vor allem die Eisstockschützen sind schon seit länger Zeit vom Problem des Klimawandels betroffen. “Like Ice“ lautet dabei die Formel mit der die Eisstockschützen auf eine gute Zukunft hoffen. „Like Ice“ ist der Full-Service Sportdienstleister des Internationalen und des deutschen Stockschützen Verbandes. Er stellt den Vereinen über ein Mietkaufmodell ganzjährig Spielflächen zur Verfügung. Die Anschaffungskosten für eine neue „Like Ice“ Wettkampffläche von 4m x 30 m belaufen sich dabei auf 26.280 €.

Der deutsche Stockschützenverband gehört zu den erfolgreichsten Verbänden innerhalb des Internationalen Stockschützenverbandes. Deutsche Stockschützen haben mehrfach Welt-und Europameistertitel errungen, und längst hat dieser Sport auch immer öfter ein internationales Interesse bei Mädchen und Frauen gefunden. Der Verband hat seine eigenen Wettkampfstrukturen aufgebaut. In den drei Altersklassen der Jugendlichen gibt es Deutsche Meisterschaften ebenso wie bei den Erwachsenen. Bundestrainer betreuen die Nationalmannschaften und internationale Wettkämpfe stehen im Blickpunkt des Interesses.

Der Stocksport ist ganz ohne Zweifel ein Präzisionssport, bei dem die Hand-Auge-Koordination und ein besonderes „Gefühl“ für die Dosierung der eigenen Wurfkraft eine wichtige Rolle spielen. Doch er ist aber vor allem auch ein Freizeitsport für Jugendliche gleichermaßen wie für Senioren, in dem das Gemeinschaftserlebnis und die Geselligkeit im Mittelpunkt stehen. In der frischen Luft ausgeübt, trägt er zum Wohlbefinden aller teilnehmenden Spieler und Spielerinnen teil. Ich habe den Sport des Stockschießens vor allem als einen besonderen Mannschaftssport wahrgenommen, an dem nahezu jeder Mann und jede Frau ohne besondere Voraussetzungen teilnehmen kann. Es gibt große und kleine Spieler und Spielerinnen, eher kräftige, auch etwas übergewichtige, und daneben ganz schlanke Spieler und Spielerinnen. Alle haben ihre Freude beim Spiel, es wird viel gelacht. Die Freude ist immer auch gepaart mit etwas Schadenfreude, wenn man einen gut positionierten Stock in eine aussichtslose Lage manövriert. Die Größe der wetteifernden Mannschaften ist überschaubar, so dass auch während des Spiels jeder mit jedem kommunizieren und sich in der Planung der Strategie für die nächsten „Kehren“ beteiligen kann. Siegen und Verlieren haben nahezu einen selbstverständlichen Charakter und Erfolgserlebnisse gibt es für jeden. Gelegentliche Frustrationen gehören freilich ebenso dazu. Alles wird aber spätestens aufgewogen durch die gemütliche Runde nach dem Spiel. Es wird dabei eine Sportkameradschaft gelebt, wie man sie heute nur noch ganz selten in den verschiedenen Leistungssportarten antreffen kann. Ich bin auf jeden Fall dankbar, dass mich meine Mountainbikefreunde zum Stockschießen überredet haben. Ich werde nun sehr gerne meine Dienstagabende einem für mich völlig neuen Sport widmen.

Letzte Bearbeitung: 16.07.2021