Als in Babylon ein Turm gebaut wurde, so lehrt es uns die Geschichte, ist es zu einer verheerenden Sprachverwirrung gekommen, die letzten Endes zum Scheitern des gesamten Bauvorhabens geführt hat. In den Zeiten einer Corona Pandemie, wie wir sie derzeit erleben, scheinen ähnliche Gefahren zu bestehen. Ein bayrischer Landesvater spricht in diesen Tagen und seit einigen Monaten mit seinen Bürgerinnen und Bürgerrinnen nicht in der erwartbaren bayerischen Muttersprache. Er bedient sich bei seinen oft mehrmals täglichen Stellungnahmen vor Fernsehkameras, bei Pressekonferenzen, im Hörfunk oder in sozialen Medien eines Sprachstils, den man nicht nur aus der Sicht eines Germanisten als ärgerlich bezeichnen muss. Wie viele andere Politiker spricht er von einem „Lockdown“, manchmal aber auch von einem „Shutdown“, er fordert ein „Social Distancing“, warnt vor „Supersprayern“ und verlangt von seinen Bürgerinnen und Bürgern, dass sie die „AHA-Regeln“ einhalten. Nachdem diese nicht mehr ausreichen, wird von einer AHA+L+C-Regel gesprochen: Abstand, Hygiene, Alltagsmaske, Lüftung und „Corona-Warn-App“ werden nun empfohlen. Es gibt aber auch einen „Shutdown Light“, „Hotspots“, einen „r-Wert“, die „Verdoppelungszeit“ und „Inzidenzien“. Es gibt einen „PCR-Test“, „Antigen- und einen „Antikörper-Test“, „Alltagsmasken“, „FFP1,2,3-Masken“ (FFP steht dabei für Englisch „Filtering face piece“ und PCR für Englisch „polymerase chain reaction“). Besonders bedrohlich ist es, wenn von der „Übersterblichkeit“ gesprochen wird. Ein „Ampelsystem“ sollte u.a. Abhilfe schaffen, das mit seinen drei Farben rot, gelb und grün jedem Bürger und jeder Bürgerin aus dem Verkehrssystem ihres Landes bekannt ist. Doch plötzlich hatte die Ampel vier Farben, und man musste sich daran gewöhnen, dass die Farbe Orange die gefährlichste Farbe im Warnsystem während einer Corona Pandemie ist. In jüngster Zeit wird auch noch eine „3C Umgebung“ unterschieden: „closed spaces; crowd; close contact with conversation“. Die letzte Formel soll auf Gefahren verweisen, die in geschlossenen Räumen bei zu vielen Menschen und zu engem Kontakt und bei zu lauten Gesprächen bestehen kann. Ein wichtiger Begriff in der Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern spielt auch der Begriff der „Systemrelevanz“. Auf diesen Begriff soll im Folgenden etwas genauer eingegangen werden. Dies ist mit der Hoffnung verbunden, dass die Massenmedien und die verantwortlichen Politiker bei der Verwendung dieses Begriffs einen Ausweg aus ihrer selbst erzeugten babylonischen Sprachverwirrung finden.
Es fällt auf, dass die Kommunikation über die Corona- Pandemie von vielen Fremdwörtern, Fachbegriffen und Anglismen geprägt wird. Dabei wird nicht gefragt, wer und wie diese Worte von den Bürgerinnen und Bürgern verstanden werden und ob diese Art von Kommunikation Anleitung für das erwünschte Handeln der Bürger und Bürgerinnen sein kann. Kommt noch hinzu, dass von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Regeln gelten, unterschiedliche Strafen wirksam sind und die Verbote nahezu wöchentlich wechseln, so darf es nicht wundern, dass sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger von dieser Art von Kommunikation über die Corona Pandemie verärgert abwenden und ihren eigenen Weg in der Corona Pandemie gehen.
Im Kampf gegen die Corona Pandemie ist die Frage, welches Handeln von den Bürgerinnen und den Bürgern erwartet werden muss, damit die tödliche Gefahr des Coronavirus abgewendet werden kann, von zentraler Bedeutung. Diese Frage ist verknüpft mit den Geboten und Verboten, die während der Pandemie von den Parlamenten und Regierungen der Bundesländer, von der Bundesregierung und dem deutschen Parlament in Berlin ausgesprochen werden. Im Mittelpunkt muss dabei die Frage stehen, was für unsere Gesellschaft in Deutschland relevant, was irrelevant ist, welche Berufe bedeutsam und welche weniger bedeutsam sind, wenn es um die Abwehr der Gefahren durch eine Corona-Pandemie zu gehen hat.
Die Frage was das Wort „systemrelevant“ bedeutet, scheint deshalb für eine konsequente Strategie gegen das Coronavirus von zentraler Bedeutung zu sein. Stellt man diese Frage, so muss zunächst überraschen, dass auch diesbezüglich über die Frage der Systemrelevanz die Bundesländer ihre je eigenen Antworten geben dürfen. Dies gilt vor allem bei der Festlegung der so genannten „systemrelevanten Berufe“.
Hinter all diesen Begriffen und Worten steht die Vorstellung von unserer Gesellschaft, die sich als ein „System“ darstellt. Unsere Gesellschaft lässt sich dabei in verschiedene Teilsysteme gliedern. Ein Wirtschaftssystem kann von einem Bildungs- und Religionssystem unterschieden werden. Es wird in der Soziologie auch ein Wissenschafts-, Rechts- und Politiksystem unterschieden. Auch Gesundheit, Kunst und Sport können als primäre Subsysteme unseres Gesellschaftssystems bezeichnet werden. In einer Theorie sozialer Systeme spielen die Funktionssysteme der Gesellschaft eine wichtige Rolle. Jedes Funktionssystem zeichnet sich durch einen binären Code aus, so z.B. das Wissenschaftssystem („wahr/unwahr“), das Gesundheitssystem („krank/gesund“), oder das Rechtssystem („Recht/Unrecht“). Die Bedeutung eines Funktionssystems liegt in Bezug auf ein Problem der Gesellschaft, also nicht im Selbstbezug oder in der Selbsterhaltung des Funktionssystems. Jedes Funktionssystem besitzt eine legitime Perspektive innerhalb der Gesellschaft. Der Code gilt als Spezifikation der Funktion. Binäre Codes sind Unterscheidungen, mit denen das System die eigenen Operationen beobachtet und erkennt, welche Operationen zu seiner eigenen Reproduktion beitragen und welche nicht. Die jeweiligen Funktionssysteme einer Gesellschaft sind mit den anderen Funktionssystemen strukturell gekoppelt. Das Politik- und Wirtschaftssystem weist eine Koppelung über Steuern und Abgaben auf. Das Rechtssystem ist zum Politiksystem über die Verfassung miteinander verkoppelt. Die Universität ist eine Institution, die auf die Verkoppelung von Wissenschaft und Erziehung verweist, und Erziehungssystem und Wirtschaftssystem zeigen sich uns über die Zeugnisse, Diplome und Creditpoints des Erziehungssystems verkoppelt. Das Sportsystem weist eine Verkopplung mit dem Erziehungssystem, dem Gesundheitssystem und mit dem Wirtschaftssystem auf.
Wenn nun in diesen Tagen von Systemrelevanz die Rede ist, so findet dabei vor allem das Gesundheitssystem eine besondere Beachtung. Die anderen Funktionssysteme werden eher nachgeordnet betrachtet. Allenfalls werden Sorgen über das Wirtschafts- und das Erziehungssystem geäußert. Das Kunstsystem und das Sportsystem spielen in der aktuellen Coronapolitik so gut wie keine Rolle. Sie werden lediglich im Zusammenhang mit Verboten erwähnt, oder der Berufssport wird im Sinne von „Brot und Spiele“ eingesetzt. Der Staat begünstigt dabei einen künstlich inszenierten Fernsehsport, um die Bürgerinnen und Bürger zu Hause an ihre Bildschirme zu bannen, um auf diese Weise die Kontakte zu anderen Menschen zu reduzieren.
Die besondere Gewichtung des Gesundheitssystems in einer lebensbedrohlichen Corona-Pandemie kann und muss auch von einem Funktionssystem wie dem des Sports akzeptiert werden. Die Frage, die sich jedoch stellt ist jene, von welchem Gesundheitssystem die Rede ist, wenn die politisch Verantwortlichen während der Pandemie unser Gesundheitssystem schützen möchten, und wenn Gefahren von den Bürgerinnen und Bürgern unserer Gesellschaft abgewendet werden sollen. Meines Erachtens sollte dabei die Weltgesundheitsorganisation WHO das zentralste Bezugssystem für alle gesundheitspolitischen Entscheidungen darstellen. Will man die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger schützen, so muss man sich eines Begriffs von Gesundheit und Krankheit versichern, der für uns alle tragbar ist. Fragen wir die WHO, so gibt es eine klare Antwort. Die WHO definiert nicht den Begriff der Krankheit, sondern den Begriff der Gesundheit und versteht darunter einen „Zustand des umfassenden körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“ und nicht lediglich das Freisein von Krankheit und Schwäche. So steht es in der Präambel der Verfassung der WHO und es kann deshalb auch kaum überraschen, dass die WHO Empfehlungen gibt, wie man während der Pandemie seine Gesundheit am besten schützt. Die WHO empfiehlt 150 Minuten moderater Bewegung oder 75 Minuten intensive Bewegung pro Woche. Ihrer Auffassung nach kann regelmäßiges Sporttreiben das menschliche Immunsystem stärken. Sie bietet deshalb beispielhafte Übungen zur körperlichen Aktivität während der Zeit einer Selbstquarantäne an. Sie warnt vor einem Bewegungsmangel, der sich negativ auf Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität der Menschen auswirken wird. Nach Auffassung der WHO ist die aktive sportliche Selbstbetätigung, das gymnastische Üben, das Laufen und Gehen ein wichtiges Instrument im Kampf gegen das Coronavirus. In einer gemeinsamen Erklärung haben die WHO und dass IOC diese Auffassung noch einmal mit Nachdruck vertreten: Regelmäßiges Sporttreiben kann das Immunsystem des Menschen stärken und eine mögliche Hilfe zur Abwehr des Coronavirus sein. Das aktive Sporttreiben ist während der Corona-Pandemie keine Gefahr für das Gesundheitssystem und es leistet viel mehr einen konstruktiven Beitrag zur Lösung des Problems.
Stimmt man diesen Annahmen der WHO zu, teilt man ihr Verständnis von Gesundheit und Krankheit, so muss alles getan werden, dass sich möglichst viele Menschen in der freien Natur aktiv bewegen, sich körperlich belasten und damit selbstverantwortlich einen Beitrag zum Erhalt ihrer Gesundheit leisten. Die Koppelung des Sportsystems mit dem Gesundheitssystem ist das Gebot der Stunde. Ein Verbot des Sportunterrichts, wie es in vielen Bundesländern über viele Monate und auch noch in diesen Tagen der Fall war und ist, verbietet sich dabei von selbst. Selbst wenn ein Sportunterricht in Sporthallen unter virologischen Gesichtspunkten nicht sinnvoll sein sollte (was bezweifelt werden kann), so kann Sportunterricht auch in der kalten Jahreszeit im Freien stattfinden. Man sollte sich dabei lediglich an eine Zeit erinnern, in der es nur wenige Sporthallen gab und wo es wie selbstverständlich üblich war, dass der Sport auch im Winter im Freien ausgeübt wurde.
Im wichtigen System der Gesundheit ist der Sport ohne Zweifel ein systemrelevanter Inhalt. Viele der Sportberufe sind systemrelevante Berufe und müssen deshalb geschützt werden. Wann immer in der nächsten Zukunft von den verantwortlichen Politikern Schutzmaßnahmen zu Gunsten der Bürgerinnen und Bürger unserer Gesellschaft beschlossen werden, muss deshalb verlangt werden, dass auch der Sport mit seiner besonderen Systemrelevanz berücksichtigt wird. Die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger und deren Schutz vor dem Coronavirus ist nicht zuletzt von der Qualität des Immunsystems abhängig. Das aktive Sport treiben kann hierzu einen bedeutsamen Beitrag leisten.
Verfasst: 16.12.2020