Sport als Medium interkulturellen Lernens und internationaler Verständigung

Von kulturellem Lernen, von interkultureller Kommunikation soll im Folgenden die Rede sein. Angesichts der komplexen Kommunikationsprobleme, die bei den vielen Versuchen internationaler Verständigung nahezu täglich zu beobachten sind, kann dieses Thema eine besondere Bedeutsamkeit für sich beanspruchen. Nicht erst seit heute ist ein Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen gefordert. Wer in diesen Dialog eintreten will und wer zum Lernen bereit ist, kann dies nicht ohne eine aktive Auseinandersetzung mit jener fremden Kultur tun, mit der er in den Dialog eintreten möchte. Ob durch Konfrontation, ob durch Vergleich, ob durch Anpassung oder durch Imitation, ob bewusst organisiert vollzogen oder unterschwellig unbewusst mitlaufend, es geht in diesem Prozess interkultureller Kommunikation immer um das „Eigene“ und das „Fremde“ und es geht um die Frage des „anderen“. Wenn vom Sport in diesem Zusammenhang die Rede sein soll, wenn gefragt werden soll, ob der Sport ein geeignetes Medium interkulturellen Lernens und interkultureller Verständigung sein kann, und wenn dabei nach der Rolle der traditionellen Bewegungskulturen gefragt wird, so sollte im Sinne einer vorsichtigen Warnung eines bedacht sein: Die Geschichte des Sports ist vorrangig eine Geschichte ideologischer Diskussionen über den Sport. Sie ist eine Geschichte der Überschätzung der Funktionen, die dem Sport zugeschrieben werden. Gerade, wenn heute über die Rolle des Sports unter kommunikationspolitischen Gesichtspunkten nachzudenken ist, so sind diese Diskussionen zu beachten. Wenn der Sport eine wichtige Rolle in Situationen spielen soll, wo interkulturelles Lernen stattfinden könnte, so müssen eben jene Situationen gekennzeichnet sein, in denen die Menschen in alltägli­cher Weise kommunizieren. Der Begriff des „Alltags“ ist dabei das geflügelte Wort, wobei jedoch meist verkannt wird, dass gerade im Alltagsleben ein wirres Durcheinander von Konventionen, Einbildungen, Vorurteilen, Machtkämpfen, Nützlichkeitskalkülen und Rollen- und Identitätsspielen existiert.

Ich möchte noch auf einen weiteren kritischen Aspekt hinweisen, der meines Erachtens nicht weniger beachtenswert ist, wenn über den Dialog zwischen dem modernen Sport und den traditionellen Bewegungskulturen gesprochen werden soll. Eine ethnologisch, kulturanthropologisch und pädagogisch orientierte Diskussion des Verhältnisses zwischen Sport und traditioneller Bewegungskultur befindet sich grundsätzlich in der Gefahr, wichtige entwicklungspolitische Sachverhalte zu übersehen, die eine vernünftige Einordnung und Bewertung sowohl des modernen Sports als auch der traditionellen Bewegungskulturen erst ermöglichen. Wenn vom Dialog zwischen traditioneller Bewegungskultur und modernem Sport die Rede ist, so ist zunächst von der Beziehung zwischen den angeblich entwickelten und den sich entwickelnden Ländern, von den Machtblöcken, die in dieser Welt das Sagen haben und von den Abhängigen in den Entwicklungsländern die Rede. Alltag in Entwicklungsländern, das heißt heute meist, leben in einer Welt voller fragiler Strukturen, schneller Zersetzung und Konfusion, in der die Fähigkeit zur Verallgemeinerung und Differenzierung lebensnotwendig geworden ist, um über die bloße wahrnehmbare, trostlose, eigene Welt hinauszugehen und sie zu ändern. Eine wohl durchaus dringend notwendige Kritik an der aus dem Westen und Norden dieser Welt importierten Industriekultur darf deshalb das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Eine zivilisierte Welt ist ohne die Fähigkeit der rationalen Differenzierung und Verallgemeinerung nicht möglich, d.h. ist ohne modernes Denkvermögen nicht denkbar. Um es sehr viel deutlicher auszudrücken: Ob in Kenia oder Tansania Leichtathletik nach den Regeln der IAAF betrieben wird, oder ob in den kenianischen Schulen dadurch ein Traditionsbewusstsein vermittelt wird, in dem die Kinder in längst vergessene Bewegungsspiele ihrer Vorfahren eingeübt werden, das scheint in vieler Hinsicht eine relativ belanglose Frage zu sein angesichts jener Probleme, die den Alltag der Menschen in Tansania und Kenia belasten. Es ist nicht erst seit heute Mode geworden, in die Verdammung von universalistischen, modernistischen und eurozentrischen Entwicklungskonzeptionen und Lehransätzen einzustimmen. Es wäre jedoch begrüßenswert diese Kritik etwas genauer zu kennzeichnen und die Grenzen dessen aufzuzeigen, was unter diese Kritik berechtigterweise fällt. Gerade heute scheint es in einer Zeit, in der dank der modernen Massenmedien Vorgänge der Simplifizierung immer häufiger zu beobachten sind, ein besonderes Problem zu sein, dass heterogene Phänomene dadurch bewältigt werden, dass schnelle Lösungen durchgesetzt werden. Gewiss setzt der moderne Sport ein universelles Menschenbild voraus, das auf einem selbstbewussten, reflexiv kritischen, sich selbst verwirklichenden, autonomen, individuellen oder kollektiven Subjekt basiert. Gewiss ist dieser Subjektbegriff eurozentrisch, er ist im Sinne von Max Weber „protestantisch“, ist rationalisti­schen Ursprungs und verdrängt die Existenz des Unbewussten und die Triebstruktur des Subjektes.

Ist interkulturelle Verständigung emanzipatorischen Zielen verpflichtet, so können diese vermutlich jedoch nur durch eine Überwindung der festen Schranken und nicht durch ein relativistisches Festhalten an partikularen Werten und Handlungsmustern erreicht werden. Es kann berechtigterweise als „reaktionär“ und „imperialistisch“ bezeichnet werden, wenn einer Gesellschaft die eigene Kulturtradition vorenthalten wird. Nicht minder rückschrittlich ist es, in einer von modernen Massenmedien und Computertech­niken geprägten Welt den jungen Nationen neue bzw. moderne Kulturgüter mit dem Argument vorzuenthalten, sie seien Produkt jener Klassen, die sie einstmals und teil­weise auch noch heute unterdrückt haben bzw. unterdrücken.

Deshalb ist es m.E. kaum angemessen, die in Auflösung sich befindenden traditionellen Herrschaftsverhältnisse in Entwicklungsländern als einheimische Kultur zu idealisieren.

Wenn jeder das Recht auf Respekt seiner Partikularität durch den anderen hat, so leitet sich daraus keinesfalls der Anspruch ab, diese Partikularität protektionistisch zu verteidigen oder aggressiv oder imperialistisch anderen aufzuzwingen. Die Individualität liegt immer darin, dass in einem Prozess der wiederholten Öffnung diese Partikularität ver­ändert wird. Der Prozess der interkulturellen Kommunikation darf somit nicht statisch gesehen werden. Vor allem muss dabei im Blick bleiben, dass gerade der Partikularismus in Entwicklungsländern eines der größten Probleme darstellt. Verallgemeinerung von Werten, Regeln und Handlungsmustern ist somit durchaus ein wünschenswertes Prinzip. Nicht zuletzt deshalb ist vor einem „volkstümlerischen Helfersyndrom“ zu warnen, das mit dem Überdruss an den Verhältnissen der eigenen Industriekultur und einem schlechten Gewissen an der eigenen Situation verbunden ist. Aus der Vorurteilsforschung wissen wir, dass gerade die Vorstellung vom Fremden meistens eine Projektion ist. Diese Projektion erfolgt umso ungehemmter, weil das Fremde fremd ist und die Verbindung zu ihm relativ unverbindlich ist. Man kann deshalb umso besser Lust und Angst in sehr verschiedenen Gemengelagen auf fremde Kulturmuster projizieren. Dabei kommen Interessenlagen ins Spiel; im Grunde genommen will man jedoch den Fremden als Fremden haben. Interkulturelles Lernen kann deshalb gefährlich sein. Das Verstehen gefährdet das eigene Kategoriensystem, den eigenen Seelenhaushalt. Wenn zwischen Tradition und Moderne, zwischen der traditionellen Bewegungskulturen und modernem Sport, wenn zwischen modernem Beobachter und traditionell Handelndem Verständi­gung gesucht wird, so muss deshalb das Problem des gegenseitigen Verstehens besonders sorgfältig bedacht werden. Humboldt sagte bereits, dass jedes Verstehen zugleich ein Missverstehen ist. Damit meinte er jene Teile, die über das, was verstanden wurde, hinausschießen. Schleiermacher hat seine ganze Hermeneutik auf dem Prinzip des Nichtverstehens aufgebaut. Er meint, dass der Normalfall Missverstehen sei und dass gerade dies erklärt werden müsse. Dem steht eine andere Seite der Hermeneutik gegenüber, wie sie z.B. von Kant vertreten wurde. Einen Autor besser verstehen als er sich selbst verstanden hat, das ist das Ziel des Verstehens. Letzteres scheint Gefahr und Chance für das Verstehen traditioneller Bewegungskulturen zugleich zu sein.

Wenn über interkulturelle Kommunikation mittels Sport geredet wird, so sollte deshalb vorrangig von der subjektiven Lage der Betroffenen die Rede sein. Spricht man darüber, so muss vorrangig die politische, soziale und ökonomische Lage der Beteiligten thematisiert werden.

Letzte Bearbeitung: 15.November 2021