Schwäbisches Kreisturnfest 1894

Vor 125 Jahren fand in Tübingen im August 1894 das 32. Schwäbische Kreisturnfest statt. Tübingen war bereits damals eine ganz besondere Stadt. Als Universitätsstadt war sie auch die schwäbische Musenstadt. Deshalb kann es kaum überraschen, dass in der Festschrift zu diesem besonderen Turnfest die Gäste mit einem Gedicht willkommen geheißen werden und vor allem Ludwig Uhland Referenz erwiesen wird:

„Herbei ins grüne Neckarthal,
Ihr schwäbischen Turner allzumal!
Euch ruft die schwäbische Musenstadt
Zu frohem Feste, zu ernster That.
Weit dehnt sich der herrliche Wiesenplan,
Zum Wettkampf lockt die freieste Bahn.
Hier grüsset hernieder so hoh und mild
Des edelsten Manns, unseres Uhland, Bild.
Hier empfängt nach der Arbeit Lust und Drang
Euch wohlig der kühlende Bogengang:
Kastanien, Linden, Platanen umschatten
Die flussumspülten lieblichen Matten.
Und drüben die Stadt, am Neckar entlang
Und empor an des Schlossbergs und Oesterbergs Hang
Und weit hinaus in des Ammerthals Grund,
Sie empfängt euch freudig zu dieser Stund.
Weingärtner, Professor, Philister, Student
Und wer sonst Tübingens Bürger sich nennt,
Sie heißen euch alle, die frisch frei frommen
Und fröhlichen Gäste, von Herzen willkommen!“

Vier Tage dauerte dieses besondere Fest. Eröffnet wurde es am Samstagabend mit einem Bankett im Museumssaal, sonntags stand der Festzug zum Festplatz im Mittelpunkt des Interesses und bereits am Sonntagnachmittag begannen die Wettkämpfe und Vorführungen mit den allgemeinen Stabübungen. Die Turngemeinde Tübingen zeigte Turnübungen und der Stuttgarter Turngau präsentierte Keulenschwingen. Diesen folgten Turnspiele der Arminia Tübingen, des TV Esslingen und der Stuttgarter Turnvereine. Am Abend gab es eine „Italienische Nacht“ auf dem Festplatz, am Montag folgte das Einzelwettturnen, das Ringen und nachmittags gab es ein Fußballspiel des MTV Stuttgart und TB Stuttgart. Alle Turner zeichneten sich durch weiße, gelbe oder rote Bänder aus. Jede Farbe hatte ihre besondere Bedeutung. Die Tübinger Turner erkannte man z.B. an ihren rotgelben Bändern. Die Eintrittspreise für die Zuschauer variierten von 0,30Mk für die Einzelkarte, 9,50Mk für die Dauerkarte und 1,20Mk für die Tageskarte. Ein Sitzplatz auf der Festbühne kostete 1,50Mk.

Dem Deutschen Turnkreis Schwaben gehörten zu diesem Zeitpunkt 23699 Mitglieder an, davon waren 9945 aktive Turner. Der Turngau war in 17 Gaue aufgeteilt. Ein Braunenberggau gehört ebenso dazu wie ein Filder-, Hohenlohe-, Hohenstaufen- oder Nagoldgau. Oberschwaben, Rems, Schwarzwald, Stuttgart, Ulm, Zollern-Schalksburg, Achalm waren die weiteren Regionen oder Städte nach denen Gaue benannt waren. Schließlich gab es noch den Kepplergau. Die vielen tausend Turner waren alle mit dem Zug angereist. Von und nach Stuttgart gab es damals bereits sieben Züge am Tag, nach Horb und Hechingen waren es jeweils fünf.

Der Festzug wurde von der Musikkapelle des III. Bataillons des 7. Württembergischen Infanterieregiments „Kaiser Friedrich König von Preußen“ Nro. 125 (Dir. Schneckenburger) und der Stadtkapelle unter der Leitung des Musikdirektors Schmidt begleitet. Den Gästen wurde dabei auch ein ganz besonderes kulturelles Angebot unterbreitet: die Kölle’sche Gemäldesammlung in der Aula und die geologische Sammlung in Mineralogisch-Geologischen Institut waren für die Turner aus Schwaben ebenso geöffnet, wie der Botanische Garten und die zoologische Sammlung. Den Kaiser-Wilhelm-Turm durften die Turner mit ihren Festbändern zu einem ermäßigten Preis von 0,10Mk ersteigen. Darüber hinaus wurden Ausflüge nach Bebenhausen, Hohenzollern, Lichtenstein und zum Rossberg angeboten.

Mit Anzeigen in der Festschrift unterstützten viele Tübinger Firmen dieses besondere schwäbische Fest. Wilhelm Riekert mit seiner Kolonialwaren- und Delikatessenhandlung war für seine Havanna-Zigarren bekannt und lobte sich als ältestes Spezialgeschäft auf dem Kontinent in spanischen und portugiesischen Weinen. Caffé Kommerell offerierte Münchner Bier, Pilsener Lagerbier, alte und neue Landweine und guten Kaffee. H. Metz am Holzmarkt 3 bot eine Turnerkarte als Sonderdruck an und die Heinrich’sche Bierbrauerei aus Lustnau mit ihrer Mälzerei in Bebenhausen war Partner der Gasthöfe Ochsen und Waldhorn in Lustnau und Bebenhausen. Der Löwen in Derendingen warb mit seinem ausgezeichneten Doppelbier und seinem guten Mittagstisch.

Im Vergleich zum modernen Kunstturnen waren die damals präsentierten Vorführungen und Wettbewerbe von einer ganz eigenen Qualität. Zu den Eisenstabübungen gehörte das Rumpfvorbeugen mit Stab tiefvornab, das Rumpfseitbeugen mit dem Stab seitauf, das Rumpfdrehen mit dem Stab seitaus, das Rumpfvorbeugen und Drehen mit dem Stab seittiefab. Eine zweite Übungsgruppe beinhaltete den Spreiztritt vorwärts und Vorspreizhalte mit dem Stab vornaus, den Spreiztritt rückwärts und Rückspreizhalte mit dem Stab vornaus, den Spreiztritt seitwärts und Seitspreizhalte Stab seitaus, und Spreiztritt seitwärts und Kreuzspreizhalte Stab seitauf. Als dritte Übung wurde die Kniebeuge Stab vornauf-vornaus, die Kniebeuge Stab vornaus-vornauf, die Kniebeuge Stab vornaus-seitaus und die Kniebeuge Stab seitaus-vornauf verlangt. Schließlich gab es noch die Vorlage mit Stab links über rechts und rechts über links, den Vorlageschritt mit Stab links über rechts und rechts über links vor Schulter, und die Anlage mit Stab links und rechts und rechts und links seitauf. Abschließend dann den Aushaltschritt mit Stab links und rechts und rechts und links seitauf. Pflichtübungen wurden auch an Reck, Barren und Pferd abverlangt. Am Reck wurde ein Sprung in den Streckhang kammgriffs gefordert, gefolgt von Schwungstemmen zur Ristwelle vorlinks mit gegrätschten Beinen, in Streckstütz, Griffwechsel zum Ristgriff und sofortiges Überspreizen links oder rechts, Knieumschwung rückwärts, Zurückspreizen und freier Felgüberschwung zum Stande vorlinks. Ähnlich genau und vielfältig waren die Vorgaben zu den Barren und Pferdübungen.

Im Jahr 1894 konnte die Gastgeberstadt Tübingen schon auf eine lange Turntradition verweisen. Die Spuren des turnerischen Lebens in Tübingen reichen bis ins Jahr 1818. Die 1816 gegründete Burschenschaft hatte damals bei der Stadtbehörde um unentgeltliche Überlassung eines geeigneten Platzes zur Errichtung eines Turnplatzes nachgesucht. Dieser Platz wurde auf der rechten Uferseite des Neckars östlich der Steinlach zur Verfügung gestellt. Einem jungen Studenten namens Völker, ein Zögling von Ludwig Jahn, wurde die Leitung des Tübinger Turnens übertragen. Er erreichte sehr bald eine rege Beteiligung der Studenten. Auch junge Bürgersöhne wurden von ihm im Turnen ausgebildet, die Studenten während der Woche, die jungen Bürger hingegen sonntags. Völker bearbeitete die „ersten Gesetze für die Turner in Tübingen“. Sie sind uns erhalten unter dem Titel: „Gesetzte für die Turngemeinde zu Tübingen 1819“. Turnen hatte dabei einen volkstümlich-nationalpolitischen Charakter. Es ging dabei um die Heranbildung der männlichen Jugend zu “tüchtigen und wehrhaften“ Männern. An Mädchen und Frauen wurde hierbei nicht gedacht.

Die Ermordung des Dichters von Kotzebue 1819 durch den Burschenschaftler Sand führte zu einer Infragestellung der Burschenschaften und damit auch des Turnens. Da Völker mit Sand verkehrt hatte, musste Völker Tübingen verlassen und der Tübinger Turnplatz wurde von der Regierung für mehr als ein Jahr geschlossen. Der Popularität des Turnens tat dies aber keinen Abbruch. Im Jahr 1839 spricht man schon von einer „akademisch gymnastischen Anstalt“ an der Universität. Sie war offen für Studenten und für Schüler höherer Schulen. Im August wurde der Turnplatz in die Universität integriert und mit Lehrer Wüst der erste Universitätsturnlehrer angestellt. 1846 folge der erste Turnsaal in der Alten Aula. Am 25. Juli 1853 wurde schließlich die Vereinigung „Turngemeinde Tübingen“ getauft. Bald danach hatte auch schon der sog. Englische Sport, die „Engländerei“ Deutschland erreicht. Dem Turnen erwuchs dadurch eine Konkurrenz, die bis heute anreicht. 1894 hatte die TG Tübingen 260 Mitglieder. Sie gehörte und gehört damit zu den erfolgreichsten und ältesten Vereinen Deutschlands.

Verfasst 20.01.2020