Prinzipien einer internationalen und nationalen Anti-Doping-Sportpolitik

Vom 2. bis zum 4. Februar 1999 fand in Lausanne die erste Weltkonferenz „Doping im Sport“ statt. Als Vizepräsident des Deutschen Nationalen Olympischen Komitees konnte ich damals der Vorsitzende der deutschen Delegation sein. Es war dabei meine Aufgabe, in einem Grundsatzbeitrag aus deutscher Sicht die „Prinzipien einer internationalen und nationalen Anti-Doping-Politik“ vorzutragen. Es könnte lohnend sein, dass man – 20 Jahre danach ­– sich dieser Prinzipien erinnert und sie noch einmal zur Kenntnis nimmt. Betrachten wir die Situation des internationalen Anti-Dopingkampfes im Jahr 2019 und vergleichen wir sie mit der Ausgangslage der Weltkonferenz „Doping im Sport“ im Jahr 1999, so muss man erkennen, dass die Prinzipien von damals nach wie vor relevant sind und dass der Anti-Doping Kampf bis heute nur ganz wenige Erfolge aufzuweisen hat. Die Frage, warum dem so ist, sollte von denen, die heute für den Anti- Doping Kampf verantwortlich sind, dringend geklärt werden.

  1. Die Prinzipien des Fair-Play sind das unverzichtbare Fundament des Hochlei­stungssports. Die Verantwortlichen im Sport sind verpflichtet, diese Prinzipien zu bewahren und sie dort, wo sie bedroht sind, zu verteidigen. Besonders bedeutsam ist dabei das Prinzip des chancengleichen Wettkampfes und das Prinzip der Unversehrtheit des Athleten, die in gemeinsamer Weise die schriftlichen Regeln der Sportarten prägen. Die schriftlichen Regeln der Sportarten sind absichtsvolle Vereinbarungen jener, die sich im fairen Wettstreit dieser Sport­arten messen möchten.
  2. Der Kampf gegen Doping hat sich deshalb in erster Linie über die ethisch-morali­schen Grundlagen, die im Prinzip des Fairplay gipfeln, zu begründen. Eine Dis­kussion über das Doping-Problem, die sich in erster Linie auf medizinische Begründungen stützt, ist völlig unzureichend, wie sich überhaupt der moderne Hochleistungssport über das Motiv der Gesundheit nur bedingt begründen lässt.
  3. Der Kampf gegen die Doping-Verbrechen ist von grundlegender Bedeutung für die olympische Bewegung. Wird dieser Kampf von der olympischen Bewegung nicht konsequent geführt, so besteht die Gefahr, dass sie ihre Glaubwürdigkeit verliert, dass der olympische Sport seine pädagogische Bedeutung gefährdet und dass die Olympischen Spiele sich ausschließlich über die Interessen der Unterhaltungsin­dustrie definieren. Ist dies der Fall, so wird sich der olympische Sport vom aktiven Sporttreiben, insbesondere von der weltweit bedeutsamen „Sports for all“-Bewegung, noch weiter abkoppeln, als er dies bereits bis in diese Tage getan hat.
  4. Der Kampf gegen Doping muss in aller Offenheit und in aller Entschiedenheit geführt werden. Er kann nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass es Beteiligte im System des Sports gibt, die versuchen, die Regeln des Sports zu missachten. Das Prinzip der Regeleinhaltung, das grundlegend für die Ausübung von Sportar­ten ist, ist auf das engste mit der Möglichkeit verbunden, dass gegen Regeln ver­stoßen werden kann. Deshalb kann der Kampf gegen Doping in seiner Qualität nicht daran gemessen werden, ob die Möglichkeit zum Betrug auf Dauer ausge­schlossen wird. Vielmehr muss sich der Kampf durch eine eindeutige Position der Verantwortlichen, durch wirksame Maßnahmen gegen das Unwesen des Dopings und vor allem durch klare Sanktionen und glaubwürdige Aufklärung aus­zeichnen.
  5. Die aktuelle Situation, die sich dadurch auszeichnet, dass in den verschiedenen Sportarten und Sportverbänden unterschiedliche Anti-Doping-Regularien beste­hen und in Doping-Fällen unterschiedlich sanktioniert wird, darf von der olympischen Bewegung nicht länger toleriert werden. Die Argumentation, dass in unterschiedli­chen Sportarten die Sperren unterschiedliche Auswirkungen auf die Karrieren von Athleten und Athletinnen haben, hat ablenkenden Charakter und trifft das eigent­liche, zu lösende Problem nicht. Vielmehr ist es dringend notwendig, dass man über Anti-Doping-Regularien verfügt, die weltweit aufeinander abgestimmt sind und die für alle Sportarten Gültigkeit haben.
  6. Die vergangenen Jahre haben eindeutig gezeigt, dass im Kampf gegen die Verbre­chen des Dopings die Sportverbände – führen sie diesen Kampf ohne Unterstüt­zung aller übrigen Verbände – überfordert sind. Deshalb ist es unverzichtbar, dass das IOC den Kampf gegen die Doping-Verbrechen als oberstes Organ der Sport­verbände zu verantworten hat. Es ist deshalb wünschenswert, dass das IOC akzeptiert, die Rolle der Führerschaft dabei anzunehmen, die notwendige Man­power bereitzustellen und auch die finanzielle Basis zu gewährleisten, um einen konsequenten Kampf gegen Doping zu ermöglichen.
  7. Das IOC sollte möglichst schnell Teilnahmebedingungen für die Olympischen Spiele definieren, wobei wünschenswert wäre, dass nur solche Athletinnen und Athleten an Olympischen Spielen teilnehmen können, die sich vor den Spielen einem Kontrollsystem unterworfen haben, das sich durch unangemeldete „Out-of-competition-controls“ auszeichnet.
  8. Im Kampf gegen Doping muss eine Vielzahl verschiedener Instrumente zum Einsatz kommen. Wichtige Instrumente sind:
    1. ein von den Verbänden möglichst unabhängiges Wettkampfkontrollsystem
    2. ein von den Verbänden möglichst unabhängiges Trainingskontrollsystem
    3. ein insbesondere die Kinder und Jugendlichen betreffendes Erziehungs- und Aufklärungsprogramm
    4. ein gerechtes und international vergleichbares Sanktions- und Bestrafungs­konzept
    5. eine massenmediale Darstellung des Hochleistungssports, die an den Prinzipien des Fair-Play ausgerichtet ist
  9. Von grundlegender Bedeutung für den Kampf gegen Doping ist die Frage nach einer nachvollziehbaren Abgrenzung zwischen Substitution und Manipulation. Ent­scheidend ist somit die Frage, was man unter Doping zu verstehen hat, welche pharmakologischen Substanzen und welche Methoden unerlaubt bzw. erlaubt sind. Die Beantwortung dieser Frage muss einheitlich erfolgen, nur dann kann der Kampf gegen Doping glaubwürdig sein.
  10. Die Aufklärung über das Erlaubte und Unerlaubte muss international umfassend gleichlautend sein, sodass davon ausgegangen werden kann, dass jeder Athlet über ein ausreichendes Wissen diesbezüglich verfügt.
  11. Dopingkontrollen müssen weltweit auf einheitliche Weise durchgeführt werden. Dies gilt für das Personal, das die Kontrollen ausführt ebenso wie für das Kontrollverfahren selbst. Aber auch die Vorwarnzeiten und die Auswahlverfahren, die den Kontrollen zugrunde liegen, müssen einheitlich sein.
  12. Die bei den Kontrollen entnommenen Proben müssen auf eine einheitliche Weise in IOC-akkreditierten Labors untersucht werden. Dabei muss gewährleistet sein, dass in allen Labors dieselben Methoden zur Anwendung kommen, sodass die Vergleichbarkeit der Analyse nicht nur aus der Sicht der Athleten gewährleistet ist. Es kann nicht sein, dass die Resultate bei Dopingkontrollen abhängig sind von dem technischen Knowhow der verschiedenen Labore.
  13. Grundsätzlich muss unter juristischen Gesichtspunkten eine Rechtsgrundlage geschaffen werden, in der das Einverständnis des Athleten mit der Durchführung von Doping-Kontrollen zum Ausdruck kommt. Dieses Einverständnis muss als Eingangsbedingung für die Teilnahme an sportlichen Wettkämpfen definiert werden.
  14. Vor dem Hintergrund dieser Rechtsgrundlage muss der Athlet für seinen Körper und die in seinem Körper auffindbaren Substanzen in prinzipieller Weise haftbar gemacht werden können. Im Rahmen der Verbandsgerichtsbarkeit kann es somit nicht um eine Überprüfung der individuellen Schuld des Athleten gehen. Vielmehr müssen die Entscheidungen zur Suspendierung oder Wettkampfsperre eines Athleten über den Nachweis nicht erlaubter Substanzen im seinem Körper erfol­gen. Ist der Nachweis erbracht, so ist auf dieser Grundlage eine Suspendierung bzw. Wettkampfsperre prinzipiell möglich.
  15. Zur Überprüfung individueller Schuld muss jedem Athleten die Möglichkeit offenge­halten werden, die Entscheidung der Verbandsgerichtsbarkeit vor ordentlichen Gerichten bzw. Schiedsgerichten des Sports überprüfen zu lassen.
  16. Die entscheidende Frage, die es zu beantworten gilt, ist jene nach der Kontroll­dichte im Trainingskontrollsystem. Ein Trainingskontrollsystem kann nur dann als qualitativ anspruchsvoll bezeichnet werden, wenn jeder Athlet ab einem gewissen Leistungsniveau damit rechnen muss, zu jeder Zeit überraschend kontrolliert zu werden. Dazu benötigt man eine ausreichende Zahl von Kontrollen, die in einer sinnvollen Relation zu der Anzahl derjenigen Kaderathleten zu stehen hat, die sich dem Kontrollsystem zu unterwerfen haben. In Abhängigkeit von der Größe der Mannschaften, in Abhängigkeit von den Anteilen an den Welt-Jahresbestenli­sten muss deshalb pro Land ein Kontrollquotient definiert werden. Wünschenswert wäre dabei, dass auf einen Athleten pro Jahr im Durchschnitt drei unangemeldete Trainingskontrollen kommen. Auf diese Weise sind Schwankungen von minde­stens einer bis maximal neun Kontrollen im Jahr möglich. Eine derartige Schwankungsdifferenz ist das Fundament für ein sich durch den Überraschungseffekt auszeichnendes Kontrollsystem.
  17. Sämtliche Trainingskontrollen müssen unangemeldet und möglichst ohne jegliche Vorwarnzeit durchgeführt werden. Der Kontrolleur sollte eine Lizenz aufweisen, die von einer unabhängigen Organisation in ihrer Qualität überwacht wird. Die Kontrollen sollten von Agenturen durchgeführt werden, die sich – bezogen auf die Kontrolltätigkeit – durch eine besondere Professionalität auszeichnen. Wün­schenswert ist dabei, dass nicht nur eine Kontrollagentur zur Durchführung von Kontrollen beauftragt ist. Anzustreben ist eine Konkurrenzsituation nach den Prin­zipien des freien Marktes. Auf diese Weise kann die höchste Qualität für die Durchführung der Kontrollen erreicht werden.
  18. Zwischen dem IOC, den internationalen Verbänden und den nationalen Sportor­ganisationen muss ein Kontroll-Verbundsystem entwickelt werden, in dem jene Kontrollen Anerkennung finden, die sich durch eine angemessene Qualität aus­zeichnen. Dies kann für nationale Kontrollsysteme ebenso gelten wie für die Kon­trollsysteme internationaler Fachverbände, die bereits auf entsprechende Vorlei­stungen verweisen können. Durch die Anerkennung nationaler und internationaler Systeme kann eine unnötige Mehrfachkontrolle vermieden werden und die Anzahl der finanzierbaren Kontrollen in angemessener Weise auch auf jene Regionen verteilt werden, in denen keine eigenen Kontrollsysteme existieren.
  19. Das gesamte Kontrollsystem sollte von einer zentralen Agentur gesteuert und überwacht werden, die unter Federführung des IOC von allen Beteiligten einzu­richten ist.
  20. Das Problem der nicht nachweisbaren pharmakologischen Substanzen bedarf besonderer Lösungsanstrengungen. Labore, die sich durch eine besondere For­schungskompetenz auszeichnen, sollten Forschungsaufträge auf Zeit erhalten. Darüber hinaus sollte das IOC die Partnerschaft mit großen Pharmakologiekon­zernen und deren Forschungsabteilungen suchen. Anzustreben ist dabei ein For­schungspool, finanziert durch alle Beteiligten der Pharmaindustrie. Diesem For­schungspool könnte sowohl eine Überwachungsfunktion als auch eine prognosti­sche Funktion zukommen. Wichtig ist dabei, dass rechtzeitig Signale an alle Betei­ligten erfolgen, wenn neue Formen der Manipulation entdeckt worden sind.
  21. Den sportpolitischen und sportjuristischen Rahmen für den Kampf gegen Doping bildet der „Medical Code“ des IOC, der alle zwei Jahre fortzuschreiben ist, sodass die in ihm festgelegten Vereinbarungen den je spezifischen Problemen im Kampf gegen Doping entsprechen.
  22. Die Kooperation zwischen dem Staat und den Organisationen des Sports sollte sich auch im Kampf gegen Doping durch das Prinzip der Subsidiarität auszeich­nen. Dies bedeutet, dass zunächst und vor allem der Kampf gegen das Doping autonom von den Organisationen des Sports zu führen ist.

    Die Aufgabe des Staates ist jedoch, die Organisationen des Sports bei diesem Kampf dort zu unterstützen, wo die Mittel und Instrumente des autonomen Sports nicht mehr ausreichen. Dabei ist es notwendig und wünschenswert, dass der Staat mit seinem ihm zur Verfügung stehenden Gewaltmonopol in eigener Verantwor­tung den Kampf gegen Doping ergänzend führt.

    Staatliche Gesetze und deren Umsetzung sind deshalb als Hilfestellung im Kampf gegen strafrechtlich relevante Verstöße, wie Handel mit Doping-Mitteln, Doping von Kindern usw., anzusehen.

    Bei einer derart arbeits- und pflichtenteiligen Betrachtung ist es Aufgabe der Sportorganisationen, über die Einhaltung der von ihnen gesetzten Regeln zu wachen und sicherzustellen, dass qualitativ anspruchsvolle Doping-Kontrollen im Training und im Wettkampf durchgeführt werden. Außerdem gilt es dafür zu sorgen, dass Athle­ten, die des Dopings überführt wurden, einer konsequenten Bestrafung zugeführt werden. Weiterhin ist es Aufgabe der Sportorganisationen, präventiv zu handeln und erzieherisch auf junge Athleten einzuwirken. Insbesondere müssen sie über die Gefahren und Probleme des Dopings umfassend informieren.

    Aufgabe des Staates ist es, mit seiner Gerichtsbarkeit und mit seinen polizeilichen Organen dort tätig zu werden, wo die Verbandsgerichtsbarkeit der Sportorganisa­tionen keine Wirkung mehr haben kann. Bei dieser Vorgehensweise ist es wün­schenswert, dass über Anti-Dopinggesetze alle an Doping-Verbrechen Beteiligten verfolgt, verurteilt und bestraft werden können. Dabei ist es durchaus überprüfenswert, ob sich auch die Athleten bei der Verwendung von Doping-Mitteln eines Verbrechens schuldig machen und sich einer staatlichen Gerichtsbarkeit stellen müssen.

Verfasst Oktober 1998