Olympische Spiele haben eine Sonderbehandlung verdient

Es ist wie immer. Ein Meinungsforschungsinstitut stellt eine Frage und die Antworten auf diese Frage haben ein großes Rauschen im deutschen Medienwald zur Folge. In diesen Tagen war es einmal mehr Infratest, das 1003 repräsentativ und zufällig ausgewählte Telefonbesitzer mit der folgenden Frage konfrontierte: „Aktuell wird diskutiert, unter welchen Bedingungen trotz Corona große internationale Sportveranstaltungen stattfinden können. Hierzu gibt es den Vorschlag, teilnehmende Sportler und Teams bei Corona Impfungen vorzuziehen und vor den Wettkämpfen bevorzugt zu impfen. Geht dieser Vorschlag aus ihrer Sicht eher in die richtige oder eher in die falsche Richtung?“

73% der Befragten waren der Meinung, dass ein solcher Vorschlag in die falsche Richtung gehe. Unter Frauen (78%) ist die Ablehnung höher als unter Männern (67%).

Ebenso wenig kann überraschen, dass wenige Tage danach sich auch die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates zu Wort meldet und die folgende Meinung vertritt: „Profisportler haben aus sich selbst heraus im Vergleich zu den Hochrisikogruppen deutlich geringere Risiken und setzen sich selbst auch nicht für andere Risiken aus. Deshalb würde ich sagen, dass Profisportler nicht unter die Priorisierungsregeln fallen und man da nicht eine Art von Sonderausnahme machen sollte“.

Der Ausgangspunkt für diese Diskussion war eine Stellungnahme von Richard Pound, dem dienstältesten Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees, der gegenüber einer Presseagentur die Auffassung vertrat, dass die Bevorzugung von Athletinnen und Athleten beim Zugang zum Impfstoff der realistischste Weg sei, um an den wegen der Pandemie bereits um ein Jahr verschobenen Olympischen und Paralympischen Spielen in Tokyo festzuhalten. Er rechne deshalb nicht mit einem öffentlichen Aufschrei. An Deutschland hat er dabei vermutlich nicht gedacht.

Doch betrachtet man die deutsche Diskussion etwas genauer, so muss man feststellen, dass dabei eigentlich gar nicht über den Vorschlag von Pound diskutiert wird. Vielmehr wird einmal mehr alles in einen Topf geworfen und Äpfel mit Birnen verwechselt. Wenn es um Olympische Spiele geht, so geht es dabei nicht um „sämtliche große internationale Sportveranstaltungen“, sondern um ein besonderes und einmaliges Sportereignis, das sich von allen anderen internationalen Sportveranstaltungen in ganz wesentlicher Weise unterscheidet:

  • Es findet nur alle vier Jahre statt.
  • Athletinnen und Athleten aus mehr als 30 verschiedenen Sportarten treffen sich über einen Zeitraum von drei Wochen an einem einzigen Ort und wohnen gemeinsam in einem Athletendorf.
  • Ihre Wettkämpfe finden in werbefreien Stadien und Sportstätten statt.
  • Auch die Werbung auf der Kleidung und auf den Sportgeräten ist auf das Strengste limitiert.
  • Das Ziel der Geschlechtergleichheit ist nahezu erfüllt. Das Ereignis wird von der ganzen Welt mit großem Interesse verfolgt.
  • Die Einnahmen, die das IOC mit der Ausrichtung der Spiele erzielen kann, werden nahezu vollständig an die beteiligten Olympischen NOKs, an die Olympischen Fachverbände und an die Ausrichter zukünftiger Olympischer Spiele verteilt.

Wenn man über die Athletinnen und Athleten spricht, die bei Olympischen Spielen teilnehmen, so machen die sogenannten „Profisportler“ nur eine Minderheit der Teilnehmer aus. Die große Mehrheit der 10.000 Athletinnen und Athleten sind meist „namenlose“ Athleten. Sie betreiben ihren Hochleistungssport mit leidenschaftlichen und unterstützenswerten Motiven. Mit den Aufwandsentschädigungen, die sie möglicherweise erhalten, können sie in der Regel nicht einmal ihren Lebensunterhalt finanzieren. Ganz gewiss kann man dabei nicht von einer beruflichen Absicherung sprechen.

Die Olympischen Spiele sind schon seit längerer Zeit äußerst großen Gefahren ausgesetzt. Die Zukunft der Spiele kann keineswegs als gesichert gelten. Wer die Ideen der Olympischen Spiele kennt, so wie sie von Pierre De Coubertin begründet wurden, wer sich die besonderen Merkmale der modernen Olympischen Spiele etwas genauer betrachtet, der muss meines Erachtens ein Interesse haben, dass man die Olympischen Spiele als ein besonderes kulturelles Weltereignis trotz all ihrer Gefahren, denen sie ausgesetzt sind, erhält und weiterentwickelt. Die Olympischen Spiele, mit ihrer einmaligen Vielfalt an sportlichen Höchstleistungen von Athletinnen und Athleten aus mehr als 200 Nationen und mit ihrer besonderen Symbiose einer Sportkultur mit den Künsten, der Architektur, der Literatur, der Musik und den Wissenschaften sind ein einmaliges Kulturgut unserer Menschheit. Dessen Schutz ist mehr als lohnenswert.

Die Pandemie hat die Spiele von Tokio bereits im vergangenen Jahr in Frage gestellt. Eine Verschiebung war die notwendige Folge. Ein Jahr später sollen die Spiele nun Ende Juli bis Anfang August in Tokio stattfinden. Doch ihre Durchführung ist noch immer fraglich. Für den modernen Olympismus ist die Durchführung dieser Spiele zu einer Überlebensfrage geworden. Eine nochmalige Verschiebung ist nicht möglich. Eine Absage hätte schwerwiegende Folgen. Die Wettkämpfe fast aller Olympischen Sportverbände, die sie in dem vierjährigen Zeitraum zwischen den Spielen für ihre Athleten und Athleten veranstalten, sind nahezu vollständig von den finanziellen Zuschüssen abhängig, die diese Verbände vom Internationalen Olympischen Komitee erhalten. Doch man sollte nicht nur an die ökonomischen Folgen denken. Es ist das Gebot des Fair Play, das für den Wettkampfsport äußerst wichtig ist, dass man auch an den japanischen Gastgeber denkt, der sich mit einem beispiellosen Engagement und mit hohen finanziellen Investitionen in moderne Sportstätten und in eine moderne Infrastruktur für das Gelingen der Olympischen Spiele eingesetzt hat. Er wollte und möchte dies auch heute noch angesichts der Umweltkatastrophe von Fukuoka gegenüber der ganzen Welt ein Zeichen des Aufbruchs und der Ermutigung setzen. Allein dies sollte Grund genug sein, um sich weltweit für das Gelingen der Spiele in Tokio einzusetzen.

Wer in der Sportschau der ARD seinen Kommentar mit der Aussage: „Bevorzugte Impfung im Sport ein geschmackloser Vorschlag“ titelt, der hat sich mit der Idee der modernen Olympischen Spiele wohl kaum sorgfältig auseinandergesetzt. „Der Corona Impfstoff ist knapp. Die meisten Länder konnten noch gar nicht mit dem Impfen beginnen. Da machen zehntausende Impfdosen für Olympia-Athleten durchaus einen Unterschied. Vor allem, wenn sie nur der Türöffner sind für weitere Sonderbehandlungen… 10 Menschen sind im Zusammenhang mit einer Corona Infektion gestorben. Nicht gestern, nicht heute, sondern allein in dieser Minute. In der kommenden Minute werden es laut weltweiter Statistik weitere zehn sein. Und in der darauffolgenden wieder zehn und immer so weiter… Wenn deshalb am Ende sportliche Highlights wie die Olympischen Spiele abgesagt werden müssen, wird das niemand umbringen. Diese Pandemie aber tut genau das. Auch in dieser Minute“. ARD-Kommentator Riesewieck hält dies möglicherweise für eine gelungene Polemik. Für mich wird hingegen mit diesem Kommentar lediglich das skandalöse Kommunikationsmuster des öffentlich-rechtlichen Fernsehens fortgeführt, das seit dem Beginn der Corona Pandemie mit der Darstellung von fragwürdigem Todesstatistiken, Massenbeerdigungen und abstoßenden und angsterzeugenden Bildern aus Intensivstationen nahezu täglich gepflegt wird

Es ist gewiss lobenswert, dass es die Auffassung von den 1700 potentiellen deutschen Olympiateilnehmern ist, dass Sportler in einer bundesweiten Impfreihenfolge nicht bevorzugt werden sollen. 73% befürworten die bislang festgelegte Impfreihenfolge. Lediglich 18% wünschen sich eine andere Priorisierung. Es ist auch nachvollziehbar und verständlich, warum sich die Verantwortlichen in den deutschen Sportorganisationen ebenso wie das IOC nicht für eine bevorzugte Impfung ihrer Olympischen Athletinnen und Athleten ausgesprochen haben.

Ein Alleingang zu Gunsten deutscher Athletinnen und Athleten sollte sich ohnehin verbieten. Darum darf und sollte es in dieser Diskussion auch gar nicht gehen. Im Zentrum der Diskussion sollte vielmehr die Frage stehen, wie man die Teilnahme aller Olympischen Athletinnen und Athleten aus aller Welt zu Gunsten der Spiele in Tokio absichern könnte. Ebenso wichtig ist auch die Frage, wie man die notwendigen Qualifikationswettkämpfe sichern kann, die sich durch ein hohes Maß an Chancengerechtigkeit auszeichnen sollten. Schließlich muss gefragt werden, was zu tun ist, dass die Sicherheit von mehr als 10.000 Athletinnen und Athleten und von weiteren 10.000 Trainern und Trainerinnen, Betreuern und technischem Personal während der Spiele selbst, im Athletendorf und bei den Wettkämpfen gesichert werden kann.

Wenn man sich der globalen kulturellen Bedeutung der Olympischen Spiele bewusst ist, so gibt es also durchaus gute Gründe, dass man sich für eine weltweite Impf-Initiative zu Gunsten der Olympischen Athletinnen und Athleten und deren Trainer und Betreuer einsetzt. Angesichts der nunmehr bereits weltweit zur Verfügung stehenden Impfdosen ist die Anzahl der notwendigen Impfungen zu Gunsten der Teilnehmer an den bevorstehenden Olympischen Spielen in Tokio verschwindend gering. Wenn man bedenkt, was durch eine Absage der Spiele von Tokio auf dem Spiel steht, sollte eine derartige Impfaktion nicht durch eine fragwürdige Moral und durch ethische Meinungen untergraben werden, die auf einer ungenügenden Sachkenntnis beruhen. All jene, die in der Vergangenheit eigene Repräsentationsleistungen bei den Olympischen Spielen gesucht und gefunden haben, könnten bei einer derartigen Initiative eine wichtige Rolle spielen. Die Massenmedien sind dabei in erster Linie gefordert. Aber auch Politik und Wirtschaft müssten mit ihren Interessen eine derartige Initiative unterstützen. Nicht zuletzt sind auch die kulturellen Eliten gefordert, die sich im Lichte der Olympischen Spiele in der Vergangenheit so gerne dort gesonnt haben.

Verfasst: 06.02.2021