Leichtathletik auf Arabisch

Katar, der wohl kleinste Staat am Golf, ein Emirat wie Oman, Bahrain oder Dubai, geführt von einer königlichen Familie, die 30.000 Menschen umfasst und die ihren Wohlstand und ihre Macht den Bodenschätzen, dem Erdöl und dem Erdgas ver­dankt. Mit dem Begriff der Autokratie wird auf äußerst beschönigende Weise zum Ausdruck gebracht, wie in solchen Staaten Macht ausgeübt wird, wer das Sagen hat, wer die Last der täglichen Arbeit zu tragen hat, wer die Privilegien genießen darf und wie mit Andersdenkenden umgegangen wird. Katar ist wie die vergleichbaren Emi­rate von einem äußersten Wohlstand gekennzeichnet. Die Besitztümer sind in der Hand weniger, das Oben wird geprägt von der Familie Al-Thani, unten sind wie überall auf der Welt die dunkleren Hautfarben überproportional vertreten. Inder, Sudanesen, Somali, das sind die Arbeitskräfte für das Handwerk. Die in weißen lan­gen Kaftangewändern gekleideten Kataris lassen auf jeder Ebene der Gesellschaft, in jeder Institution, in allen Lebensbereichen für sich arbeiten. Selbst die Militärfüh­rung und der einfache Militärdienst werden von Ausländern erledigt. Der Sport spielt dabei keine Ausnahme. So wie Kamele den Reichen für ihre Freizeitvergnügen zur Verfügung stehen, so ist auch der Sport ein Teil einer Vergnügungskultur, die sich durch Überfluss bei gleichzeitiger Reizarmut auszeichnet.

Die Kataris, allen voran der Emir mit seinen Prinzen und seinen Verwandten, haben den internationalen Hochleistungssport, vor allem den Fußball, Handball und die Leichtathletik entdeckt. Leichtathletik wurde nunmehr über viele Jahre syste­matisch gefördert und die erwünschten Erfolge sind nicht ausgeblieben. Katar mit seiner Hauptstadt Doha wurde zum Ausrichter eines Grand-Prix-Meetings. Mittlerweile waren sie auch Ausrichter einer Hallen- WM und der jüngsten Freiluft – Weltmeisterschaft im Jahr 2019. Allein dies ist ein besonderer Sachverhalt. Die Nachbarn, allen voran Saudi-Arabien, blicken mit Neid auf das kleine Emirat. Auch sportlich ist Katar in der Leichtathletik erfolgreich. Mansour hieß ein schneller Sprinter und bereits dieser Name verrät, dass es sich in der Regel um eingebürgerte Katari handelt, die die Leichtathletik erfolgreich betreiben. Mittlerweile waren bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften eine ganze Reihe von Athleten für Katar erfolgreich. Barshim, Bashir, Mubarak, Rashed, Amar Obaid und Haroun können dabei beispielhaft genannt werden. Leichtathletik ist der Zeitvertreib reicher Kataris, doch sie selbst betreiben diese mit Anstrengung und hartem Training verbundene Sportart meist nicht. Leichtathletik in Katar, das ist eine Leichtathletik, wie sie sonst in der Welt nur selten anzutreffen ist. Sie findet auf perfekten Sportanlagen statt, nur umgeben von Sand und Steinen. Die Landschaft Katars ist äußerst unwirtlich und tou­ristisch kaum erschließbar, sie gilt selbst aus der Perspektive der Kataris als wenig attraktiv. Die Mehrheit der Bürger Katars wohnt in der Hauptstadt Doha, einer modernen Stadt mit allen Einkaufsmöglichkeiten, die den Wohlstand der Kataris widerspiegeln. Leichtathletik zu betreiben bei 40° im Schatten, während mehrerer Monate mit höchster Luftfeuchtigkeit ist das anstrengende Bemühen einer Minderheit, hingeführt von Funktionären, die einen führenden Platz auf der Weltkarte des Sports erlangen wollen. Trainer aus Deutschland waren zunächst sehr häufig für das Training der Athleten verantwortlich, aber auch Experten aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Algerien, aus Ägypten und aus Marokko sind heute bemüht, den Wünschen der Funktionäre zu entsprechen. Für den Emir von Katar ist der Sport das geeignetste und preisgünstigste politische Medium, um die Welt an die Existenz seines Staates zu erinnern, den er insbesondere durch Saudi-Arabien als bedroht sieht.

Geld zu besitzen bedeutet, auch im Sport Einfluss zu haben. Deshalb war es naheliegend, dass die Katari die höchsten Ämter im Nationalen Olympischen Komitee und in den nationalen Sportverbänden mit Repräsentanten aus der Armee oder aus der königlichen Familie besetzten. Nicht weniger naheliegend war es, dass man sich bemühte, in internationalen Sportorganisationen führende Positionen einzunehmen. Scheich Khalid Al-Thani wurde z.B.1995 auserwählt, den Weg in das höchste Gremium der IAAF zu gehen. In Göteborg stand der junge Scheich im Alter von 27 Jahren zum ersten Mal als Kandidat zur Wahl. Im ersten Anlauf wurde er gewählt und viele fragten, wie es möglich war, dass ein völlig unbekannter Kandidat mehr als 100 Stimmen auf sich vereinen konnte. Aus gut unterrichteten Kreisen – so heißt es in der Welt der Politik – musste man nach der Wahl hören, dass angeblich sehr viel Geld im Spiel war. Insbesondere die armen Mitgliedsstaaten des Internationalen Leichtath­letik-Verbandes und deren Delegierte waren offensichtlich sehr gerne bereit, dem jungen Scheich ihre Stimme zu geben. Scheich Al-Thani saß nun vier Jahre im Rat des Internationalen Leichtathletik-Verbandes. Zu wichtigen Sitzungen reiste er mit einem eigenen Fernsehteam an, um seinen Kataris zu dokumentieren, in welch bedeutender Welt ihr junger Scheich Verantwortung übernommen hat. War er in Katar eine bedeutsame Persönlichkeit, so war er im Internationalen Leichtathletik-Verband einer unter 25 Councilmitgliedern. Nur bei außergewöhnlichen Ereignissen trug er seinen Kaftan mit der typischen arabischen Kopfbedeckung. Sonst war er eher wie der wohlhabende Sohn eines westeuropäischen Millionärs gekleidet. Der Sport mit all seinen Problemen und Fragestellungen war Scheich Al-Thani nach eher etwas Fremdes. Auf der internationalen Bühne präsent zu sein, das war für ihn ein Wert an sich und so konnte es nicht überraschen, dass er sich nach dem Weg erkundigte, wie man möglichst schnell IOC-Mitglied werden könnte. Da sich diese Organisation vor allem für die Reichen der Welt als eine interessante Spielwiese darstellt, war es nicht unmöglich, dass Scheich Al-Thani auch diesen Plan erfolgreich in die Tat hätte umsetzen können. Mittlerweile ist der Emir selbst Mitglied im IOC und die Leichtathletik wird durch General Dahlan Al Hamad im Council von World Athletics vertreten. Er ist auch Präsident des Asiatischen Leichtathletikverbands.

Das erste Leichtathletik-Grand-Prix-Meeting von Doha 1998, bei dem ich als Gast anwe­send sein durfte, kann als ein erfolgreiches Beispiel von vielen dienen. Sämtliche Weltklasse-Athleten waren der Einladung nach Doha zu diesem Meeting gefolgt Angeführt von Donovan Bailey, Butch Reynolds, Bruni Surin und Colin Jackson war die Sprintelite nach Doha gekommen. Aber auch Sven-Oliver Buder hatte sich in einer international herausragenden Konkurrenz im Kugelstoßen zu bewähren und selbstverständlich waren die Top-Läufer aus Kenia und Marokko anwesend. Auch Sergej Bubka ließ es sich nicht nehmen, den Stabhochsprung-Wettbewerb mit der bescheidenen Höhe von 5,80 m zu gewinnen. Die Leistungen der Athleten waren meist nicht als heraus­ragend zu bezeichnen. Das Meeting war dennoch für alle Athleten und Athletinnen eine Reise wert. Dabei muss vor allem von den Athletinnen gesprochen werden, denn das Grand-Prix-Meeting von Doha 1998 war ein historisches Ereignis. Zum ersten Mal in der Geschichte der arabischen Leichtathletik fand ein Leichtathletik-Sportfest in einem arabischen Lande statt, bei dem Männer und Frauen gemeinsam an den Start gingen. Die amerikanischen Sprinterinnen waren sich ganz offensichtlich dieser Herausforderung bewusst, denn ihre Kleidung war weder aufreizend noch der Tem­peratur gemäß. Mit Long-ties haben die Weltklasse-Athletinnen ihren Respekt ge­genüber der islamischen Kultur bewiesen. Gleichzeitig haben sie mit ihrem Start jedoch für viele moslemische Mädchen und Frauen die Tür geöffnet, die interessiert sind, sich in der internationalen Leichtathletik mit anderen zu messen. Seitdem war und ist Katar ein Vorbild für die gleichberechtigte Öffnung des Sports für das weibliche Geschlecht in der islamischen Welt.

Organisatorisch und sportlich war das Meeting von Doha ein Erfolg für alle arabi­schen Leichtathleten. Nahezu 28.000 Zuschauer beklatschten respektvoll die Lei­stungen der Athletinnen und Athleten, ohne dass freilich eine besondere Stimmung diese Veranstaltung begleitete. Auf der Ehrentribüne saßen in voluminösen Sesseln die politischen Eliten Katars. Überlebensgroß das Bild des Emirs im Stadion, in allen öffentlichen Räumen und in der luxuriösen VIP-Lounge. Alles war dabei anders als sonst in der internationalen Leichtathletik. Sponsoren standen dabei ebenso wie die Offiziellen der Leichtathletik im Hintergrund der königlichen Familie. Das Protokoll war von Langsamkeit geprägt und wie bei jedem Empfang in einer arabischen Resi­denz der königlichen Familie wurde ein für Katar typisches Kräutergetränk gereicht, gefolgt von der immer präsenten arabischen Teezeremonie. Dem Koran folgend war alles andere auf dieser öffentlichen Bühne, was sonst im Sport üblich ist, ausge­schlossen. Das Sportstadion war kein Ort der Schlemmerei, schon gar nicht alkoholi­scher Genüsse. Die ausländischen Gäste hatten sich wie selbstverständlich den moslemischen Vorgaben unterzuordnen und nicht zuletzt deshalb zeichnen sich alle arabischen Rituale durch eine besondere Würde aus. Der Prinz von Katar eröffnete feierlich den Grand-Prix und mit dem Verlassen der königlichen Familie war der Grand-Prix beendet.

„Inshallah“: mit diesem Wort machen sich Europäer meist über Araber lustig, wenn Termine nicht eingehalten werden. In der Tat ist das Zeitverständnis der Araber für viele Europäer nur mit Mühe nachzuvollziehen. „Komm‘ ich heut‘ nicht, komm‘ ich morgen“ – ist ein geflügeltes Wort in Katar. Vor dem Meeting musste man immer wieder beobachten, dass vereinbarte Besprechungen nicht eingehalten wurden, dass Termine höchst variabel sein konnten, die für Treffen festgelegt waren, dass man sich eine arabische Geduld anzueignen hatte, wollte man sich nicht selbst mit unnötigem Ärger belasten. Das Meeting jedoch war mehr als pünktlich, es begann wie im Programm ausgewiesen und endete exakt zu jener Minute, die im Programm als Ende festgelegt war. Verträge mit dem Fernsehen haben ganz offensichtlich ihre Wirkung hinterlassen. Aber damit kommt noch mehr zum Ausdruck: Europäer müs­sen immer wieder überrascht zur Kenntnis nehmen, dass vieles trotz einer zunächst bestehenden Skepsis gelingt, dass man sich wundert, wie perfekt am Ende alles klappt, obgleich in der Vorbereitung aus der Sicht der Europäer alles darauf hinge­deutet hatte, dass das Ereignis selbst zu einem Desaster wird.

In Katar konnte man nicht nur auf diesem Gebiet als Fremder von Fremden sehr viel lernen. Gewiss ist ein 100 m-Lauf in Katar nichts anders als ein 100 m-Lauf in Köln und Sven-Oliver Buders 20,88 m waren eine Leistung, wie er sie schon in vielen Sta­dien der Welt erbracht hatte. Doch nicht nur für die Athleten wurde deutlich, dass sich die Leichtathletik bei aller Identität der einzelnen Wettkämpfe durch eine äußerst vielfältige kulturelle Variabilität auszeichnet und dass man sich davor hüten muss, die Maßstäbe aus der europäischen Welt auf die Sportkulturen anderer Kontinente anzuwenden. Wer sich wie alle männlichen Gäste dieses Grand-Prix-Meetings von Doha in einen Araber hat verkleiden dürfen, der konnte am eigenen Leibe verspüren, was es heißt, plötzlich einer Gemeinschaft von Gleichen anzugehören, bei der die Mode nur sehr bedingt Unterschiede erzeugt. Die Frauen dieser arabischen Männer haben die ausländischen Gäste nicht zu Gesicht bekommen, denn den Frauen war der Zugang zum Athletenhotel ebenso verwehrt wie der Zugang zum Stadion. Offiziell war wohl davon die Rede, dass zum ersten Mal auch Frauen als Zuschauer bei diesem Leichtathletik-Meeting teilnehmen dürfen, doch möglicherweise gab es einen freiwilligen Verzicht, denn im Stadion selbst waren die Frauen der Kataris nicht anzutreffen. Ein Seminar für Frauen in der Leichtathletik ging dem Grand-Prix voraus und auch dabei wurde deutlich, dass die Trennung zwischen Männern und Frauen für die Kataris nach wie vor ein äußerst wichtiges Anliegen ist. Das Seminar fand unter Ausschluss von Männern statt und entsprach damit genau jener Exegese des Koran, wie sie für den saudi-arabischen Raum gültig ist.

Ich selbst hatte die Gelegenheit, einen Vortrag vor Repräsentanten der arabischen Leichtathletik zu halten und war mit dem Gegenteil konfrontiert. Frauen waren nicht zugelassen, es war ein Referat eines Mannes für Männer und es wurde dabei deutlich, dass für die verantwortlichen arabischen Funktionäre auch zukünftig die Leicht­athletik eine Sache der Männer sein sollte. Dies schließt ein Engagement von arabi­schen Frauen im arabischen Sport nicht aus. Im Gegenteil. Frauen sollen ihren Frauensport organisieren, Männer ihren Männersport. Und eine getrennt-geschlecht­liche Ausübung der Sportarten gemäß den Vorschriften des Koran ist jene Körperkul­tur, die von beiden Seiten gefordert und gefördert wird. Der Islam ist keineswegs körperfeindlich und er kann schon gar nicht als eine Religion interpretiert werden, die sich gegen ein aktives Sporttreiben ausspricht. Muslime verweisen mit Stolz auf Mohammed, dem sie eine Reihe von sportlichen Aktivitäten zuschreiben. Sie weisen auf die Wichtigkeit des Wohlbefindens und der körperlichen Fitness hin, die gerade auch für den gläubigen Mohammedaner von grundlegender Bedeutung ist. Sie lehnen aber ebenso entschieden ab, wenn der Sport zum Glücksspiel verkommt, wenn der Sport zum Vehikel für Sünden und Gefährdungen wird. Im Alkoholgenuss sehen Moslems eine Bedrohung des Sports und selbstverständlich wird von den Sporttreibenden erwartet, dass sie ihren Pflichten, insbesondere dem täglichen Gebet, entsprechen, so wie der Koran sie vorgibt. Wenn der Sport solche bedeutsa­men Werte der islamischen Gesellschaft gefährdet, so kann er keine Zustimmung finden. Wenn er sich auf einem ethischen Fundament des Korans ereignet, so findet er die volle Unterstützung der islamischen Religion. Auch diese von Europäern oft missverstandenen Auffassungen konnten die Athletinnen und Athleten, die Trainer, die Funktionäre und Manager in den Tagen von Doha lernen. In jeder Sprache stand im Athleten-Hotel für jeden Athleten ein Buch zur Verfügung, mit dem er in die Grundlagen und in die wichtigsten Suren des Koran eingeführt werden konnte. „So viel Wasser, Tee und Orangensaft habe ich noch nie in meinem Leben innerhalb von wenigen Tagen getrunken, wie es in Doha der Fall war.“ So und ähnlich wurden die Gebote des Koran kommentiert. Für alle, die in Doha waren, war es eindrucksvoll, in eine fremde Kultur einzutauchen, mit Bräuchen, Ritualen, Überzeugungen und Meinungen konfrontiert zu sein. Mittelalter und Moderne treffen bei diesen Erfahrun­gen in einer Intensität aufeinander, wie es wohl an keinem anderen Ort der Welt noch möglich ist. In die europäische Heimat fliegt man zurück mit tiefen Eindrücken, mit intensiven Erlebnissen und mit vielen Fragen, auf die es sich lohnt, eine Antwort zu finden.

Letzte Überarbeitung: 28.06.2020