Forschung für Athleten

Prinzipien zur Forschungsberatung von Athleten¹

Sportlicher Erfolg ist in diesen Tagen immer häufiger von Forschungserfolgen abhängig, die Wissenschaftler zu Gunsten der Wettkampfleistungen von Athleten¹ erbracht haben. Forschung zu deren Gunsten ist in erster Linie eine kreative und systematische Arbeit, die von Wissenschaftlern unternommen wird, um den Stand unseres Wissens über den Hochleistungssport zu erweitern und neue Anwendungen zum vorhandenen Wissen über den Hochleistungssport zur Beratung der Trainer und Athleten bereitzustellen. Hierzu bedient sich der Wissenschaftler verschiedenster Forschungsmethoden. Für ihn selbst muss dabei die Devise gelten, die uns der amerikanische Astrophysiker Neil de Grasse Tyson anschaulich empfohlen hat: „Do whatever it takes to avoid fouling yourself into thinking that something is true that is not, or that something is not true that is”. Das wissenschaftliche Handeln muss also vom Selbstzweifel geprägt sein und die eigenen Erkenntnisse können immer nur so lange Gültigkeit beanspruchen bis sie von neuen Erkenntnissen widerlegt werden.  Wissenschaftler, die Trainer und Athleten beraten, müssen die Tugend des Selbstzweifels ernst nehmen und sie müssen sich der Grenzen ihrer Beratung immer bewusst sein. Den größten Fehler machen dabei jene Sportwissenschaftler an der Seite von Athleten und Trainern, wenn sie sich selbst als die Ursache des sportlichen Erfolgs und einer erreichten Leistungssteigerung der von Ihnen betreuten Athleten sehen und dies auch öffentlich zur Darstellung bringen. Sportwissenschaftler, die Trainer und Athleten in ihrem Training und in ihrem Wettkampf beraten, müssen sich vielmehr durch Bescheidenheit auszeichnen und sie müssen erkennen, dass der sportliche Erfolg den Athleten gehört, die diese Erfolge erbracht haben.

Sind Sportwissenschaftler in ihrer Arbeit direkt auf Organisationen des Hochleistungssports ausgerichtet, wie dies derzeit zum Beispiel bei den Forschungsabteilungen jener Fußballklubs der Fall ist, die in der Champions League spielen, oder wie dies in Deutschland für das FES und für das IAT gilt, so kommt die Arbeit der Forscher einem „Filter“ zwischen der immer komplexer werdenden Umwelt des Clubs, des Trainingsstützpunkts oder des Leistungszentrums gleich. Die Umwelt muss dabei in externe und interne Umwelt unterschieden werden und es ist die Aufgabe der Forscher aus jener Umwelt nur je jene relevanten “Signale” an die Trainer und Athleten heranzuführen, die für ihre Leistungsentwicklung relevant sind, und sie vor allem unnötigen „Rauschen“ aus der komplexen Umwelt heraus zu bewahren. Dies kann allerdings nur gelingen, wenn Trainer und Athleten bereit sind, auf diese “Signale” zu hören und auf jede unnötige Verschwendung von Ressourcen zu verzichten.

Beratung als kommunikativer Prozess

Die Tätigkeit des Forschers zugunsten der konkreten Praxis des Hochleistungssports sollte deshalb einem nahe liegenden Prozessmodell folgen:

  • Dessen Ausgangspunkt ist in einer Problemstellung zu sehen, die der Forscher zu verstehen   hat („Understand the Problem“.
  • Hat er das Problem verstanden, so macht er sich auf die Suche nach Lösungen, die ihm die Sportwissenschaft mit ihren bisherigen Erkenntnissen zur Verfügung stellen kann.
  • Reichen diese Erkenntnisse nicht aus, sucht er neue Erkenntnisse in Bezug auf sein Problem, das heißt ein eigener Forschungsprozess wird als notwendig angesehen und durchgeführt („Search and Select a Solution“).
  • Das Ganze mündet in der Entscheidung über eine oder mehrere Lösungsvorschläge, die denjenigen, die vom Problem betroffen sind, unterbreitet werden. D.h. der Forscher leitet die notwendige Veränderung ein, durch die die Lösung des Problems erreicht werden kann („Facilitate the Innovation“).
  • Die Intervention in der Praxis zugunsten der Lösung des Problems bedarf schließlich einer ständigen Evaluierung („After Action Review“).

Angesichts der Tatsache, dass in der Praxis des Hochleistungssports meist mehrere Probleme gleichzeitig anzutreffen sind, bedarf es für den beratenden und teilnehmenden Forscher einer besonderen Prioritätensetzung. Betrachten wir zum Beispiel eine Mannschaft der Fußball-Bundesliga so handeln dort im Umfeld einer Mannschaft mit Ihrem Kader von meist mehr als 20 Spielern oft mehr als 100 weitere Personen, die mit ihrer Arbeit und  mit ihren Stäben direkt oder indirekt auf den Erfolg der Bundesliga-Mannschaft ausgerichtet sind. Jeder dieser Stäbe hat Beratungsbedarf. Die Mannschaften in der Premier League in Großbritannien unterscheiden zum Beispiel folgende Stäbe:

  • “Coaching Staff”
  • “Medical Staff”
  • “Scouting Staff”
  • “Recruitment Staff”
  • “Ground Staff”

Es ist möglich, dass jeder dieser Stabsbereiche Problemstellungen aufzuweisen hat, bei deren Lösung wissenschaftliche Erkenntnisse eine Hilfe sein können. Da jedoch die Forschungsteams, die direkt in die Praxis des Hochleistungssports eingebunden sind, personell begrenzt sind, bedarf es dringend einer Prioritätensetzung.

Forschungsberatung als Prozess

Die Dauer des Forschungs-und Beratungsprozesses kann sehr kurz sein. Sie kann aber auch Monate und Jahre dauern. Für das Gelingen des Prozesses sollten einige wichtige Merkmale beachtet werden. Dies gilt sowohl für das beratende Forschungsteam als auch für die zu beratenden Personen innerhalb der Institution des Hochleistungssports.

  • Für die bevorstehende Beratung ist es von größter Bedeutung, dass die Festlegung von Problemen und die wichtigen Fragestellungen aus der Praxis des Hochleistungssports selbst herausgestellt werden. Deshalb muss vor allem am Beginn des Beratungs – und Forschungsprozesses die Kommunikation mit den Trainern und Spielern stehen. Die Mannschaftsärzte sind ebenfalls mit einzubeziehen und andere wichtige Stakeholder sind mit ihren Meinungen und Ideen zu berücksichtigen.
  • Auf der Grundlage dieser Kommunikation kann das Beratungs- und Forschungsteam mit den Verantwortlichen in der Institution die Frage nach hoher, geringer oder moderater Priorität begründet beantworten. Nachdem gemeinsam entschieden wurde, welche Probleme geringere oder mittlere Priorität aufweisen und deshalb noch zurückgestellt werden können und welche Probleme sich durch hohe Priorität auszeichnen, kann die Suche nach der Lösung dieses Problems beginnen.
  • Bei dieser Suche stellt sich zunächst die Frage, ob das Problem über einen internen Prozess gelöst werden kann oder ob man extern nach Lösungen suchen muss. Ist Letzteres der Fall so muss man sich um die Kooperation mit den besten externen Experten weltweit bemühen Hierzu sind möglicherweise größere finanzielle Ressourcen erforderlich. Kooperationen mit den internationalen Sportorganisationen wie zum Beispiel mit der FIFA oder mit World Athletics, aber auch mit dem IOC, können dabei besonders wichtig sein, da dort möglicherweise bereits geeignete wissenschaftliche Ressourcen existieren, auf die man zurückgreifen kann. Dadurch kann auch die finanzielle Belastung der eigenen Forschungsvorhaben reduziert werden. Auch eine Kooperation mit anderen nationalen Sportfachverbänden ist sinnvoll und meist zielführend. Reicht für die Lösung des Problems der interne Weg, so bedarf es einer gezielten Erarbeitung von Empfehlungen, die möglicherweise auf der Grundlage eines internen Forschungsprojektes erarbeitet wurden.
    Der Weg der internen Problemlösung ist im Vergleich zum externen Lösungsweg oft kurzfristiger und dauert mitunter nur Stunden, Tage oder Wochen. Hingegen sind beim externen Weg Monate und ggfls. auch Jahre zu berücksichtigen, um die notwendigen Empfehlungen und Anwendungen für die Praxis zu erarbeiten.
  • Nach dem Forschungsprozess erfolgt die eigentliche Beratung durch das Forscherteam gegenüber den Trainern und Athleten. Die Beratung muss in einer verständlichen Sprache erfolgen. Die wichtigsten Stakeholder der jeweiligen Institution des Hochleistungssports sollten über die Beratung informiert werden. Die Schlüsselempfehlungen sollten klar herausgearbeitet sein. Die Integration der Erkenntnisse in eine neue Praxis bedarf der ständigen Überwachung. Am Ende bedarf die gesamte Intervention einer Evaluation.

Zukünftige Möglichkeiten rechtzeitig erkennen

Wollen und sollen Athleten mit ihren Trainern auf Dauer international konkurrenzfähig sein, so ist es wichtig, dass das sie begleitende Forschungsteam in der Lage ist, frühzeitig die technologische Zukunft von Training und Wettkampf zu erkennen, um das technologisch „Mögliche“ für ihre Athleten und Trainer rechtzeitig zu projizieren und den Weg zu navigieren, der als Nächstes ansteht. Bei einem derzeit noch immer zu beobachtenden exponentiellen Anstieg und Wachstum unseres Wissens und unserer technologischen Möglichkeiten muss es darauf ankommen, neben den sehr vielen „möglichen Veränderungen“ die „wahrscheinlichsten” und insbesondere die “erfolgversprechendsten” Veränderungen“ herauszuarbeiten. Zur Lösung dieser Aufgabe ist für das Forschungsteam eine Kooperation mit Experten sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene dringend erforderlich.

Beim World Economic Forum wurde unter anderem die folgende „Informationslinse“ zur Betrachtung möglicher Zukunftsszenarien vorgestellt (vgl. Abb.1):

 

Abb. 1: Information LEnS

In dem Bericht des Welt-Ökonomie-Forums zu den ‘ Zukünften‘ der Technologie wird mit vier verschiedenen Linsen in die Zukunft geschaut. Neben dem Blick auf die Zukunft der Erziehung, die Zukunft des Lokalen und die Zukunft der Ökonomie wird mit der „Information Lens“ die Zukunft der Information betrachtet. Sie verdeutlicht die Komplexität der Aufgabe, die in Bezug auf zukünftige Informationstechnologien bevorstehen, wobei es die besondere Herausforderung sein muss, aus der allgemeinen Beobachtungsperspektive in eine sport- und anwendungsspezifische Perspektive zu gelangen, die für die zu betreuenden Trainer und Athleten realistisch und erwartbar und verwertbar ist.

Ausgehend von unserem Wissensstand und unserer aktuellen Situation und mit Blick auf die nahe Zukunft scheint die Aufwertung des „Primat der privaten Daten“, der Sachverhalt der „ständigen Erreichbarkeit aller, die in einem Handlungssystem beteiligt sind“, und die „Cyber – Sicherheit“ von größter Bedeutung zu sein und es ist zu vermuten, dass sich auf diesen Gebieten bereits in naher Zukunft für den Hochleistungssport größere Herausforderungen stellen werden.

Aufgabenbereiche sportwissenschaftlicher Beratung

Die Problemfelder und die Fragestellungen, die aus unterschiedlichen Aufgabenbereichen vorliegen, bzw. sich ergeben, können von Sportart zu Sportart höchst unterschiedlich sein. Grundsätzlich lassen sich jedoch für die Arbeit mit Hochleistungssportlern und deren Trainern und des übrigen betreuenden Personals einige generelle Arbeitsbereiche festlegen. Auch bei der Frage, welche Arbeitsbereiche dabei besonders wichtig sind, können uns professionell betriebene Sportarten wie vor allem die amerikanischen Mannschaftssportarten und der europäische Fußball verschiedene „Best-Practice“ Lösungen anbieten. Im englischen Premier League Verein Arsenal London stellt dessen Forschungsteam zum Beispiel in folgenden Arbeitsbereichen wissenschaftlichen „Impact“ zur Verfügung (vgl. Abb. 2):

Abb. 2: Forschungsbereiche

In Abhängigkeit von der Größe des Forschungsteams, das einer Institution des Hochleistungssports, einem Verein, einem Verband oder einem Trainingszentrum zur Verfügung steht, wird es notwendig sein, innerhalb der verschiedenen Arbeitsfelder Einzelprojekte zu definieren und ihre Dringlichkeit festzulegen. So hat zum Beispiel bei Arsenal London das Projekt „Reduktion der Verletzungsrisiken“ und das „Profiling der Spieler“ höchste Priorität ebenso wie die Frage, was aus ernährungsphysiologischer Sicht die „beste Ernährung“ für die Fußballer dieser englischen Profi-Mannschaft sein sollte.

Bei der Durchführung der verschiedenen Forschungsprojekte ist es meist nicht notwendig, völlig neue wissenschaftliche Forschungsvorhaben auf den Weg zu bringen. Das „Rad” muss also notwendigerweise nicht noch einmal neu erfunden werden. Wichtiger ist vielmehr, dass man sich nach Best-Practice-Beispielen umschaut, dass man also seine eigenen Augen für Best-Practice Beispiele offenhält. Dies setzt eine Offenheit gegenüber nationalen und internationalen Kooperationen voraus, die möglichst auch sportartübergreifend sein sollten. Mit Beobachtungsstudien ist der eigene „Tellerrand“ zu überschreiten und auf der Grundlage der Beobachtungen sollte ein Qualitäts-Rating stattfinden und die Evidenz des externen Materials für die eigenen Belange bewertet werden, um dann zu abgewogenen Empfehlungen für die eigene Arbeit zu kommen. Hierzu ist vor allem eine internationale Social Media Präsenz dringend geboten.

Kreativität ist erwünscht

Die Suche nach Best-Practice Beispielen kann dabei durchaus als kreativer Prozess betrachtet werden, bei dem auch Fragen in den Blick kommen, die möglicherweise bei einem ersten Augenschein als nicht besonders wichtig erachtet werden, diese sich jedoch in der Zukunft möglicherweise als relevant erweisen könnten. Auch hierbei kann uns das Forschungsteam von Arsenal London in gewisser Weise als Vorbild dienen. Mitglieder dieses Forschungsteams suchen derzeit innerhalb der „World of Science“ mögliche Antworten auf von ihnen erarbeitete Fragestellungen, die aktuell noch Verwunderung hervorrufen:

  • Können Pflanzen in Trainingseinrichtungen und Wettkampfstätten zukünftig der Garant für      reine Luft für die trainierenden Athleten sein?
  • Sind mit Hilfe von „Künstlicher Intelligenz“ die neuen Fußballstars zu finden? Wie kann Künstliche Intelligenz beim Scouting eingesetzt werden?
  • Können Neuro-Lernstrategien die Entscheidungsprozesse von Spielern verbessern?
  • Kann Virtual Reality Training eine wichtige Rolle beim Training im Fußball spielen?
  • Ist regenerative Medizin die Zukunft, um die Heilung von Verletzungen zu beschleunigen?
  • Ist Künstliche Intelligenz wirklich der richtige Weg, um Verletzungen vorherzusagen und den Weg des verletzten Spielers zurück zum aktiven Spiel zu prognostizieren?

Der Kreativität eines betreuenden Forschungsteams für eine Institution des Sports sollten vom Auftraggeber keine Grenzen gesetzt werden. Vielmehr muss es darum gehen, dass der zukünftige Hochleistungssport sich durch eine innovative Kultur auszeichnet, für die die Athleten und ihre Trainer ebenso verantwortlich sind wie die sie beratenden Forschungsteams. Jedes Wettkampfanalysesystem ist noch steigerungsfähig. Die Suche nach einem tragfähigen Algorithmus zur Talentvorhersage ist noch längst nicht abgeschlossen. Die regenerative Medizin wird immer häufiger und immer dringender notwendig werden und bei der Therapie von verletzten Athleten sind noch viele interessante Methoden, wie zum Beispiel die „Flotation Therapie“ zu erwarten. Nicht immer wird dabei ein Lösungsbeitrag in Bezug auf das Problem erbracht werden, das zu Beginn der Intervention von Trainer und Athleten gemeinsam mit ihren Forschungspartnern als relevant bewertet wurde. Doch bei einer Kooperation zwischen sportwissenschaftlicher Forschung und leistungsintensiver Praxis der Trainer und Athleten liegt dies gleichsam in der Natur der Sache. Forschungsinitiativen müssen und können immer nur offene Prozesse eröffnen, deren Ausgang ungewiss ist. Die Erkenntnisse von Forschung haben immer nur so lange Gültigkeit solange sie nicht widerlegt werden

Anmerkung: Dieser Essay wäre wohl ohne einen Vortrag von Ian Mac Call, Research and Development Director von Arsenal London, den dieser zum gleichnamigen Thema im „Athletic Performance Center“ in Thalgau (Österreich) im März dieses Jahres gehalten hat, nicht möglich gewesen. Seine wichtigen Anregungen und meine jahrzehntelangen Erfahrungen im Hochleistungssport sind die Grundlage für die vorliegenden Ausführungen.

Letzte Bearbeitung: 16.April 2022

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.