Der russische Dopingskandal hat bereits vor den Olympischen Spielen in Rio weltweite Empörung ausgelöst. Das IOC und die internationalen Sportorganisationen werden dabei zu Recht in ihrer Glaubwürdigkeit in Frage gestellt. Es wird ein transparenter Anti-Doping-Kampf gefordert, bei dem die sauberen Athleten geschützt sind und die Täter weltweit unabhängig ihres Ansehens und unabhängig ihrer Macht in den internationalen Sportorganisationen einer gerechten und konsequenten Strafe zugeführt werden. In Deutschland wird die Forderung nach einer Kollektivhaftung und Kollektivstrafe des gesamten russischen Systems besonders lautstark vorgetragen. Sie scheint so populär zu sein, dass in ihrem Anschluss auch ein Verbot der Ausführung internationaler Sportveranstaltungen in Russland gefordert wird. Die Bob- und Skeleton-Weltmeisterschaft fand deshalb in Deutschland statt, selbst die nächste Fußball-Weltmeisterschaft wird von dieser Forderung nicht ausgeschlossen.
Die Forderung nach Kollektivhaftung hat in den deutschen Medien Karriere gemacht. Printmedien legten vor, Ton- und Bildmedien folgten und verstärkten diese Forderungen und im Internet wird mittlerweile eine polemische Hetze im Zusammenhang mit dieser Forderung gegen Russland geführt. Grundlage für alle diese Forderungen sind zwei Untersuchungsberichte des kanadischen Juristen McLaren, dessen Berichte im Wesentlichen auf den Aussagen eines russischen Kornzeugen beruhen, der sich selbst bezichtigt, den russischen Skandal an zentraler Stelle der russischen Anti-Doping-Agentur organisiert zu haben. Dr. Grigori Rodschenkow hat mittlerweile Russland verlassen und in den Vereinigten Staaten um Asyl nachgefragt. Aus juristischer Sicher haben die sogenannten McLaren-Berichte den Charakter einer Anklageschrift, deren Beweiskraft noch zu überprüfen wäre und der sich in einem ordentlichen Gerichtsverfahren zu bewähren hat. Die in den Berichten recherchierten Fakten erscheinen äußerst glaubwürdig, lassen ein durchdachtes Betrugssystem vermuten, das vor allem die russische Anti-Doping-Agentur RUSADA zu verantworten hat. Direkt und indirekt namentlich erwähnt werden circa 1.000 Athletinnen und Athleten verschiedener olympischer Sportarten. Von den Forderungen nach Kollektivhaftung und Kollektivstrafe sollen aber nicht nur diese Athleten betroffen sein, vielmehr sollen sämtliche Leistungssportler des russischen Hochleistungssports von allen zukünftigen Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften ausgeschlossen werden. Andere möglicherweise schuldige Verantwortliche, z.B. Funktionäre oder Politiker werden von diesen Forderungen nicht erfasst. Auch die Frage der Dauer des Ausschlusses wird von jenen, die diese Forderungen erheben, bislang nicht beantwortet. Mit ihrer Forderung nehmen sie aber in Kauf, dass das Prinzip „in dubio pro reo“ über Bord geworfen wird.
Meines Erachtens ist dabei problematisch, dass der nötige Kausalnachweis des russischen Dopingbetruges durch eine bloße Wahrscheinlichkeitsvermutung erbracht wird. Ein Vollbeweis für den Dopingbetrug der meisten russischen Athleten wurde bis heute noch nicht vorgelegt. Auf diese Weise können Fälle geschaffen werden, in welchen unschuldige Athleten für Verfehlungen anderer einzustehen haben, über die sie selbst keine Kontrolle besitzen. Je mehr wir uns im Bereich der Beweislastumkehr oder der Vermutungen befinden, ist dieses Zusatzrisiko kollektiver Haftung außergewöhnlich hoch. Wenn der Beklagte faktisch oder rechtlich nicht den Beweis erbringen kann, dass seine Handlungen nicht kausal für den Schaden waren, dann bedeutet dies nichts anderes als dass er für die Handlungen anderer einstehen muss. Experten sprechen dabei von einer asymmetrischen Kollektivverantwortung, wobei die Haftung insofern asymmetrisch ist, als nur ein Mitglied des Haftungskollektivs feststeht, während andere Mitglieder im Nebel der ungeklärten Kausalverhältnisse unsichtbar bleiben.
Der Schutz des Individuums und die Würde der Person werden dabei ganz offensichtlich gering erachtet. Die individuelle Freiheit des Individuums, die jedoch ein zentrales Merkmal einer modernen Demokratie darstellt, wird suspendiert. John Rawls hat deshalb in seiner Theorie der Gerechtigkeit mit Nachdruck den folgenden Grundsatz formuliert: „Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohls der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann. Daher lässt es die Gerechtigkeit nicht zu, dass der Verlust der Freiheit bei einigen durch ein größeres Wohl von anderen wettgemacht wird“ (John Rawls, A theory of Justice, 1971, 9).
Folgt man den Befürwortern einer Kollektivhaftung, so hat in Russland Systemdoping stattgefunden und Systemdoping verlangt demnach nach Systemstrafen, ohne dabei allerdings zu klären was man mit dem Begriff „System“ und „systematisches Doping“ meint. Erinnern wir uns an die Dopingskandale der vergangenen Jahrzehnte, so wäre eine Klärung des Begriffes Systemdoping allerdings hilfreich. Welchen Charakter hatte der amerikanische Balco-Skandal, welche die deutsche Telekom-Dopingaffäre? Wie ist das Doping der DDR in der Vergangenheit einzuschätzen? Wie systematisch war das Doping in der alten Bundesrepublik? Wären die USA und Deutschland nicht ebenfalls von allen internationalen Sportwettkämpfen auszuschließen gewesen, wenn man mit der Forderung nach Kollektivhaftung ernst machen möchte? Warum wurde diese Forderung zu früheren Zeiten nicht erhoben?
In Deutschland wird die Forderung nach einer Kollektivhaftung lautstark vorgetragen, um damit gleichzeitig einen deutschen IOC-Präsidenten in Frage zu stellen. Es sind allerdings mehr als zweifelhafte Gründe, die den Anti-Doping-Kampf zu einer personalisierten Sache werden lassen. Das Böse, das Infame ist dabei in der Person des IOC-Präsidenten zu suchen. Der populistischen Forderung nach Kollektivhaftung folgen selbstredend mehrere Leitartikler großer Tageszeitungen und einige opportunistische Politiker, die vor allem an öffentlichen Auftritten interessiert sind. Das in deutschen Medien schon seit längerer Zeit gepflegte „Feindbild Bach“ (Putin-Freund, Wirtschaftsanwalt) kommt dabei gerade Recht. Dabei wird jedoch verschwiegen, dass die Position die Dr. Bach als IOC-Präsident vertritt, die Position des internationalen Komitees darstellt, die bis auf eine Enthaltung von sämtlichen Mitglieder des IOCs beim letzten Kongress beschlossen wurde. Das heißt vor allem aber auch, dass einige deutsche Präsidenten der internationalen Fachverbände aber auch IAAF-Präsident Sebastian Coe dieser Position zugestimmt haben und man sich fragt, warum sie von der personalisierten Kritik ausgenommen sind. Gerecht und fair scheint diese Vorgehensweise nicht zu sein.
Mit den Begriffen Gerechtigkeit und Fairness wird das eigentliche Problem des russischen Dopingskandals angesprochen, das bislang allerdings nur sehr unzureichend bearbeitet wurde. Schon seit längerer Zeit wird die Suche nach der Gerechtigkeit im System des Sports auf eine juristische Frage verkürzt. Juristen gelten als die einzigen ethischen Experten, obgleich die Ethik als Theorie der Moral eine philosophische Teildisziplin darstellt, welche vor allem in der Theologie, Pädagogik und Soziologie von Bedeutung ist. Doch in den Ethikkommissionen des Sports finden sich ausschließlich Juristen, die sich meist nicht bewusst sind, dass ihr juristisches Handeln auf philosophischen Grundlagen beruht. Die Fragen die im Sport zu klären sind, sind keineswegs so eindimensional zu beantworten, wie dies von diesen Juristen angenommen wird. Der russische Dopingskandal ist in erster Linie eine sportethische Herausforderung. Es geht im Zentrum um die Fragen des Fair Play und der Gerechtigkeit.
Bei der ethischen Diskussion dieser Fragen gibt es durchaus die Möglichkeit Individuen zu bestrafen, ohne dass diesen eine konkrete Tatbeteiligung nachgewiesen werden muss. Die Möglichkeit einer Kollektivhaftung ist unter ethischen Gesichtspunkten somit gegeben. Eine kausale Zuordnung einer Tat wird dabei durch eine kollektive Zurechnung ersetzt. Beispielhaft könnte hierbei die Rechtsprechung zur italienischen Mafia sein, wo alleine die Zugehörigkeit zur „cupola“ Grund genug ist, um die Mitglieder der „cupola“ kollektiv zu bestrafen. Auch in der Frage der Umwelthaftung gibt es tragfähige Argumente, die eine Kollektivhaftung nahelegen. Eine Grundbedingung dabei ist jedoch, dass die Verluste individueller Verantwortung durch Gewinne durch die Kollektivverantwortung aufgewogen werden sollten. Ist dies nicht der Fall, so sollte die Individualhaftung der Kollektivhaftung vorgezogen werden. Wenn es eine Systemverantwortung und damit eine Systemschuld gibt, dann ist streng zu prüfen, ob es für diese systemische Verantwortung nicht eine weitere Verantwortung, und zwar ein personale gibt.
Im System des Sports sind jedoch diese Bedingungen nur bedingt oder gar nicht anzutreffen. Zum einen ist die Frage der Mitgliedschaft des Athleten zur „cupola“ des russischen Sportsystems nicht geklärt. Wie überhaupt die Frage der Mitgliedschaft von Spitzensportlern nur unklar beantwortet wird. Die große Mehrheit ist nicht einmal Mitglied eines eingeschriebenen Vereins. Ungesichert ist auch die Mitgliedschaft von Funktionären, Politikern, Ärzten und Trainern. Viele Beispiele aus der Vergangenheit haben gezeigt, dass deren Kollektivhaftung juristisch nur ganz selten durchzusetzen ist. Noch entscheidender ist, dass ein Zugewinn an Gerechtigkeit und Fair Play durch die Kollektivhaftung aller Athleten nicht sichtbar ist. Warum soll ein russischer Handballspieler, in dessen Sportart international über Jahrzehnte so gut wie keine Dopingfälle angemahnt wurden, von den Olympischen Spielen ausgeschlossen werden, obgleich er jährlich mehrere Tests über sich hat ergehen lassen und sich dabei immer als sauberer Athlet erwiesen hat. Warum soll dieser Athlet für die Korruption und die Verbrechen seiner Funktionäre haften, die er möglicherweise noch nie gesehen hat und deren Handeln er aus naheliegenden Gründen nicht beeinflussen kann? Ist es gerecht, wenn Athleten, die sich vier Jahre auf Olympische Spiele vorbereitet haben, der Start bei Olympischen Spielen verboten wird, hingegen ihre Funktionäre, insbesondere die verantwortlichen politischen Akteure in diesem Spiel, nach wie vor in Amt und Würden ihre Arbeit fortsetzen? Sportminister Mutko wurde bislang von keiner seiner Verantwortlichkeiten entfernt. Er selbst hat sich freiwillig keiner seiner Einflüsse entzogen. Es ist auch bis heute nicht erkennbar, dass Staatspräsident Putin auch nur ein Zeichen von Reue und Einsicht erkennen lassen würde. Die Annahme, dass die Kleinen gehängt werden und die Großen davonkommen ist deshalb durchaus berechtigt.
Bei einer Forderung nach Kollektivhaftung im Sport sind aber auch aus der Perspektive einer juristischen Gerechtigkeit Zweifel angebracht. Die Entscheidung zur Kollektivhaftung kann nur auf der Grundlage angemessener und ausgewogener Gesetze und schriftlich niedergelegter Regeln erfolgen. In diesen Gesetzen müsste das Verhältnismäßigkeitsprinzip beachtet werden, ebenso muss ein rechtmäßiger Strafvollzug garantiert sein. Es bedarf aber auch einer Verfahrensgerechtigkeit. Anerkannte Verfahrensregeln sind einzuhalten ohne Ansehen der Person. Inzwischen beschlossene tragfähige neue Regeln können rückwirkend keine Gültigkeit besitzen. Nur so kann eine Rechtsdisziplin bewahrt werden. Zu diesen anerkannten Regeln gilt vor allem, dass nur auf der Grundlage einer richterlichen Entscheidung die Frage nach der Kollektivhaftung entschieden werden kann. Diese Entscheidung hat es in Bezug auf das infrage gestellte russische Kollektiv bis heute nicht gegeben. Populistische Forderungen im Vorfeld einer solchen Entscheidung sind dabei mehr als fragwürdig. Insbesondere dann, wenn sie von Juristen vorgetragen werden, die es eigentlich besser wissen müssten. Schließlich gehört auch zur juristischen Gerechtigkeit eine formale Gerechtigkeit, die darauf hinweist, dass alle gleich gelagerten Fälle auch gleich zu behandeln sind. Wäre dies der Fall, so müssten aus naheliegenden Gründen vergleichbare Verfahren nicht nur gegen Russland eingeleitet werden. Verdachtsmomente gibt es in Bezug auf viele Spitzensportnationen und bei manchem System, so zum Beispiel beim chinesischen Sportsystem, stellt sich auch die Frage, in wie fern es sich überhaupt von außen überprüfen lässt. Transparenz und Glaubwürdigkeit sind verständliche Forderungen. Die Frage nach ihrer Umsetzbarkeit ist jedoch bis heute nicht beantwortet.
Angesichts all dieser ungeklärten Fragen ist es mehr als angebracht, wenn auf allen Ebenen des Sports dem Individualstrafprinzip (Person-Schuld-Strafe) das Wort geredet wird. Möglichkeiten der Systemstrafe müssen dem Individualprinzip unterstellt werden, womit einer Systemstrafe, eine Strafe ohne personal schuldige Täter, eine Absage zu erteilen ist.
Verfasst: 09.01.2017