Erziehung und Bildung – eine sportpolitische Redewendung ohne Wert

In der modernen Welt des Sports ist spätestens mit dem Beginn der modernen Olympischen Spiele eine eigenständige Rhetorik entstanden, die sich in den politischen Reden über den Sport widerspiegelt. Wie in jedem uns bekannten politischen Bereich sind auch im Bereich der Sportpolitik eigenständige Topoi entstanden, die sich durch stereotypische Redewendungen auszeichnen. „Ohne Breite gibt es keine Spitze“, „Spitzensportler sind Vorbilder für unsere Gesellschaft“, „Sport erhält den Menschen ihre Gesundheit“, „In einem gesunden Körper ist ein gesunder Geist“, „Solidarität und Kameradschaft prägen den Sport“: ganz gleich ob ein Staatspräsident oder ein Sportminister, ein Sportverbandspräsident oder eine Präsident der Arbeitgeber oder der Gewerkschaften sich über die Bedeutung des Sports äußert, fast immer sind derartige Zitate in den Reden anzutreffen.

Immer wiederkehrende Begriffe wie „Bildung“, „Erziehung“ und „Wert“ werden dabei in einer ethisch kaum noch verantwortbaren Weise verwendet. So wie es für die Entwicklung eines Topos typisch ist, ist jeder dieser Topoi im Bereich des Sports zu einem festgefügten Klischee erstarrt. Er hat die Funktion eines Ersatzstückes, es handelt sich um einen konventionellen Gemeinplatz. Die Verwendung dieser Begriffe im Sprachgebrauch des Sports ist dabei keineswegs folgenlos. Vielmehr gelingt es auf diese Weise jenen, die in ihrer Rhetorik die Begriffe verwenden, den Sport zu legitimieren. Das Phänomen des modernen Sports wird mittels dieser Topoi ideologisch umgarnt, um damit die eigentlichen Funktionen die der Sport heute erfüllt zu ermöglichen. Diese liegen jedoch meist nicht im Bereich der Erziehung und Bildung sondern nahezu ausschließlich im Bereich der Ökonomie. Der Fußball und die meisten weiteren olympischen Sportarten ereignen sich als Leistungs- und Zuschauersport nahezu ausschließlich zum Zwecke der Kommerzialisierung. Der dabei entstandene Kommerz dient dabei sowohl den Sportlern und deren Organisationen, als auch der Wirtschaft, den Medien und letzten Endes auch dem Staat.

Die herrschende Ideologie des Sports dient dabei der Verschleierung und der Rechtfertigung der tatsächlich existierenden Verhältnisse im System des Sports. Die Sportrhetorik erzeugt den notwendigen Schein, um die herrschenden Verhältnisse zu legitimieren. Wo immer Politiker oder Funktionäre des Sports über die Funktionen des Sports öffentlich sprechen, wird deshalb monoton die Erziehungsfunktion des Sports an erster Stelle herausgestellt. Der Sport wird als vorzügliches Medium der Werteerziehung deklariert, für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen ist der Sport demnach unverzichtbares Handlungsfeld und jede Sportorganisation sieht sich als Gralshüter der Leibeserziehung des öffentlichen Schulwesens. Jedes Parteiprogramm thematisiert die Bedeutung von Erziehung und Bildung mittels Sport und jede Parlamentsdebatte über den Sport ist von diesem Thema geprägt. Erziehung und Bildung prostituieren sich dabei wie eine Hure und die Funktionäre aus Politik und Sport sind dabei die Freier, die sich ihrer Befriedigung sicher sein können.

Die anzutreffende Realität der leiblichen Erziehung und der Sporterziehung in öffentlichen Bildungswegen spricht jedoch eine ganz andere Sprache. Mehr als zwei Stunden pro Woche werden diesem Thema in den Schulen dieses Landes nicht gewidmet. Die Ausstattung vieler Schulsporthallen ist völlig unzureichend und neueren didaktischen Zielsetzungen im Bereich der Gesundheitserziehung kann nur selten entsprochen werden. Die Ausbildung der Sportlehrer, insbesondere für den Kindergarten und den Primarbereich, ist nach wie vor mangelhaft. Gleiches gilt für die sportbezogenen Weiterbildungsprogramme für die Sportlehrer an öffentlichen Schulen. Im Kanon der Fächer hat der Sportunterricht eher eine nachgeordnete Bedeutung. Schwimmunterricht verdient schon seit längerem seinen Namen nicht, es ist sogar eine zunehmende Zahl an Nichtschwimmern zu beklagen. Die Fitness von Kindern und Jugendlichen wird immer mehr vernachlässigt und völlig unzureichend gefördert. Die jüngsten sportwissenschaftlichen Studien zur Fitness von Kindern und Jugendlichen zeigen uns hierzu alarmierende Befunde.

Den eigentlichen Nutzen dieser ideologischen Verwendung der Begriffe Werte, Erziehung und Bildung haben dabei vor allem die Akteure in der heutigen Welt des Hochleistungssports. Der Hochleistungssport, der sich nahezu ausschließlich materiell ausgerichtet hat, der in erster Linie der Gewinnmaximierung dient und an dem aus ökonomischer Perspektive vor allem die Medien, die Wirtschaft, die Veranstalter, die Sportorganisationen, deren Funktionäre, die Athleten und deren Manager profitieren, kann auf diese Weise nahezu widerstandslos seinen Geschäften nachgehen. Manipulation, Korruption und Betrug sind innerhalb des Systems des Hochleistungssports längst zu kennzeichnenden Merkmalen geworden. Einen wirklichen Schaden können sie dem Sportsystem angesichts der gelungenen ideologischen Verwendung des Erziehungs- und Bildungstopos jedoch kaum zufügen. Die Verfehlungen im Hochleistungssport mögen noch so groß sein, die vorgegebene pädagogische Wertewelt des Sports lassen sie immer wieder schnell vergessen.

letzte Überarbeitung: 27.07.2018