Der Donnerstag ist ein besonderer Tag

Pünktlich um 13.30 Uhr treffen sie sich. Jeden Donnerstag sitzen sie auf der Bank vor einem der schönsten Häuser Unterwössens direkt gegenüber vom Rathaus und beraten über ihre Donnerstagstour. Fritz Döllerer ist dabei der Garant für eine kluge Entscheidung. An zu heißen Tagen wählt er eine Route mit Schatten, droht Regen so ist eine kurze Rückfahrt eingeplant Die Ziele sind jedes Jahr dieselben. Der Streichen-Gasthof steht ganz oben auf der Liste der Ziele. Die Jochberg-Almen und die Rechenbergalm sind ebenso ein Muss wie die Agergschwend- die Bäcker- oder die Feldlahnalm. Die Röthelmoosalm ist ein besonders begehrtes Ziel. Die Touren reichen jedoch auch hinüber nach Österreich zum Mühlberggasthof, zur Franken-und zur Rinderbrach Alm. Entlang der Ache geht es nach Bergen zum Schellenberg oder über Rottau hinauf zur Staffn-Alm. An all diesen Zielen gibt es ein gutes Vesper und beste bayerische Biere,  so auch auf der Staudacher Vorderalm. Nicht zu vergessen sind die Haidenholz-die Hofbauern- und die Oberauerbrunst Alm. All diese Almen sind beispiellose Orte inmitten einer wunderschönen Natur, bei denen es sich lohnt, für ein paar Stunden zu verweilen.

Für die Donnerstagsradler sind es Jahr für Jahr dieselben Ziele. Das entscheidende für sie ist jedoch nicht das Ziel, sondern der Weg. Der philosophisch bedeutsame Satz „Der Weg ist das Ziel“ gilt für das, was sich am Nachmittag eines jeden Donnerstag ereignet, in ganz besonderer Weise. Verlässt man das dicht besiedelte Heimatdorf Unterwössen hat jeder Weg zu dem ausgewählten Ziel Woche für Woche seine Besonderheiten. Unser Mountainbike-Team wird von einer Fauna begleitet, die an Schönheit wohl kaum zu übertreffen ist. Woche für Woche wechselt sie ihr Farbenkleid. Am Wegesrand ist eine Blütenvielfalt zu bewundern, die es leider in vielen Regionen Deutschlands schon lange nicht mehr gibt. Am Anfang sind es die Schneeglöckchen, die weißen Anemonen und die Schlüsselblumen. Es folgen die Krokusse auf den Höhen der Chiemhauser Alm. Trollblumen und Teufelskrallen zieren unseren Weg. Eine Löwenzahn-Vielfalt bringt gelbe Teppiche hervor. Der Enzian und die Schusternägele zeigen uns ihre volle Pracht in der Nähe der Oberauerbrunstalm. Es folgen Küchenschellen, Hahnenfüsse, Veilchen Glockenblumen  und Primel. Ein Höhepunkt ist ein Irisfeld in Staudacher Moor, aber auch die Silberdisteln auf den Jochbergalmen sind ein besonders schöner Anblick. Wir bewundern Orchideen, deren Namen wir nicht kennen, und wir wissen um die Schönheit der angeblich so einfachen Pflanzen, wie die Winde, die Distel, die verschiedenen Kleeblüten oder das Wiesen-Schaumkraut Der Schwalbenwurzenzian begleitet uns im Spätsommer auf die Gscheurer-Wand.  Die Wege, Wiesen und Hügel rund um Unterwössen, die Bergwälder und die Almen weisen eine Blütenvielfalt auf, welche wir angesichts eines weltweiten Artensterbens nicht mehr schätzen können, als es die Donnerstagsradler tun.

Der Weg zum Ziel ist immer mit einem Aufstieg verbunden. Dies bedeutet Anstrengung, Muskelkraft, Schweiß und für manchen auch Erschöpfung. Einige Höhenmeter sind zu überwinden- manchmal sind es mehr als 800 Höhenmeter- und manch kurze Steigung – oft mehr als 15 Prozent- kann sich durchaus mit einer Bergetappe der Tour de France vergleichen lassen. Am Ende wartet aber immer die erholsame Bank auf der Alm, eine Brotzeit oder der Kuchen von der Sennerin, das erfrischende Bier oder ein Spezi als Belohnung. Dazu gehört der prächtige Ausblick auf den Geigelstein, auf den Wilden und Zahmen Kaiser, auf den Unterberg, die Hochplatte oder den Hochgern.

Das Wichtigste für die Donnerstagsradler ist jedoch die Geselligkeit, bei der sie am großen Tisch vor einer Almhütte versammelt sind. Es ist die Zeit der Chiemgauer Geschichtenerzähler. Das Repertoire von Hans Döllerer und Toni Greimel scheint dabei unendlich zu sein. Jeder von uns erinnert sich an ein Schulfach, das in unseren Zeugnissen mit dem Namen „Heimatkunde“ ausgezeichnet war. Was wir mit Toni und Hans erleben, ist Heimatkunde vom Feinsten. So hätte man sich das Schulfach gewünscht. Die Geschichten sind an Originalität und Witz nicht zu übertreffen. Die Anfänge des Tourismus in Unterwössen können dabei Revue passieren, aber auch die vielen historischen Begebenheiten des Achentals werden thematisiert. Von Napoleons Koalition mit den Bayern gegen die Tiroler wird berichtet. Keltische und römische Ursprünge werden entdeckt und über die letzten Bombenangriffe der Amerikaner im 2.Weltkrieg wird aufgeklärt. Aber auch über ein sündiges Unterwössen wird geschmunzelt, indem es neben Dirndl auch Dirnen gab. Eine Stripteasebar war besonders gut besucht und mancher Besuch im Freudenhaus endete mit einem fürchterlichen Krach bei der Heimkehr. Begleitet sind all diese Geschichten  von viel Witz und Humor. Gegenseitige Frotzeleien sind immer angebracht und aktuelle politische und sportliche Ereignisse dürfen bei diesem Männertratsch nicht fehlen Kurzweiliger und unterhaltsamer kann das Verweilen auf einer Alm wohl kaum sein, was meist nicht mehr als 90 Minuten andauert. Denn dann steht die Abfahrt bevor. Man ist dabei wohl sehr schnell wieder im Tal, doch die steilen Forstwege sind auch für die besten Mountainbike-Fahrer immer eine Gefahr. Und so ist man froh, wenn man jeden Donnerstag am späten Nachmittag Unterwössen, unser besonders schönes Dorf im Achental, erreicht hat.