Demokratie im Sport hat ihren Preis

Soziologen¹, Politologen und Wirtschaftswissenschaftler loben den Verein als ideale intermediäre Instanz, die zwischen dem Individuum in seiner Privatheit und dem Staat mit dessen gewünschter Öffentlichkeit vermittelt. Die freiwillige Vereinigung mit dem Namen „Verein“ wird dabei als Einübungsinstanz für demokratische Tugenden gesehen. Das was eine Demokratie im positiven Sinne auszeichnet, kann im Verein gelernt und erfahren werden. Jugendsprecher, Mitgliedsversammlung, demokratische Wahlen, Delegierungsprinzipien von unten nach oben, Mandate auf Zeit, alles was eine gute Demokratie auszeichnet lässt sich in den Organisationen des Sports finden, die auf der Idee des Vereins gründen. Der Verein ist die Versammlungsidee für die Basis des Sports, für die mehr als 90.000 deutschen Turn- und Sportvereine, er ist das Organisationsmodell für die mittlere Ebene, für die Landessportbünde, für die Sportkreise und die Sportbezirke. Er beeinflusst aber auch die Strukturen der nationalen Fachverbände und des Deutschen Olympischen Sportbundes.

Aus einer demokratie-theoretischen Sicht sind dies ideale Sachverhalte. Die Organisationen des Sports sind geradezu ein Musterbeispiel für die Demokratie. Betrachten wir jedoch das institutionelle Handeln der Sportorganisationen etwas genauer, so kann durchaus bezweifelt werden, ob dieses demokratie-theoretische Ideal der Sache des Sports nützt, und ob es auch wirklich so zum tragen kommt, wie man es sich theoretisch erwünscht. Ja es muss vielleicht sogar die Frage gestellt werden, ob der Sport für seine Weiterentwicklung neue Organisationsmodelle benötigt, die nicht der Idee der freiwilligen Vereinigung verpflichtet sind. Schon seit längerer Zeit ist zu beobachten, dass die Mitgliederversammlungen an der Basis daran leiden, dass immer weniger Mitglieder der Vereine an ihnen teilnehmen. Immer schwieriger wird es im Sinne einer lebendigen Demokratie wichtige Positionen über eine echte Wahl zu besetzen. Immer häufiger kommt es zu bloßen Ernennungen. Die Parlamente des Sports haben vielen wichtigen Entscheidungen oft lediglich nur noch zu applaudieren. Eine Diskussion über verschiedene Optionen, ein Ringen um Mehrheiten, das akzeptieren von Minderheitsvoten, all dies kommt immer seltener vor. Die Demokratierituale sind an der Basis erstarrt. Man darf sich deshalb auch kaum wundern, warum es so schwierig ist, junge Menschen für verantwortliche Positionen der ehrenamtlichen Führung in den Vereinen zu finden.

Sehr viel gravierender und wesentlich problematischer sind die Verhältnisse in den Dachorganisationen des Sports. Im Gegensatz zur Basis lässt sich dort eine aktive Mitgliedschaft beobachten. So sind in der Regel fünfzehn bis zwanzig Landesverbände die Mitglieder eines deutschen Fachverbandes. Sie werden repräsentiert durch ihre Präsidenten, die so genannten „Landesfürsten“, und diese stellen das Parlament einer Sportart dar. Gemäß der Satzung fast aller Fachverbände nehmen diese Landesfürsten für sich in Anspruch, die Geschicke eines nationalen Sportfachverbandes zu bestimmen, die wesentlichen Fragen zu diskutieren und im Sinne eines Aufsichtsrats die gewählten Repräsentanten, das Präsidium des jeweiligen Verbandes, zu überwachen und gegebenenfalls zu sanktionieren. Diese eigenartigen Parlamente tagen in der Regel zwei- bis dreimal pro Jahr. Bei jeder dieser Sitzungen steht das gewählte Präsidium eines Fachverbandes auf dem Prüfstand. Arbeitsprogramme werden abgesegnet, der Haushalt ist zu diskutieren und festzulegen, über die Vergabe von Meisterschaften wird entschieden und im Sinne einer unendlichen Geschichte wird darüber debattiert, was Aufgaben der Landesverbände sind und was die Aufgaben des nationalen Spitzenfachverbandes sein sollten. Neben den Landesverbandspräsidenten ist die gesamt Exekutive, einschließlich der Hauptamtlichkeit eines Verbandes anwesend. Der Präsident mit seinem Präsidium hat zu informieren, hat sich zu rechtfertigen, hat um Zustimmung zu bitten. Die mächtigen Herren aus den Landesverbänden sind meist gönnerhaft. Sie können aber auch drohen und wenn die Zeit der Versammlung schon fortgeschritten ist, können sie auch großzügig sein.

Betrachtet man von außen diese eigenartige Versammlung, so bleiben im besten Fall Irritationen zurück. Landesverbandspräsidenten äußern sich zu Fragen des Hochleistungssports, obgleich sie selbst so gut wie keine relevanten Beiträge in ihren Landesverbänden zur Entwicklung der Sportart erbringen. Sie verlangen Befugnisse, obgleich sie keine Verantwortung zu übernehmen bereit sind, wenn es z. B. um finanzielle Risiken geht. Es finden Kommunikationsrituale statt, die meist folgenlos sind. Themen und Probleme, die eigentlich per E-Mail gelöst werden könnten, werden zeitraubend diskutiert. Die Landesverbandspräsidenten „spielen mit den Muskeln“, obgleich sie wissen, dass sie für all das, was in diesen Sitzungstagen auf der Tagesordnung steht, keine tragfähige Verantwortung übernehmen können. Nur in den seltensten Fällen sind sie bereit, auf Landesverbandsebene daraus Konsequenzen zu ziehen.
Dies alles geschieht nicht aus einer bösartigen Haltung der Verbandspräsidenten gegenüber dem jeweiligen Präsidium heraus. Fast alle Verbandspräsidenten sind vielmehr Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die in der Region, die sie delegiert hat, wichtige gesellschaftliche Rollen einnehmen. Sie sind u.a. Anwälte, Direktoren, Ärzte oder Unternehmer, und sie haben sich zu einer ehrenamtlichen Tätigkeit bereit erklärt ohne hieraus einen materiellen Nutzen zu ziehen. Ihr Handeln als Gruppe entzieht sich jedoch aller Gütemaßstäbe, die sie in ihren eigenen Verantwortungsbereichen als wichtig erachten.

Irritieren muss aber auch, dass das gewählte Verbandspräsidium gemeinsam mit seinen Hauptamtlichen auf diese Sitzungen wie verhext in ihrem Denken und Handeln ausgerichtet sind, dass sehr viel Zeit aufgewendet wird, um die richtige Taktik zu finden, damit die Versammlungen möglichst konfliktfrei gestaltet werden können. Von außen wird dabei auch sichtbar, dass dabei sehr viel Personal und Geld aufgewendet wird, um diese Sitzungsrituale zu überleben, wohl wissend, dass diese Rituale ohne jegliche Bedeutung für die alltägliche Arbeit sind. Lediglich von außen wird dabei auch klar, dass der gewählte Präsident mit seinem Präsidium eigentlich sehr frei schalten und walten kann, ohne dass er jemals effektiv von diesem Gremium einer Kontrolle unterworfen werden kann. Es wird auch klar, dass die Hauptamtlichkeit in ihrer Arbeit über Freiräume verfügt, die durch dieses pseudodemokratische Parlament nicht beeinträchtigt werden können.

Gravierend ist dabei jedoch, dass durch die sich nahezu totalisierend auswirkende Ausrichtung auf diese Verbandsrepräsentanten wichtige Arbeiten der Spitzenfachverbände liegen bleiben, entscheidendere Reformen nicht vorangebracht werden und die zwingend erforderlichen Modernisierungsprozesse innerhalb der Sportart nur langsam vorangehen. Wer die Aufgaben eines Spitzenverbandes etwas genauer betrachtet, der wird sehr schnell erkennen, dass dieses Organisationsmodel wenig effizient und eigentlich nicht zu verantworten ist. Wer im Hochleistungssport erfolgreich sein möchte, der benötigt Organisationen, die Handlungsfähigkeit ermöglichen, die es möglich machen, dass in kürzester Zeit reagiert werden kann, um die notwendigen Reformen mit professioneller Unterstützung auf den Weg bringen können.

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letzte Bearbeitung: 21.8.2022