Chiemgauer „Dirndldrahn und Schuhplatteln“ – der besondere tanzkulturelle Wettbewerb

Lacrosse, Sambo, Netball oder Sepak Takraw sind Namen für Sportarten, die als „nicht olympische Sportarten“ bezeichnet werden, jedoch längst ihre eigenen Weltmeisterschaften aufzuweisen haben und dabei einen wichtigen Beitrag für eine globale Bewegungs-, Spiel- und Sportkultur erbringen, durch die sich unsere Menschheit auszeichnet. Nicht weniger wichtig für die Kultur der unterschiedlichen Gesellschaften sind die Körper- Wettkampf- und Spielkulturen, die keine globale Reichweite aufweisen, meist eher nur auf lokaler und regionaler Ebene gepflegt und ausgeübt werden. Fast jedes Land und fast jede Gesellschaft weist dabei ihre eigenen Besonderheiten auf. Manche der kulturellen Muster sind dabei oft kaum mehr zu erkennen, befinden sich in einem Niedergang oder sind bereits verloren gegangen. Andere sind noch lebendig und werden sorgfältig gepflegt.

Das Bundesland Bayern kann dabei für Deutschland auf eine ganze Vielfalt eigenständiger bewegungskultureller Wettkampfmuster verweisen. Fingerhakeln, Ranggeln, Maibaum- kraxeln, Steinheben, Stockschießen, Holzhacken, Holzsägen, Forstdreikampf, Goaßlschnalzen können dabei beispielhaft erwähnt werden.
Für mich war in diesen Tagen einmal mehr ein Wettkampftag des „Dirndldrahn und Schuhplatteln“ ein gelungenes Beispiel für bewegungskulturelle Wettkampfmuster, mit der sich die Schönheit und Originalität der bayerischen Kultur darstellen lässt.

Unterwössen, ein Ort in den Chiemgauer Alpen, in dem ich gemeinsam mit meiner Frau nun bereits seit acht Jahren ein sehr schönes neues Zuhause für unseren Lebensabend gefunden habe, war Gastgeber des „Chiemgauer Dirndldrahn und Schuhplatteln“ Wettbewerbs. Unterwössens neu gestaltetee Achental- Halle war Sonntagmittags nahezu bis auf den letzten Platz besetzt als die ersten jungen “Buam“ und „Dirndl“ ihre besonderen Tanzkünste präsentierten. Auf dem ersten Blick sah man keinen Unterschied zwischen den „Athletinnen“ und „Athleten“ und ihren Zuschauern, denn Lederhosen, Wadenstrümpfe und Dirndl, stilvoll und farbenfroh, waren die Kennzeichen aller Anwesenden.
Dem Autor dieses Essays, mit Sommer -Shorts und Polo-Shirt bekleidet, war beim geplanten Eintritt sehr schnell klar, dass er bei dieser besonderen Festgemeinde nichts verloren hatte, obgleich der Eintritt zu dieser Veranstaltung öffentlich und kostenfrei war. Der Wettbewerb, so erschloss es sich für mich durch meine Beobachtung durch die offenen Türen von außen, war ganz gewiss keine Veranstaltung, die lediglich für die vielen Touristen des Achentals angeboten wurde, was häufig bei derartigen Veranstaltungen angenommen wird. Es war vielmehr ein Familienfest für diejenigen, die sich wirklich noch als die Einheimischen bezeichnen können, und sie zeigten dabei, dass es im Chiemgau noch immer eine schöne und eigenständige musikalische Körperkultur gibt, die gelebt und gepflegt wird. Bei Temperaturen um 30° sorgten Bier und Limonaden an allen Tischen für die wünschenswerte Abkühlung und Obstler und Brotzeiten trugen dazu bei, dass die mehrstündigen Präsentationen der jugendlichen Plattler und der sich drehenden Dirndl mit Interesse und viel Beifall verfolgt werden konnten.

Für mich als jemand, der sich ein Leben lang mit dem Sport in aller Welt auseinandergesetzt hat, weckte mein Blick durch den Türspalt auf diese Veranstaltung einmal mehr ein besonderes Interesse an diesem Phänomen eines besonderen bayerischen Wettkampfes , nachdem ich bereits im ersten Jahr meiner Chiemgauer Zeit die gleiche Veranstaltung, die damals jedoch im Freien abgehalten wurde, über mehrere Stunden habe mit erleben dürfen. Das in mir geweckte Interesse hat zu vielfältigen Recherchen und Anfragen geführt und deren Ergebnis soll mit den folgenden Ausführungen vorgestellt werden. Für manche Begriffe könnte dabei (nicht nur für die sog. „Preußen“, zu denen für einige Oberbayern des Chiemgaus bereits all jene zählen, die nördlich von München wohnen), eine kleine Übersetzungshilfe notwendig sein. Sie findet sich am Schluss dieses Essays.

Die Anfänge des Wettbewerbs “Dirndldrahn und Schuhplatteln“ reichen bis zum Jahr 1800 zurück. Die Holzwirtschaft hatte zu dieser Zeit auch im bayerischen Alpenvorland eine herausragende volkswirtschaftliche Bedeutung. Für die Holzarbeiter („Holzknechte“), deren Arbeitskraft die Grundlage dieses Wirtschaftssektors bildete, war ihre Körperkraft das entscheidende Kapital und dabei auch ihr ganzer Stolz. Es war wohl nahe liegend, dies auch in einem besonders kraftvollen Tanz darzustellen und zu feiern. Gleichzeitig wollte man sich wohl auch mit dieser körperlichen Demonstration bei den anwesenden Dirndln auf sich aufmerksam machen. Es handelt sich also um einen Werbetanz, bei dem der Bursch um die Gunst des Dirndls wirbt. Er wurde dem Balztanz der Spielhähne (Birkhähne) nachempfunden. Später rückte die Fähigkeit, sich selbst oder gemeinsam mit einer Gruppe einem dörflich geprägten Zuschauerkreis eine besondere Mischung aus Musikalität, Körperbeherrschung, Schnellkraft und tänzerischer Präzision zu demonstrieren immer mehr in den Vordergrund. Ein bedeutender Zeitpunkt in den Anfängen der Schuhplattelns war die Vorführung vor König Maximilian II auf dessen Reise durch das bayerische Gebirge im Jahr 1858. Der Chiemgau spielte dabei für die Weiterentwicklung des Preisplattelns und des Dirndldrahns in Bayern eine wichtige Rolle.

So wurde der „Haushamer Plattler“, auch „Vögelfanga“ genannt, zum ersten Mal in Hohen Aschau 1880 geplattelt. 1891 fand in Miesbach ein Preisplatteln statt und die ersten schriftlichen Regeln für das Platteln wurden 1911 niedergelegt. Der Chiemgauer Alpenverband gründete sich 1926. In Unterwössen fand ein Jahr später das erste Gau – Preisplatteln statt. Nach dem zweiten Weltkrieg fand bereits 1946 in Grassau wieder ein Gau – Preisplatteln statt. Seitdem findet es jedes Jahr ohne Unterbrechung bis heute statt. Dem Gauverband gehören mittlerweile 23 Vereine an.

War zunächst das Preisplatteln eine reine Männersache, so wurde 1960 das „Gaudirndldrahn“ eingeführt und der erste neue Wettbewerb fand am 22. Oktober 1960 im „Gasthof zur Post“ in Grassau statt. Bis heute erfolgt das Dirndldrehen auf der Grundlage derselben Regeln wie damals. Beim Dirndldrahn werden zunächst ein Walzer, dann ein Plattler, erneut ein Walzer und ein Abschlussplattler getanzt. Nach dem Walzer erfolgt jeweils ein „Ausdrahn“ und nach dem ersten Plattler das „Einfangen“.

So wie im Chiemgau finden in Bayern unter der Federführung des bayerischen Trachtenverbandes in 21 verschiedenen Gauverbänden jährlich die Plattler- und Dirndldrahn-Wettbewerbe statt. Beim Platteln lassen sich verschiedene Stile unterscheiden.
Der Stil der Chiemgauer Plattler gilt als leichtfüßig, rund und spritzig. Elegante Bewegungsabläufe und die Lautstärke der Schläge auf Schuhen und Hosen kennzeichnen die Chiemgauer Art. Üblicherweise wurde der Plattler nur zu „Landler- Melodien“ getanzt. Die Schläge auf Schuhe und Hose folgen dabei einem Dreiviertel- Takt. Im Chiemgau gibt es noch
eine weitere Variante, den sog. „Marschplattler“. Er folgt auf Marsch- und Polkamelodien und wirkt besonders kräftig, wenn 20 Buam gemeinsam und ohne Dirndl auftreten.

Das Dirndldrahn zeichnet sich dadurch aus, dass die Dirndl sich nach einem gemeinsamen Walzer mit dem Buam so schnell es geht auf der Stelle mit möglichst sehr kleinen Schritten drehen. Sie gleichen einem Kreisel, der sich um den Buam dreht. Dieser plattelt währenddessen zur jeweiligen Melodie. Nach 16 Takten fängt der Buam sein Dirndl, um wieder einen Walzer mit ihr zu tanzen. Wichtig ist dabei, dass sich das Dirndl unabhängig vom Takt so schnell wie möglich „in sich“ dreht, aber dabei nur eine geringe Vorwärtsbewegung macht. Jeder Auftritt wird musikalisch von einer vierköpfigen Musikkapelle live begleitet. Die Aufführungen lassen sich in Einzel- und Gruppenaufführungen unterscheiden. Bewertet werden die Aufführungen der Buam und Dirndl dabei von Preisrichtern. Die Anzahl der Preisrichter kann variieren. Je nach Bedeutung des Wettbewerbs sind es vier oder sechs Preisrichter. Sie können bis zu zehn Bewertungspunkte vergeben. Es kommt dabei darauf an, dass eine möglichst gerade Körperhaltung gezeigt wird, gestreckte Beine, hoher Stand auf den Zehenspitzen und vor allem die Geschwindigkeit des Drehens sind dabei weitere wichtige Gütemerkmale. Wichtig ist auch ein kräftiges Antreten und Anstoßen, der kräftige Schlag auf Schuhe und Lederhose, die horizontale und lotrechte Armhaltung, die Füße im Winkel die gestreckten und geschlossenen Hände die Einhaltung eines Tanzkreises und eine perfekte Kleidung. Das Einfangen der Dirndl erfordert eine gute Abstimmung zwischen Dirndl und Buam, Taktgefühl und eine gute Einschätzung der Geschwindigkeit des Dirndl. Wenn die Harmonie zwischen Dirndl und Buam stimmt, dann geht die Drehgeschwindigkeit der Dirndl flüssig in den ersten Walzerschritt über. Im Chiemgau wird das Dirndl an der rechten Hand gefangen. Während im übrigen Bayern das Einfangen über die Schulter verbreitet ist. Wie bei jedem Sport können sich die Akteure auch beim Dirndldrahn und Platteln über Fehler ärgern, die zu Punktabzügen durch die Preisrichter führen. Besonders ärgerlich ist es, wenn der Loifei, der Hosenträger oder der Hut verrutscht, wenn man aus dem Kreis tritt oder aus dem Takt kommt und Schläge falsch angesetzt werden. Als Preise werden meist Sachpreise ausgelobt, doch besonders wichtig sind die Ehrennadeln für die Besten, die Medaillen und die Pokale.

Wie bei fast allen sportlichen Wettbewerben hat sich auch beim Dirndldrahn und Schuhplatteln sehr schnell herausgestellt, dass eine besondere Ausrüstung die Qualität der angestrebten Präsentation verbessert. Ein guter Trachtenschuh ist dabei besonders wichtig. Er sollte möglichst eine dünne Ledersohle aufweisen, damit es beim Platteln besonders schön knallt. Die Schuhe sind meist manufakturgefertigte schwarze Haferl -Schuhe, mit Hakenschnürung, die es bereits seit 1803 in Bayern gibt.

Das Platteln und Drahn will gekonnt präsentiert werden. Deshalb hat es ein beständiges Üben und Trainieren zur Voraussetzung. In den Vereinen gibt es sogenannte „Vorplattler“, die vor allem für die aktiven Dirndln und Buam zuständig sind. Bei den Wettbewerben selbst werden Jugendklassen, aktive Klassen und Seniorenklassen unterschieden. Die Vorplattler werden vom Gauverband in vielfältiger Weise betreut. Für die Chiemgauer Vereine war es eine besondere Ehre, dass sie die Eröffnungsfeier der XX. Olympischen Sommerspiele in München 1972 mit einer bestimmten Anzahl an Dirndl und Buben mitgestalten konnten. Gleiches gilt für ihre Auftritte bei den Fußball- Weltmeisterschaften in Deutschland.

Wie bei jedem Sport ist der Weg vom Anfänger bis zum Könner auch beim Platteln oft schwierig und lang. Die ersten Schritte zum Schuhplatteln beginnen mit dem so genannten „Häusei“. Bei ihm wird bereits Haltung, Bewegungsablauf und das Musikgehör geschult. Dem „Häusei“ folgen der „Birkenstoaner“ und der „Gauschlag“, der bereits Schläge rückwärts auf die Schuhsohle erfordert. Danach folgen Doppelschläge und der Hochsprung und auch Außensprünge. Mit 18 gehört dann der gut trainierte Bua den „Aktiven“ an. Bei seinem Plattelauftritt trägt er dann die volle Montur, die für die Chiemgau-Plattler typisch ist, aber durchaus auch kostspielig sein kann: Schwarze Haferlschuhe, gemusterte Loiferln oder Strümpfe nach Vereinsart, bestickte Lederhose mit Hosenträger,schwarzer Ranzen oder Leibl, weißer Pfoadl mit Schmisei oder Spange beziert, grüner Trachtenhut mit dazugehörigem Hutschmuck.

Für die vielen verschiedenen getanzten „Schuhplattler“ gibt es eine originelle Namensgebung. Meist lässt sie auf die Herkunft des Tanzes schließen. Es gibt aber auch Tänze, die mit Namen von bestimmten Personen verbunden sind, so u.a. im Chiemgau den „Ribeaupierre“ der zu Ehren von dem gleichnamigen Baron aus Marquartstein getanzt wurde. „Alter Häuslratz“, „Inzeller“, „Stoa Klopfer“, „Mangfalltaler“, „Marquartsteiner“ und nicht zuletzt auch „Wössner“ heißen heute die wichtigsten Plattlertänze.

Wie das Platteln weist auch das Dirndldrahn seine eigenen Gütemaßstäbe auf. Im „Brevier der Tanzkunst“ aus dem Jahr 1879 heißt es noch, dass das „Drahn“ einen Ländlertanz repräsentiert, „wobei das Mädchen mit sittig gesenkten Augen still sich fortdreht, der Bursch indes sie umkreisend auf allerlei Weise seine Freude und Liebe ausdrückt. Er stampft mit den Füßen, klopft mit den Händen nach dem Takt der Musik auf Schenkel, Knie und Fußabsätze…“ Heute legt eine gute Dreherin besonderen Wert auf ihren Rock, der während des Drehens fast waagerecht liegt und einen Reif von 8 cm bis Handbreite erkennen lässt. Mit aufrechter Körperhaltung dreht sich das Dirndl auf den Zehen drehend zum Takt der Musik. Das Dirndl trägt schwarze Dirndlschuhe, Wollstrümpfe und Spitzenhose, Trachtenrock mit Mieder, Geschnür, Schultertuch und Dirndlhut und die flach am Rock aufliegende Schürze.

Durch einen Beobachter von außen wie mir, dem es nicht mehr vergönnt ist, in aktiver und authentischer Weise das Dirndldrahn und Schuhplatteln zu erleben, kann die besondere Schönheit, aber auch die Komplexität dieses Tanzwettbewerbs immer nur in Teilen erfasst werden. Doch können solche Beschreibungen möglicherweise doch dazu beitragen, dass wir erkennen, dass sich die Spiel-, -Sport- und Körperkulturen unserer Gesellschaft nicht nur in den Aktivitäten des modernen Sports erschöpfen, sondern dass sie eine kulturelle Vielfalt aufweisen, die es zu schützen und zu erhalten gilt. Vielleicht haben die Ausführungen aber auch zur Folge, dass der eine oder andere Leser neugierig geworden ist und den Wettbewerb des Dirndldrahn und Schuhplatteln einmal mit eigenen Augen auch erleben möchte. Der Chiemgau lädt hier zu ein.

Kleine „Übersetzungshilfe“

  • Buam = Knabe, aber auch Mann
  • Dirndl = Mädchen, aber auch Frau
  • Drahn = Drehen
  • Ratz = Ratte
  • Pfoadl = Hemd
  • Schmisei = farbige Seidenkrawatte, mit Nadel am Hemd befestigt
  • Loiferl = kurze, verzierte Strümpfe, die nur die Waden bedecken
  • Ranzen= verbreiterter Bandgurt
  • Leibl= ärmellose Weste

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letze Bearbeitung: 16.07.2022