Beweggründe des Leistungstrebens im kommerziellen Spitzensport

Es gibt gute Gründe, zwischen Handeln und Verhalten zu differenzieren. Mit dem Begriff des Verhaltens lassen sich all jene Erscheinungsweisen, Tätigkeiten und Aktivitäten beschreiben, die sich bei Lebewesen beobachten lassen. Das Verhalten von Tieren ist dabei vom Verhalten des Menschen zu unterscheiden. Der Begriff des Handelns bleibt nur der Beschreibung von Äußerungsformen des Menschen vorbehalten. Er verweist auf solche beobachtbaren Verhaltensweisen, denen Intentionen zugrunde liegen, über die sprachlich Auskunft gegeben werden kann, die somit auf das Engste an das Sprach- und Denkvermögen des Menschen geknüpft sind. Über Handeln kann der Mensch selbst nachdenken, seinen Handlungen liegen Denkprozesse zugrunde und kaum eine Metapher ist besser geeignet als die der Kybernetik, um dieses Handeln zu kennzeichnen. Für das Handeln lassen sich somit Beweggründe, Motive, Ursachen von Handeln, das Handeln selbst und die Resultate, die Konsequenzen und Folgen des Handelns unterscheiden. Prozesse, die das Handeln bedingen, beeinflussen auch dessen Konsequenzen und umgekehrt. 

All diese allgemeinen Beschreibungen sind von Bedeutung, will man die Beweggründe für den Spitzensport, die Beweggründe von Athletinnen und Athleten beschreiben, die Menschen es nahelegen, sportliche Höchstleistungen in freiwilliger Weise zu erbringen. Der entscheidende Informant¹ ist somit der Athlet oder die Athletin selbst, wenngleich dieser Informant möglicherweise nicht immer sehr zuverlässig ist. Spricht man über die Beweggründe des eigenen Handelns, so kann nicht notwendigerweise vorausgesetzt werden, dass alle Beweggründe verbalisiert werden, und ein ausreichendes Reflexions- und Sprachvermögen existiert, das Aufschluss über den erwünschten Sachverhalt gibt. Hinzu kommt, dass Spitzensportler – ähnlich wie alle Menschen es für ihr Handeln in vergleichbaren Befragungen tun – immer mehrere Gründe benennen, warum sie den Weg in den Spitzensport gegangen sind, warum sie aktuell Spitzensport betreiben, warum sie beabsichtigen, weiterhin sich am Spitzensport zu beteiligen. Dies ist ein Indiz dafür, dass für den Spitzensport kein ausschließliches Motiv im Sinne einer Stimulus-Response-Beziehung existiert. Es ist vielmehr ein bestimmtes Set von Motiven erwartbar, das sich durch eine eigenständige Struktur auszeichnet, die sich wiederum von Athlet zu Athlet erheblich unterscheiden kann. Es ist ferner zu vermuten, dass sich dabei Unterschiede von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Kultur zu Kultur ergeben können. Soziale Herkunft, Religionszugehörigkeit, geographisch-ökologische Bedingungen, ethnische Herkunft, Geschlecht, Alter, ja selbst die biologische Konstitution des Athleten bzw. der Athletin können dabei als bedingende Faktoren angenommen werden. 

Bereits bei einem naiven Versuch zur Beantwortung der Frage nach den Beweggründen des Spitzensports wird deutlich, dass all diese Vermutungen ihre Bedeutung haben. Da gibt es zunächst die stereotypen Antworten der Athletinnen und Athleten, die uns allen aus Interviews in den Medien bekannt sind. „Wenn die Sache mir nicht Spaß machen würde, würde ich keinen Spitzensport betreiben.“ „Natürlich will ich auch Geld verdienen, doch dies ist nachgeordnet.“ „Sich mit anderen Menschen zu messen ist eine faszinierende Sache.“ „Der Spitzensport ermöglicht mir Reisen, die mir sonst nicht möglich wären.“ „Die Freude am Sieg ist der schönste Lohn für die harten Strapazen des Trainings.“ Vergleicht man diese Antworten mit den systematischen Deutungen von Wissenschaftlern, die diese bis heute zum Handeln der Spitzensportler vorgelegt haben, so gibt es große Gemeinsamkeiten. Ohne ein gut profiliertes Leistungsmotiv ist Handeln im Spitzensport kaum möglich. Dabei scheint es erstrebenswert zu sein, dass es zu einer ausgewogenen Balance zwischen einer Hoffnung auf Erfolg und der nicht ausschließbaren Angst vor dem Misserfolg kommt. Verfügt ein Athlet über dieses Motiv, so ist es möglich, über viele Jahre intensiv zu trainieren, seine sportlichen Erfolge systematisch zu steigern und damit sein Motiv, das diesem Handeln zugrunde liegt, zu bestätigen und in gewisser Weise zugunsten neuer Erfolge weiterzuentwickeln. Die Bereitschaft zur Leistung und Leistungssteigerung ist vermutlich jedoch auch auf das Engste mit einem Bedürfnis nach „Lust“ verbunden. Leistung und Lust müssen dabei eine enge Symbiose bilden, wenn sich ein Spitzensportler auf Dauer in leistungsthematische Situationen des Spitzensports begibt. Die Lust an der Leistung kommt über die Begriffe „Spaß“ und „Freude“ zum Ausdruck, die in der Regel verwendet werden, wenn Athleten über das sprechen, was sie beim Spitzensport erleben. Leistung ohne Lust scheint somit undenkbar zu sein und es kann deshalb kaum überraschen, dass dann, wenn Athleten den Zusammenhang von Lust und Leistung nicht mehr als gesichert betrachten, sie in der Regel ihre Karriere als Spitzensportler beenden. „Ich habe keine Lust mehr“, lautet die Antwort gegenüber dem Journalisten, der am Ende der Karriere den Athleten befragt, warum er nun seine Karriere als Spitzenathlet beenden möchte. Lust ist im Leistungssport aber nicht nur auf das Engste mit der Leistung verbunden, sondern auch mit dem Erfolg, der sich durch die erbrachte Leistung eröffnet. Erfolge, Leistung und Lust sind somit die zentrale Triade, die das Handeln im Hochleistungssport bedingen. Im modernen Hochleistungssport ist daraus freilich schon längst ein Quartett geworden. Leistung, Lust, Erfolg sind immer häufiger nur dann erfahrbar, wenn auch eine Belohnung zuteilwird. Gehalt, Aufwandsentschädigung, Prämie, Preisgeld, Sponsorenvertrag sind die Namen des vierten Faktors, der immer bedeutsamer geworden ist, will man die Beweggründe für das Handeln im Spitzensport kennzeichnen. Dieses Quartett unterliegt ebenso wie die zentrale Triade fortlaufenden Veränderungen. Für einen jugendlichen Wettkämpfer hat die Triade andere Ausprägungen als für einen Olympiasieger, der sich auf seinen nächsten Erfolg bei den für ihn bevorstehenden zweiten Olympischen Spielen vorbereitet. Das Gefüge von Leistung, Lust und Erfolg verändert sich aber auch in der Biographie eines Athleten selbst. Sozialisationseinflüsse von Elternhaus, Schule und der übrigen bedeutsamen Umwelt für das Handeln im Hochleistungssport bedingen eigene Entwicklungsprofile. Unterschiede von Sportart zu Sportart sind wahrscheinlich. Vor allem aber der Professionalisierungsgrad einer Sportart und deren Einbindung in die sich sehr schnell entwickelnde Ökonomie des Sports werden von Bedeutung sein. Hochleistungssport ist immer häufiger Berufssport, zumindest zeichnet er sich durch die Ausübung einer quasi-beruflichen Tätigkeit auf Zeit aus. Dabei wird es immer offensichtlicher, dass Karrieren früh beginnen können, aber nicht notwendigerweise früh enden müssen, wie dies im 19. und 20. Jahrhundert für den Hochleistungssport prägend war. Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass dem menschlichen Leistungsvermögen im Bereich des Spitzensports wohl Grenzen gesetzt sind, dass aber die Möglichkeit zu sportlichen Spitzenleistungen auch Athletinnen und Athleten gegeben ist, die das einstmals als Grenzwert definierte Lebensalter um eine immer noch wachsende Vielzahl an Jahren überschritten haben. Leichtathletische Karrieren können bis in das 40. Lebensjahr hineinreichen und in einigen olympischen Sportarten sind gar Senioren in der Lage, sich mit sportlichen Spitzenleistungen von Jüngeren zu messen. Meist werden diese zeitlichen Verschiebungen durch die neuen beruflichen Möglichkeiten hervorgerufen, die sich dem Athleten durch seine sportliche Spitzenleistung heute eröffnen. Solange ein „Beruf auf Zeit“ Verdienstmöglichkeiten eröffnet, die bei einer entsprechenden Alternative nicht erkennbar sind, ist es naheliegend, dass Athleten diesen Beruf so lange wie möglich ausüben. Der Vorgang der Verberuflichung des Spitzensportlers verändert aus naheliegenden Gründen auch das Motivgefüge, das seinem Handeln zugrunde liegt. Wie in jedem Beruf wird das berufliche Handeln einem Kosten-Nutzen-Kalkül unterworfen, die ökonomische Seite gewinnt zwangsläufig an Einfluss und wie mancher Berufstätige muss auch ein Spitzenathlet seinen Beruf ausüben, auch dann, wenn die wünschenswerte Lust, der Erfolg und die Freude nur noch bedingt oder gar nicht vorhanden sind. 

Leistungshandeln im Spitzensport – das soll dieser Vergleich zeigen – unterscheidet sich somit nur graduell vom Leistungshandeln in anderen Bereichen unserer Gesellschaft. Es zeichnet sich durch spezifische Bedingungen aus und weist dennoch übergreifende allgemeine Merkmale auf. Es wandelt sich im Kontext eines allgemeinen Wandels, es ist das globale Merkmal zur Kennzeichnung eines Weltsports und es ist das spezifische Merkmal zur Beschreibung der individuellen Qualität eines jeden einzelnen Spitzenathleten. 

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letzte Bearbeitung: 22. 5.2023