Bernd Mühleisen – ein Hochleistungssportler wie es ihn vermutlich heute nicht mehr geben kann

Es war das Jahr 1952 als zum ersten Mal die „Mühleisens“ in mein noch junges Leben eingetreten sind. Mein Vater hatte in diesem Jahr aus beruflichen Gründen seinen Arbeitsplatz gewechselt und eine Stelle bei dem damals noch weltbekannten Textilunternehmen Vollmoeller in Stuttgart- Vaihingen angenommen. Vollmoeller stellte damals die international berühmten Bademoden „Jantzen“ her und hat sich auch mit seiner „Lanova“- Unterwäsche einen guten Namen gemacht. Diesem Unternehmen gehörte ein Mehrfamilienhaus in Möhringen, in dem unsere Familie im ersten Stock zur Miete wohnte. Nur wenige Meter von diesem Haus entfernt gab es eine Schneiderei „Mühleisen“ mitten im Zentrum des Dorfes. Dort wohnten und arbeiteten die Mühleisen, die zu den angesehenen und alteingesessenen Familien Möhringens zählten. Neben Vater und Mutter Mühleisen arbeitete auch der älteste Sohn Dieter als Schneidergeselle in dieser Schneiderei. Bernd, der jüngere Sohn, geboren am 26. Juni 1938, besuchte zu diesem Zeitpunkt die Oberschule in Hohenheim. Mein Bruder Wolfgang war eine Klasse über ihm, meine Schwester Ruth eine Klasse unter Bernds Klasse, gemeinsam mit Lothar Scheffel, der noch im Leben von Bernd und Dieter Mühleisen eine wichtige Rolle spielen sollte, sie alle waren ebenfalls Schüler dieser Schule. Die Oberschule in Hohenheim war zu diesem Zeitpunkt ein Progymnasium, an dem sie damals mit der Mittleren Reife ihren schulischen Abschluss erreichten. 

Bernd hatte im Jahr 1952 gerade die Oberschule in Hohenheim verlassen und hatte eine Ausbildung zum Textilkaufmann bei einem Textilunternehmen in Stuttgart begonnen. In diesem Unternehmen war er in den nächsten Jahrzehnten in leitender Position tätig. Am Ende seiner beruflichen Laufbahn leitete Bernd die Immobilienabteilung des weit über Stuttgart hinaus bekannten Bauunternehmers Epple. Ich habe in diesen Tagen Bernd als den jungen aufstrebenden Kaufmannslehrling wahrgenommen, der jeden Tag schnellen Schrittes mit einem außergewöhnlichen Selbstbewusstsein, teilweise auch mit einer gewissen Eitelkeit und Arroganz seinen Weg durch die Bahnhofstraße in Möhringen zur Straßenbahnhaltestelle bestritt, und der von mir – als dem sechs Jahre jüngeren Schüler – angesichts seines offensichtlichen und herausragenden sportlichen Talents als großes Vorbild wahrgenommen wurde.
Es war jedoch nicht nur die Schneiderei, die die „Mühleisens“ zu einer besonderen Familie Möhringens gemacht haben. Vater Mühleisen war auch der ehrenamtliche Vorsitzende des „Liederkranz Möhringen“ und damit verantwortlich für die Durchführung des damals für das gesamte Dorf sehr bedeutsamen Kinderfests, das jeweils im Sommer 4 Tage lang an einem Wochenende stattfand und seinen Höhepunkt mit einem Brilliant- Feuerwerk spät in der Nacht am letzten Tag hatte. Aus Anlass des Kinderfests wurde auch ein farbenprächtiger Umzug mit bunt dekorierten Festwagen und Fußgängergruppen veranstaltet, bei dem die Kirchen, alle Möhringer Vereine, die Volksschule, die Kleingärtner und noch viele weitere Gruppen beteiligt waren. Für die Kinder waren die Spiele auf der Festwiese der Höhepunkt dieser besonderen Tage. Begehrt war dabei vor allem der Kletterwettbewerb an der über fünf Meter hohen Kletterstange, an der hoch oben ein Ring mit roten Würsten hin. Jeder der die schwierige Kletterpartie erfolgreich bestand, durfte sich vom Ring eine rote Wurst abhängen und sie natürlich auch gleich verzehren. Für sportlich begabte Kinder und Jugendliche, wie Bernd es bereits damals gewesen ist, war die Wurst die erste öffentliche Anerkennung für Ihr besonderes Talent.
Der dritte Grund, der die „Mühleisens“ zu einer anerkannten Möhringer Familie machte, war eben dieses besondere sportliche Talent, das die beiden Kinder und die gesamte Familie Mühleisen begleiten sollte.
Im Mittelpunkt stand dabei zunächst Dieter, der nicht nur ein guter Leichtathlet und Handballspieler war. Mit seinem Arbeitsplatz im Zentrum von Möhringen, im Schneidersitz am Fenster seiner Schneiderei sitzend, war er auch das „Sportbarometer“ für ganz Möhringen. 

Im Vordergrund des Feuerwehrhauses die „Kästla“ aller Möhringer Vereine

Nur wenige Meter von seinem Arbeitsplatz entfernt hing damals an der Feuerwache das „Kästle“. Dies war das wichtigste Kommunikationsorgan des Möhringer Sportvereins, unseres SVM, an dem jeder Vorübergehende anzuhalten hatte, um die neuesten Informationen über das Training, die Wettkämpfe und die Aufstellung der Mannschaften in Erfahrung bringen zu können. Dieter war dabei der „Kommunikationsmanager“, der für Inhalt, Aktualität, Verständlichkeit und Klarheit aller Informationen verantwortlich zeichnete.
Für Bernds außergewöhnliche sportliche Karriere sollte Dieter darüber hinaus eine wichtige Rolle spielen, denn er war nicht nur Abteilungsleiter der Abteilung „Handball“ im SVM. Er war vor allem der Mittelsmann des Handballsports in Möhringen zum Handballbezirk in Stuttgart, zum Württembergischen Handballverband und während der Bundesliga- Zeit des SVM die zentrale Bezugsperson zum Deutschen Handball Bund. 

Die Gründermannschaft des SVM, die den Weg seit 1956 in die Handball-Bundesliga bereitete (mit Dieter r.u. und Bernd Mühleisen r.o.)

Dieter war die gute Seele des Möhringer Handballs und wo immer Hilfe erforderlich war stand er bereit. Er war einer meiner Handball Trainer als ich mit zehn Jahren zum ersten Mal ein Spiel für die D Jugendmannschaft des SV Möhringen bestreiten durfte und in mehreren Jahrzehnten danach stand er als Trainer immer wieder bereit, Nachwuchsmannschaften zu trainieren und wenn jemand ausgefallen war, so war Dieter immer ein vollwertiger Ersatz, ganz gleich welche Aufgabe von ihm abverlangt wurde. Im Feldhandball war Dieter auch als gefährlicher Linkshänder für die erste Mannschaft des SVM über mehrere Jahrzehnte eine ein wichtiger Leistungsträger. Als Rechtsaußen konnte er immer wieder mit seiner „linken Flosse“ mit einem überraschenden Torwurf bei einem kritischen Spielstand überraschen. 

Bernd Mühleisen zu Beginn seiner Karriere in der deutschen Handball- Nationalmannschaft

Die herausragende sportliche Karriere von Bernd kann mit wenigen Worten nachgezeichnet werden. Zunächst machte Bernd durch seine besonderen Leistungen im Fußball und in der Leichtathletik auf sich aufmerksam. Er war der beste Straßenfußballer Möhringens und er spielte zunächst in einer Fußball- Jugendmannschaft des SVM. Gleichzeitig war er einer der besten Leichtathleten Möhringens und seine besonderen Sprintfähigkeiten sollten ihn in seiner sportlichen Karriere im Handball über Jahrzehnte einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil gegenüber seinen Gegnern bieten. Schon als Jugendlicher lief er die 100 unter 11,0 Sekunden. Sein Antritt war geradezu explosiv so wie auch seine „Haken“ beim „1 gegen 1“ im Feldhandballspiel gleichermaßen wie beim Hallenhandball. Doch er war nicht nur schnell, sondern vor allem auch äußerst gewandt und seine sportlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten, seine Ausdauer, seine Sprungkraft, seine Wahrnehmungsfähigkeit und seine Spielintelligenz waren derart umfassend, dass ihm der Weg zu vielen olympischen Sportarten offenstand. Auch damals gab es im Fußball bereits die ersten Talent- Scouts und viele in Bernds Freundes- und Bekanntenkreis hatten angenommen, dass Bernd seinem außergewöhnlichen Talent für das Fußballspiel folgen und seine Zukunft in der Rolle eines Profifußballspielers beim VfB Stuttgart finden wird. Umso mehr musste es überraschen als Bernd seine Entscheidung für den Handballsport getroffen hat, die er – da bin ich mir ziemlich sicher – sein ganzes Leben niemals bereut hat. Seine Entscheidung für den Handballsport begründete Bernd später einmal damit, dass er als Jugendlicher bei seinen Begegnungen mit dem Handball sofort das besondere Anforderungsprofil dieser Sportart und die einzigartige Dramaturgie erkannte, die dieses Spiel aufzuweisen hatte. Vor allem hat ihn jedoch die Kameradschaft der Spieler untereinander und die freundschaftliche Atmosphäre   beim Training und bei den Spielen überzeugt. Das schöne „Spiel mit dem Fuß“ musste Bernd ohnehin durch seine Entscheidung niemals aufgeben, denn für alle Mannschaften, die in Möhringen unter der Leitung von Bernd Mühleisen Handball gespielt haben, war Fußball das beliebteste Trainingsmittel und Bernd konnte über Jahrzehnte beweisen, dass er in diesem Spiel immer noch über das höchste Können verfügte. Seinen Pass als Fußballspieler hatte er noch Jahre lang behalten und immer, wenn die Fußballmannschaft des SV Möhringen in Nöten war, wurde Bernd um Hilfe gerufen und spielte noch bei einigen Spielen mit, um den Abstieg des SVM aus der Fußball-Bezirksliga zu verhindern.
Mir Bernds Entscheidung zu Gunsten des Handballsports begann der Aufstieg der Möhringer Handballer, der von der Kreisklasse bis hinauf in die Bundesliga reichte. Er war dabei an diesem Aufstieg immer in einer doppelten Funktion beteiligt. Jahr für Jahr folgte einer Feldhandballsaison, die von April bis hinein in den Oktober reichte, eine Hallensaison in den Winter Monaten von November bis Ende März.  

Immer wurde mindestens einmal pro Woche, während der Bundesligazeit zweimal, teilweise auch dreimal in der Woche trainiert und am Wochenende fanden die Meisterschaftsspiele in den unterschiedlichsten Ligen statt. Da die erste Mannschaft des SVM nahezu jährlich den Aufstieg in die nächst höhere Klasse erreichte, war man immer wieder mit neuen Gegnern und Mannschaften konfrontiert. Einer der schönsten Erfolge war dabei der Aufstieg der Welt Handballmannschaft in die süddeutsche Oberliga im Jahr 1967. Zu den Auswärtsspielen mussten immer längere Anreisen in Kauf genommen werden und der zeitliche Aufwand für Training und Wettkampf steigerte sich von Jahr zu Jahr. Bernd war immer dabei. Er leitete ohne Unterbrechung das Training der ersten Mannschaft des SV Möhringen über mehr als 20 Jahre. Er war dabei aber immer auch Spielertrainer und ich kann mich nicht daran erinnern, dass er auch nur ein einziges Mal über einen längeren Zeitraum aus Krankheitsgründen, aus familiären oder beruflichen Gründen abwesend war. In seiner Rolle als Spieler, der während der Spiele immer auch seine Traineraufgaben, wie zum Beispiel die Ansage von taktischen Spielzügen oder die Auswechslung von Spielern zu bewältigen hatte, war Bernd der alles überragende Spieler der ersten Mannschaft des SV Möhringen. In jeder Saison warf er die meisten Tore und war der gefürchtete Stürmer zunächst im württembergischen Handball, später in der Handballbundesliga und nicht zuletzt auch im internationalen Handball.
In all den Jahren seiner aktiven Trainer- und Spielerlaufbahn war für Bernd „Innovation“ immer das Gebot der Stunde. Er beherrschte wie kaum ein anderer die unterschiedlichsten Wurfvarianten und erweiterte das Repertoire an taktischen Spielzügen nahezu jährlich, was nicht selten zu einer Überforderung einiger seiner Spieler geführt hatte. Er war einer der ersten in der Welt, der einen Seitfallwurf-an einer Mauer von Spielern vorbei-perfekt im Spiel zur Anwendung brachte. Er beherrschte den Flugseitfallwurf von der äußerst ungünstigen Rechtsaußenposition. Eine Spezialität von ihm war auch sein überraschender und dennoch sehr scharfer Wurf aus dem Handgelenk heraus, ohne dafür eine größere Ausholbewegung zu benötigen. Auf diese Weise war er einer der sichersten 7 m- Schützen. Mit seinen Spielern übte er den „tiefen Druckwurf“ und den verzögerten Sprungwurf, den Sprungwurf mit beidbeinigem Absprung und vor allem auch unzählige Varianten eines schnellen Tempogegenstoßes. Bernd hatte eine außergewöhnliche Auffassungsgabe und konnte gegnerische Schwächen und Stärken bereits nach kurzer Beobachtungszeit erkennen und daraus die notwendigen Schlussfolgerungen für die eigene Mannschaft ziehen. Bei alldem handelte er als Autodidakt, der jedoch ständig bereit war, seine Kompetenz in Bezug auf die Gestaltung des Trainings und die Definition der individuellen Anforderungen an seine Spieler zu erweitern. Auch in der Kommunikation mit seinen Spielern hatte er sich einen eigenen Stil entwickelt, bei dem die individuelle Kommunikation mit jedem einzelnen Spieler zu einer gezielten Steigerung der Leistungsmotivation geführt hat. Das Einzelgespräch war für ihn ebenso wichtig wie die Mannschaftsbesprechung. Mit Bernds Berufung zu den Lehrgängen der Nationalmannschaft und mit seinen Einsätzen bei Länderspielen der deutschen Nationalmannschaft gegen internationale Gegner hatte Bernd für sich selbst wichtige Lernereignisse für das moderne Handballspiel gefunden. Seine neuen Erkenntnisse hat Bernd immer wieder nach seiner Rückkehr von Lehrgängen und Länderspielen nach Möhringen an seine Mannschaft und seine Mitspieler weitergegeben. 

Niemand beherrschte diese Wurfvariante besser als Bernd

Bundestrainer Vick war dabei für ihn ohne Zweifel ein wichtiges Vorbild. Aber auch die mit ihm befreundeten Nationalspieler wie z.B. Bernd Munk, Detlef Finkelmann, Herbert Lübking, mit denen er gemeinsam auf höchstem Niveau seinen Handballsport in Auseinandersetzungen mit Nationalmannschaften aus aller Welt präsentierte, waren für Bernd immer auch die geeigneten Ideengeber für die weitere Entwicklung des eigenen Handballspiels mit seinem SVM.
1960 spielte Bernd in Bern gegen die Schweiz (30:16) zum ersten Mal in der deutschen Handballnationalmannschaft, der er danach sieben Jahre in Folge angehörte und 58 Länderspiele für Deutschland bestritt. Zu dieser Bilanz gehört auch ein Länderspiel im Feld Handball. Den größten Erfolg in seiner internationalen Karriere erreichte Bernd bei der in Deutschland ausgetragenen Handball- Weltmeisterschaft 1961, bei der zum ersten Mal eine Gesamtdeutsche Mannschaft angetreten war und für die sich Bernd qualifizierte. Mit ihr erreichte er den vierten Platz. 1964 nahmen an der Weltmeisterschaft in der Tschechoslowakei zwei deutsche Mannschaften teil und die Mannschaft der Bundesrepublik, der Bernd angehörte, erreichte erneut den vierten Platz.  

Bei seiner dritten Weltmeistermeisterschaft 1967 in Schweden belegte Bernd mit der bundesdeutschen Mannschaft einen sechsten Platz. Bei seinem Abschiedsspiel aus der Nationalmannschaft am 10.2.1967 in Ludwigshafen gegen Dänemark gewann Deutschland mit 21:10. 

1967 war für Bernd und seinen SVM ein ganz besonderes Jahr. Denn am Ende der Saison 1966/67 war es soweit: der SV Möhringen schaffte als einzige baden-württembergische Mannschaft den Aufstieg in die deutsche Bundesliga des Handballsports. Das entscheidende Aufstiegsspiel wurde damals in München gegen den TSV Milbertshofen gewonnen.
Die Bilanz des SVM in der höchsten deutschen Handballliga muss eher als „durchwachsen“ bezeichnet werden. 1972 wurde mit dem dritten Platz die beste Platzierung erreicht. Den höchsten Heimsieg konnte man gegen den TV Großwallstadt mit 31: 14 und den höchsten Auswärtssieg gegen den Berliner SV 1892 mit 20:10 verbuchen. Schmerzlicher waren hingegen die Heimniederlagen gegen Frisch auf Göppingen in der Saison 1971/72 mit 12: 21 und ein Jahr später, die dann auch die letzte Saison gewesen war, wurde die Auswärtsniederlage in Göppingen mit 12:27 zum besonderen Alarmsignal.  

Einer der Bundesliga – Kader des SV Möhringen

Die meisten Tore für den SV Möhringen während der siebenjährigen Bundesligazeit warf Bernd Mühleisen mit 238 Toren in 98 Spielen, was nahezu drei Tore pro Spiel bedeutete. Von den in der gesamten Spielzeit erzielten 1419 SVM Torwürfen gingen allein 17 % auf seine Rechnung.

Blau auf weißem Untergrund – das Logo des Möhringer Handballs

Für den SVM war es eine schwierige Herausforderung sich einen Stammplatz in der höchsten Handballliga Deutschlands zu sichern. Nach einer siebenjährigen Zugehörigkeit musste im Jahr 1973 ein Abstieg aus der Bundesliga verkraftet werden. Dies ist allerdings bis heute noch immer nicht gelungen, denn dem damaligen Abstieg folgte ein Niedergang des Handballsport in Möhringen wie dies damals noch undenkbar war. Ein Abstieg folgte auf den nächsten und mittlerweile musste die Handballabteilung im SV Möhringen aufgelöst werden. Das einzigartige Aushängeschild des baden-württembergischen Handballs aus den 70er Jahren existiert nicht mehr. Die Gründe für diesen Niedergang sind vielfältiger Natur. Wie es  in vielen deutschen Turn- und Sportvereinen schon über Jahrzehnte zu beobachten ist, sind die Pflege einer Sportart und deren Entwicklung zu sportlichen Höchstleistungen ganz wesentlich von den Personen abhängig, die jeweils die Verantwortung in den Vereinen übernommen haben. Nachdem sich die „Mühleisens“ in die zweite Reihe des SVM begeben hatten und die Verantwortung an andere übertragen wurde, kam es zu viel zu vielen Führungswechseln und die Rekrutierung von Nachwuchsspielern wurde immer schwieriger. Einen vergleichbar kompetenten Trainer wie Bernd konnte nicht gefunden werden und ehemalige Bundesligaspieler, die als Abteilungsleiter sich zur Verfügung gestellt haben, erhielten nie die notwendige Unterstützung wie dies noch zuvor der Fall war. 
Der eigentliche Grund für den Abstieg aus der Handballbundesliga ist meines Erachtens jedoch ganz anderer Natur. Der Handballsport hat 1967 mit der Einführung der höchsten Spielklasse, der Handballbundesliga, den Beginn zu einer Professionalisierung seiner Sportart eröffnet, die an Dynamik bis heute wohl kaum übertroffen werden kann. Will und wollte man in der höchsten Liga Erfolg haben, so musste man sich ab diesem Zeitpunkt auf einem internationalen Spielermarkt einzelne Spitzenspieler für ein oder mehrere Jahre für viel Geld einkaufen. Handballspieler wurden zu Vertragspielern und der Etat der Bundesliga Mannschaften wuchs jährlich und überschreitet sehr schnell die Millionen Grenze. Vereine, die auf die traditionelle Finanzierung ihrer Arbeit durch Mitgliedsbeiträge setzten, konnten mit ihren Etats dabei  nicht mehr mithalten. In den Sport kauften sich vermehrt Investoren ein und der Handballsport wurde zum bloßen Geschäft, in dem die Anforderungen für die Spieler ständig erhöht wurden. Der „Beruf des Handballspielers“ war eine notwendige Folge. Diesen Weg konnte und wollte der SV Möhringen nicht mitgehen, was vor allem auf Bernd Mühleisens „Sportphilosophie“ zurückzuführen war. Er war davon überzeugt, dass das Handballspiel, wie er es mit seinen Spielern erleben wollte und auch erlebt hat, durch diese Entwicklung ad absurdum geführt wird. Während der gesamten Handballbundesliga- Zeit des SV Möhringen, aber auch davor und danach, wurde kein Spieler des SVM „bezahlt“ und wer in der Abteilung Handball des SVM spielen wollte, musste seine Mitgliedschaft auf der Grundlage einer freiwilligen Entscheidung selbst erwerben. Dies galt für Wolf Dieter Rösner, unserem Nationaltorhüter, und für Günther Heger und Wolfgang Schall, die ebenfalls vom DHB in die Nationalmannschaft berufen wurden, gleichermaßen wie für alle eher namenlosen Spieler, die dem Bundesligakader des SV Möhringen angehört haben. Dem Spieler- Trainer und später dem Trainer Bernd Mühleisen hatte die Abteilungsleitung und die Vereinsführung immer wieder angeboten, ihm eine Aufwandsentschädigung zu bezahlen. Doch Bernd lehnte jede Bezahlung immer ab immer ab. Zur Verantwortung eines jeden Spielers gehörte auch, dass er selbst Verantwortung für seinen beruflichen Werdegang zu übernehmen hat.  Mit dieser Konzeption des Handballspiels musste der SVM nahezu zwangsläufig Jahr für Jahr seine Konkurrenzfähigkeit in der immer professioneller werdenden Bundesliga aus naheliegenden Gründen verlieren und sein Abstieg aus dieser höchsten Spielklasse war vorgezeichnet. Für mich war der von Bernd Mühleisen eingeschlagene Weg für die Handballmannschaft des SV M bewundernswert und ich bin heute noch stolz, dass ich den Möhringer Handball auf diesem Weg habe begleiten dürfen. 

Bernd hatte bereits 1971 im Alter von 33 Jahren seine Rolle als Spieler beim SV Möhringen aufgegeben. Mit dem Abstieg aus der Bundesliga trat er auch vom Traineramt zurück. Dem Handballsport blieb er aber auch danach noch treu. Zusammen mit vielen seiner ehemaligen Bundesligaspielern spielte er in einer 1B Mannschaft in Stuttgarter und Württemberger Ligen und die von ihm geführten Mannschaften knüpften immer wieder auch an Erfolge aus der Vergangenheit an, so als zuletzt 1985 der SVM die württembergische Feldhandballmeisterschaft gewinnen konnte. Bernd war dabei bereits 47 Jahre alt. 

Die sporthistorisch besonderen Handballzeiten im SV Möhringen sind vorbei. Zurückbleibt manche nostalgische Erinnerung. Für mich ist es dabei vor allem wert, dass man sich daran erinnert, dass es eine Zeit gegeben hat, in der die Ideale eines von Amateuren betriebenen Hochleistungssports von einer Mannschaft und von einem Trainer bis in die höchsten Ligen des Handballs hinein vorgelebt worden sind. Dass die Werte des Sports, von denen heute meist nur im öffentlichen Reden meist sehr heuchlerisch gesprochen wird, in der nahezu täglichen Praxis der Spieler des SVM angetroffen werden konnte und deren Wirkung bis heute anhält. Die Freundschaft und die Kameradschaft der ehemaligen Handballspieler des SVM lässt sich nicht nur bei wöchentlichen Treffen am Stammtisch im traditionellen Vereinsgasthaus, bei Ausflügen und privaten Begegnungen bis in diese Tage hinein beobachten. Sie zeigt sich auch bei vielen Unterstützungsmaßnahmen und Hilfen. Sie sind eine Selbstverständlichkeit, wenn ein ehemaliger Spieler mit Problemen konfrontiert ist, bei deren Lösung ein besonderes Mitgefühl und eine gezielte Unterstützung hilfreich sein können. 

Auch im Feldhandball war Bernd immer einer der besten

Den „Mühleisens“ und dabei vor allem Bernd hat das damalige Dorf Möhringen, das heute längst zu einem großen Stadtteil von Stuttgart angewachsen ist, es zu verdanken, dass es eine Blütezeit des Handballsports erleben durfte, die allerdings nicht allzu lange andauern konnte. Möhringen wurde durch den Handballsport weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. Möhringens Handballspieler lernten Spanien kennen, maßen ihre Fähigkeiten in Freundschaftsspielen mit Tschechen, Jugoslawien, Tunesiern und Ägyptern. Der Möhringer Handball wurde zu einem Synonym für eine Mannschaftsleistung, in der traditionelle Tugenden noch etwas Besonderes waren. Echte Freundschaften sind in dieser Zeit entstanden, die bis heute andauern. Bestimmte „soziale Rituale“ waren für Bernd ebenso bedeutsam wie der sportliche Wettkampf selbst. Er wusste um die Bedeutung der Geselligkeit, der Kameradschaft und der Pflege von Freundschaften und so stand er nicht nur im Handballspiel des SV Möhringen im Mittelpunkt, sondern er war auch das Zentrum einer „Sportgesellschaft“, d.h. eines durch den Sport initiierten Gemeinschaftserlebens, das weit über das Handballspiel hinaus reichte. Bernd Mühleisen war immer mehr als nur ein Athlet. Er war eine stolze, selbstbewusste und gebildete Persönlichkeit, asketisch in seiner Lebensführung, zukunftsorientiert in seinem Handeln und ausgerichtet auf eine persönliche Höchstleistung, die ihresgleichen sucht. Bei diesem Wertehorizont, an dem er sein Leben ausgerichtet hatte, war es nahezu eine Selbstverständlichkeit, dass er sich auch an einem glücklichen Familienleben mit Dorle, seiner lebensfrohen, immer sehr freundlichen und auch sehr schönen Frau und mit seinen Kindern Martin und Carola und seinen Enkeln bis heute noch erfreuen darf. Nach dem viel zu frühen Tod seiner Frau sind die letzten Lebensjahre für Bernd, der mittlerweile das 85. Lebensjahr erreicht hat, sehr beschwerlich geworden. Doch der wöchentliche Kontakt zu all seinen Spielern, für die er seit seiner Jugendzeit über mehrere Jahrzehnte ein wichtiges Leitbild war, wird von ihm bis heute noch gepflegt. 

 

Letzte Bearbeitung: 18.7.2023