Alpenländische Sportkultur

Der Sport ist ohne Zweifel eines der kulturell bedeutsamsten Phänomene, die weltweit anzutreffen sind. Betrachten wir Sportarten wie Fußball, Leichtathletik und Schwimmen, so zeichnen sich diese durch ihre globale Verbreitung und durch ihren internationalen Charakter aus. Werden sie von Menschen betrieben – ganz gleich woher sie kommen, welcher Ethnie sie angehören, wie vermögend oder arm sie sind- so wird dabei überall in der Welt den gleichen schriftlich niedergelegten Regeln gefolgt. Die Regeln wurden von Athleten und Athletinnen sozial vereinbart, sie werden nunmehr immer wieder bei Regelkongressen über demokratische Mehrheitsentscheidungen aller Mitgliedsorganisationen einer Sportart an neue soziale und technologische Verhältnisse und Errungenschaften angepasst, sie werden von Regelkommissionen überwacht und Kampf und Schiedsrichter¹ bieten Gewähr, dass die Regeln auch eingehalten werden. 

Das Phänomen der „Globalisierung“ lässt sich vermutlich an keinem anderen Beispiel so anschaulich beobachten wie über den internationalen Sport und dessen dynamische Entwicklung. Der Gegensatz zur globalen Welt bildet das „Lokale“, die „Heimat“, die Orte, wo man mit seiner Familie und seinen Freunden zu Hause ist. Der „global – local“- Gegensatz findet sich auch im Sport. Dort, wo die Menschen zu Hause sind, ist immer auch eine lokale und eine regionale Sportkultur anzutreffen, die sich ganz erheblich von der internationalen Kultur des Sports unterscheiden kann. Vielmehr ist meist ein bestimmtes „Set“ von Sportarten und Sportaktivitäten für einen bestimmten geographischen Lebensraum typisch, der von vielen Umweltfaktoren beeinflusst wird. Wer wie ich über Jahrzehnte in eher städtischen Lebensräumen gelebt hat und nunmehr seit zehn Jahren in einem dörflichen Lebensraum in den bayerischen Alpen eine neue Heimat gefunden hat und für den in beiden Lebensräumen die jeweils anzutreffende Sportkultur von großer soziologischer Bedeutung gewesen ist, bzw. noch immer von Bedeutung ist, der kann von dieser regionalen kulturellen Vielfalt des Sports in Deutschland nur schwärmen.
In Stuttgart, wo ich zur Schule gegangen bin und beim SV Möhringen Handball spielte, waren die lokale und regionale Sportkultur vor allem durch das Fußballspiel des VfB Stuttgart und der Stuttgarter Kickers dominiert. Handball war das zweitwichtigste Sportspiel. Große Bedeutung hatte auch die Leichtathletik, das Schwimmen und das Turnen. Bei den höheren sozialen Schichten spielten auch das Hockeyspiel und der Tennissport eine wichtige Rolle. Es gab Basketball-, Volleyball und Faustballvereine. Tischtennis war ebenfalls ein weitverbreiteter Sport. Die CVJMs verwiesen auf ein umfangreiches Sportangebot und auch die DJK und Maccabi waren religiöse Sportanbieter. Daneben gab es durch die Volkshochschulen auch ein staatliches Sportangebot und auch bereits verschiedene privatwirtschaftliche Sportanbieter  

In meinem heutigen Wohnort Unterwössen, das im Achental liegt und von den Chiemgauer Alpen umgeben ist, lässt sich vom Stuttgarter Sportangebot nur wenig oder gar nichts finden. Der aktiv ausgeübte Fußballsport hat wohl eine Bedeutung für die aktiv ausgeübte Sportkultur. Große Erfolge sind jedoch nicht aufzuweisen. Schafft eine Mannschaft aus Schleching, Unterwössen, Marquartstein oder Grassau den Aufstieg in die B- Klasse oder gar in die Kreisliga, so wird dies in den Annalen der jeweiligen Gemeinde als besonderes Ereignis erwähnt. Allenfalls lassen sich die Bewohner des Achentals über ihre Leidenschaft und Fanutensilien für Bayern München und 1860 München unterscheiden. Handball, Basketball, Hockey, Faustball, Leichtathletik, Tischtennis oder Schwimmen werden als Leistungssportdisziplinen im Achental von keinem Verein angeboten. Auch kirchliche bzw. religiöse Sportanbieter lassen sich hier nicht finden. 

Dennoch hat das Achental, das von der in Tirol entspringenden und in den Chiemsee mündenden Ache auf eindrucksvolle Weise geprägt wird, eine eigene, aber ganz andere Sportkultur als die Stuttgarter Region aufzuweisen, auf die die Gemeinden des Achentals zu Recht sehr stolz sein können. Es ist eine „alpenländische Sportkultur“, die sich durch ein ganz eigenes „Set“ an Sportaktivitäten und Sportarten von anderen regionalen Sportkulturen ganz wesentlich unterscheidet. Von dieser Sportkultur soll im Folgenden die Rede sein.

Skiabfahrt vom berühmten „Hirsch“ am Breitenstein in den 30 er Jahren

Wie jede regionale Sportkultur ist auch die Sportkultur des Achentals vor allem durch deren geographische und topographische Lage bedingt; und die Abhängigkeit der Sportkulturen von den jeweiligen lokalen und regionalen Klimaverhältnissen und vom jeweiligen Ausmaß der Verstädterung kann am Beispiel der alpenländischen Sportkulturen besonders deutlich aufgezeigt werden. Das Zusammenspiel zwischen Wohnverhältnissen, Klima, Topographie und Fauna, zwischen Bergen, Hügeln, Hängen, Gebirgswiesen, Gebirgswäldern, Bächen und Flüssen bedingen nicht nur einen für die dort lebenden Menschen spezifischen Lebensraum zum Wohnen und Arbeiten, sondern auch für ihre Leibesübungen, ihre Tätigkeiten in der Freizeit, für ihren Sport. Das Zusammenspiel der genannten Faktoren bewirkt auch einen eigenständigen Jahresablauf mit eigenständigen und unterschiedlich langen Jahreszeiten und mit einem eigenständigen Jahreskalender für die Ausübung körperlicher Aktivitäten und sportlicher Fertigkeiten.
Im Achental war im 19. und 20. Jahrhundert – also in jener Zeit als der moderne Sport in England seine Anfänge hatte und immer häufiger auch in den europäischen Ländern anzutreffen war – die Jahreszeit des Winters von ganz anderer Natur als wie man sie in den letzten Jahrzehnten im Achental beobachten konnte. Die Wintermonate begannen sehr früh, bereits im November und reichten oft bis in die Frühlingsmonate April und Mai hinein. Die Winter waren sehr schneereich und auch sehr kalt. Bauern, Handwerker und Waldarbeiter, die die Arbeitswelt des Achentals in dieser Zeit nahezu ausschließlich geprägt haben, waren von diesen langen schneereichen und kalten Wintern sehr betroffen. In den wenigen Frühjahrs- und Sommermonaten musste nahezu die gesamte Jahresarbeit erledigt werden. Die Wintermonate brachten hingegen für die arbeitende Bevölkerung des Achentals notwendigerweise sehr viel Zeit mit sich, die zu Hause oder im Gasthof zu verbringen war. In unserem heutigen Sprachgebrauch könnte man auch sagen: Die Menschen im Achental hatten in dieser Zeit sehr viel Zeit für Freizeit und Freizeit hatte schon immer das Ausüben von sportlichen Aktivitäten in dieser Zeit zur Folge. Dies war auch im Achental der Fall, in dem in dieser schneereichen Zeit sehr günstige Bedingungen für die Entwicklung des Wintersports anzutreffen waren.
In jedem Dorf gab es eine vereiste Bahn oder einen gefrorenen See für das Eisschießen. „Es war ein Zeitvertreib mit Sport und Spaß sowohl für die ganz jungen Burschen als auch für gestandene Mannsbilder, Rentner und „Austragler““, so ist es in einer Dorfchronik nachzulesen. Man schoss auf die „Taube“, auch „Hasei“ genannt (kleiner Holzwürfel oder Ring), wobei es darum ging, den Eisstock möglichst nah an die „Taube“ zu bringen („Maß“ schießen). Die Eisschützen mussten jeweils den an der „Taube“ am nächsten gelegenen Eisstock der gegnerischen Mannschaft wegschießen. Man nannte dies „abtun“. Heute wird das Eisstockschießen beinahe ganzjährig vom Stockschießen auf Asphalt- Bahnen ergänzt. Die Stockschützen von Marquartstein sind dabei besonders aktiv. 

Eisstockschießen in kalten und langen Wintern

Das Schlittenfahren und der Schlitten- und Rodelrennsport waren nicht weniger populäre Wintersportaktivitäten. Jeder der umliegenden Berge der Chiemgauer Alpen, der Geigelstein, der Hochgern, die Hochplatte, der Balsberg und andere kleinere vorgelagerte Berge wiesen und weisen teilweise noch immer attraktive Rodel-Rennstrecken auf und jährlich bis hinein in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts fanden dort Rodel-und Schlittenmeisterschaften statt. Viele der Schlitten- und Rodelbahnen sind der Holzverbringung der Holzknechte und Holzbauern zu verdanken, die mit Schlitten und Fuhrwerken das geschlagene Holz ins Tal gebracht haben. 1952 fand zum ersten Mal ein Rodelrennen auf der längsten deutschen Rodelbahn statt- Sie führte vom Hochgern nach Marquartstein,war 8 km lang und es musste ein Höhenunterschied von 900 m überwunden werden. Die Siegerzeit des Besten der  150 teilnehmenden Rodler betrug 14.43 Minuten. 

Bereits in der Weimarer Zeit konnten der nordische Skilauf, der alpine Skilauf und vor allem auch das Skispringen große Erfolge im Achental feiern. In jedem Dorf des Achentals gab es mehrere Sprungschanzen und die besten Skispringer waren nicht nur lokale Helden. Sie waren auch bei nationalen und internationalen Skisprung- Meisterschaften erfolgreich. 
Die Entwicklung des alpinen Skilaufs begann mit der Durchführung von Abfahrtsläufen. Die Schlechinger Bauern hatten zum Beispiel bereits um 1930 Uhr eine Abfahrt von der Wuhrsteinalm und von der Wirtsalm bis zum Ziel am Schlechinger Schulhaus freigeräumt. Die Aufstiegsspur war dabei auch die Abfahrtsstrecke. Da auch der Langlauf sehr schnell populär wurde, waren Kombinationswettkämpfe (Abfahrt und Langlauf) wichtige Termine des bayerischen Sportkalenders. 1936 wurden die ersten Achental- Meisterschaften durchgeführt mit Sprunglauf in Schleching, Langlauf in Marquartstein, Torlauf in Unterwössen und Abfahrtslauf in Grassau. Ein Sieg beim Riesentorlauf vom extrem steilen „Hirsch“ vom Geigelstein runter oder der Gewinn der „Jochberggams“ an einer Steilhang- Waldschneise am Jochberg waren und sind es teilweise noch bis heute begehrte Siegestrophäen. Für die „Skidirndl“ gab es eigene und gemischte Wettkämpfe. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden im Achenthal alpine Chiemgau- Meisterschaften, bayerische Meisterschaften und 1953 zum ersten Mal die Deutsche Alpine Skimeisterschaft ausgetragen. 

Hans Hächer- das erste alpine Ski- Idol des Achentals

Einer der überragenden Skirennläufer aus dem Achental war Hans Hächer, der bis ins hohe Alter noch großartige Erfolge als Seniorenweltmeister erringen konnte. Nicht weniger erfolgreich war seine Tochter Traudl Hächer. Für alle Achentaler Bürger waren immer auch das Tourengehen und der Tourenskilauf äußerst beliebte Freizeitsportarten während den Wintermonaten. Die Tiefschneehänge am Weitlahner mit einem Höhenunterschied von etwa 700 m zwischen Rossalm und Hinterdalsenalm waren sehr beliebt. Unter den vielen Skirennläufern ragte vor allem Traudl Hächer heraus, die 1979 Juniorenweltmeisterin im Riesentorlauf und in der Kombination wurde, 1986 den zweiten Platz im Gesamtweltcup erreichte und bei den Weltmeisterschaft 1991 die Bronzemedaille im Riesenslalom umgehängt bekam. Sie war zweifache Olympiateilnehmerin und hatte am Ende ihrer Karriere vier Weltcupsiege im Riesentorlauf und im Super-G aufzuweisen. Der alpine Skisport wird heute fast nur noch von einem „Achental- Skiteam“, einem Zusammenschluss mehrerer Skiclubs, gepflegt. Durch ihn können sich die immer weniger werdenden talentierten Kinder und Jugendlichen in den immer kürzer werdenden Wintermonaten bei Wettkämpfen – wie zum Beispiel dem jährlichen „Sparkassen- Cup“ messen. Für das Training und für die Wettkämpfe wurden und sind dabei jedoch – angesichts des häufigen Schneemangels- immer längere Anfahrten erforderlich.   

Bereits während ihrer Karriere wurde im Achental eine neue Sportart immer populärer. Es war der Biathlonsport dessen Vorläufer der militärische Patrouillenlauf war. Gleichzeitig wurden großartige Erfolge im Skilanglauf von vielen Langläufern aus dem Achental erzielt. Besonders erwähnenswert ist der olympische Goldmedaillenerfolg von Martina Zellner im Biathlon und die Erfolgskarriere von Andi Birnbacher. 

Martina Zellner beim Gewinn ihrer Goldmedaille bei den Olympischen Winterspielen in Nagano

Klaus Maurachers Biathlonschreinerei – ein Aushängeschild der Alpenländischen Sportkultur

Bis heute ist das Achental auch berühmt für seine Ski und Technik Experten für die verschiedenen Wintersportdisziplinen. Es weist eine eigene Biathlon Schreinerei auf und Muck Bauer aus Schleching gilt als einer der erfolgreichsten Wachs– und Schleifexperten des Biathlonsports. 

Ein einmaliges Spitzensport- Trio – Kathrin Pfisterer, Andi Birnbacher, Traudl Hächer

Einige Skilangläufer des Achentals entdeckten für sich auch zwei völlig neue Sportarten das Skijöring und das Schlittenhunderennen. Gemeinsam mit ihren Huskys erreichten Achen taler mehrfach den Titel eines deutschen Schlittenhunde-Meisters und ein ehemaliger Biathlet wurde auch zweifacher Europameister im Skijöring. 

„Biwi“ Niedermeier bei einem seiner großen internationalen Skijöring- Erfolge

Durch die räumliche Nähe zum Eislaufzentrum in Inzell wurde von Achentalern auch das Eis- Speedwayfahren entdeckt und der Motorradclub Schleching konnte mit seinen Speedwayfahrern Günther Bauer und dessen Sohn nationale und internationale Erfolge erzielen. Beide waren auch erfolgreiche Motocross Fahrer. Die in langen Windeln über mehrere Wochen gefrorenen sehen des Achenthalswaren für das Speedfight fahren Haus nahe Trainings und Wettkampfstädten. Die älteren Achentaler erinnert sich noch gerne an die Eisspeedway- Rennen auf dem Unterwössner See. 

Günther Bauer und sein Sohn Luca – die Achentaler Stars im Eis- Speedway

Ist im Winter schon seit langer Zeit das Skitourengehen besonders populär, so geht man im Sommer auf den Berg. Klettern und Bergsteigen sind für Achentaler Bürgerinnen und Bürger schon seit über 100 Jahren attraktive Herausforderungen an freien Tagen und an den Wochenenden, die jedoch durchaus ihre z.T. sehr hohen Risiken in sich bergen. Andreas Dögerlel hatte  hat dabei eine der schwierigsten Kletterrouten in der Zellerwand erschlossen und die Besten der Achentaler Bergsteiger haben nahezu jeden „Viertausender“ der Alpen erklommen. Das Bergwandern und die Einkehr auf einer Alm sind hingegen für die meisten Achentaler nicht weniger attraktiv, jedoch zum Glück auch meist ungefährlich. Beides hat in jüngster Zeit einen enormen Aufschwung genommen. 

Achentaler Radsportler in Pose

Bergrennen mit dem Rennrad, Mountainbike-Wettbewerbe und Mountainbike- Touren gehören zu den jüngeren Sportaktivitäten im Achental. Wobei die Rennradtouren auf die Pässe der Alpen, auf den Großglockner und das Kitzbüheler Horn schon in den siebziger Jahren ihren Anfang genommen haben. 1997 führte eine 1000 km lange Tour von Schleching nach Nizza über elf Pässe mit Höhenunterschieden von insgesamt 18.000 m. Die Radler aus dem Achental nahmen auch an der Südtiroler- Dolomitenrundfahrt und an vielen internationalen Bergradler-Treffen teil. Die Radsportabteilungen – die erste wurde 1926 gegründet- waren meist Unterabteilungen der Skiclubs in den Achentaler Dörfern. 

Gleiches gilt auch für den Kajak-Sport, der mit dem schönen Heimatfluss, der Tiroler Ache, eine natürliche und Gott gegebene Sportstätte vorfand, wie sie es in Deutschland nur ganz selten gibt. In den Schluchten der Ache zwischen Kössen in Österreich und Schleching in Deutschland lassen sich Wildwasserbedingungen antreffen, wie sie von mutigen Kajakfahrern schon immer gesucht wurden. Längst wurde das Kajakfahren auch noch durch das Rafting ergänzt, was in den Sommermonaten für Touristen aus ganz Deutschland und über Deutschland hinaus eine große Attraktion geworden ist. Die im Jahr 1933 gegründete fa „Faltbootabteilung“ beim TSV Marquartstein hat jedoch bis heute nicht überleben können.
Die Ache mit dem Achendurchbruch am Entenloch, eines der schönsten „canyonartigen“ Wildwasser in Bayern, war schon in der Weimarer Zeit bei Kanuten beliebt. Aber erst 1976 kam es im Ski- Club Schleching zur Gründung der Abteilung „Kajak“. Hans Lukas, der damalige Pressewart, schrieb hierzu in der Chronik von 1982: „Wildwasserfahren – als typisch alpine Sportart dem Bergsteigen verwandt – heißt ausbrechen aus einer reizüberfluteten und überzivilisierten Welt in eine Welt der einfachen Dinge, heißt Naturverbundenheit und Vertrauen in das eigene Können. Ein Hauch von Freiheit und Abenteuer umgibt diesen Sport“. Seitdem haben Schlechinger Kajakfahrer große Aktivitäten entwickelt, wozu auch neben der jährlichen Clubmeisterschaft die weltweiten Wildwasserexpeditionen von Hans Memminger gehörten. Erwähnenswert ist auch der „Schlechinger Alpin- Triathlon“, eine Kombination aus Kajakfahren auf der Ache, Laufen im Schlechinger Tal und Mountainbikefahren in den Hügeln von Ettenhausen, der in der jüngeren Zeit zu einem der sportlichen Höhepunkte des Achentals wurde. 

Fingerhakeln- ein urbayrischer Kraftakt

Zur Holzarbeiter-Körperkultur gehörten neben dem Gewichtheben und Fingerhakeln, auch das Steinheben, das Hufeisen-Werfen, der KraftDreikampf und das Ranggeln. Im Kraftdreikampf (Bankheben, Kreuzheben, Kniebeugen) erlangten Achentaler Sportler mehrfach den Titel eines bayerischen Meisters und gute Plätze bei Deutschen Meisterschaften. Auch im Fingerhakeln waren vor allem Schlechinger Athleten bei Alpenländischen-, Deutschen-, Bayerischen- und Chiemgaumeisterschaften äußerst erfolgreich. 

Steinheben von Schwergewichten durch Schwergewichtige

Eine der schönsten und kreativsten Ausprägungen der alpenländischen Sportkulturen habe ich bei meinen Besuchen von Wettbewerben des Schuhplattelns und des Dirndldrahns kennengelernt. Beide Traditionen sind im Achental noch immer äußerst populär und selbst für die Kinder und Jugendlichen gibt es Wettbewerbe in verschiedenen Altersklassen. Nicht nur die Schönheit der Chiemgauer Trachtenkultur für Dirndl und Buam allen Alters kann man dabei in ihrer vollen Lebendigkeit bewundern.  

Gau-Dirndldrahn in Oberwössen

Auch die sportlichen Leistungen der Plattler und der sich elegant und kreativ drehenden Dirndl und die gemeinsamen Reigentänze, die sich ebenso wie das Platteln von Region zu Region unterscheiden, sind beachtenswert. 

Das einzige Ballspiel, das bereits in der älteren alpenländischen Sportkultur während der Sommermonate populär war, ist das Fußballspiel gewesen. Der lange Winter ließ nur eine kurze Spielsaison zu. Doch die Begeisterung am aktiven Fußballspielen wurde dadurch kaum geschmälert. Fußballspielen auf Buckelwiesen, auf denen auch Kühe geweidet wurden, war bei der Achentaler Nachkriegsjugend durchaus beliebt. Sämtliche Turn- und Sportvereine wiesen und weisen mehrere Jugendmannschaften und Seniorenmannschaften auf, die sich mit den Mannschaften der Nachbardörfern in den untersten Fußballligen des Deutschen Fußballbundes – jeweils „gepaart“ mit großem Lokalpatriotismus – ,Woche für Woche in den Sommer- Monaten begegnen und manchmal sich auch aggressive „Fußballschlachten“ lieferten und noch liefern. Manches Spiel zwischen Schleching und Unterwössen hatte und hat dabei nahezu legendären Charakter. Nur für wenige Fußballtalente waren die schwierigen Bedingungen des Fußballsports, die in den Alpenregionen anzutreffen sind, ein Sprungbrett für eine Karriere in höhere deutsche Fußballligen. Mit dem Mädchen Fußball wurde im Jahr 2001 in Marquartstein begonnen. 

Mit „Zimmerstutzen“ wurde in dieser historischen Stube vom „Birner“ geschossen

Neben den Skiclubs und den Fußballvereinen waren vor allem die Schützengesellschaften die tragenden Säulen der alpenländischen Sportkultur. Die meisten der Schützenvereine wurden bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts gegründet und hatten schon sehr früh ihre eigenen Schützenlokale und Schießstände errichtet. Es wurde dabei und wird teilweise bis heute noch mit Groß- und Kleinkalibergewehren, mit Luftpistolen und bei den Gebirgsschützen sogar mit Kanonen geschossen. Mit sog. Zimmerstutzen wurden selbst in Wohnzimmern Schießwettbewerbe durchgeführt. Die heute noch sehr berühmte Gaststube im Gasthaus Zellerwand, beim „Birner“ in Schleching, war eine der Gaststuben, in der damals mit Zimmerstutzen durch die Luke geschossen wurde. Heute kommen aus ganz Oberbayern Sportschützen, um auf den Schießständen des Achtentals zu trainieren. Die Schießstätte in Unterwössen gilt dabei als eine der modernsten in der ganzen Region. Die Sportschützen des Achentals haben in den vergangenen Jahrzehnten auch große Erfolge bei bayerischen und deutschen Meisterschaften aufzuweisen. Die „Malkunst“ der bemalten Schützenscheiben gehören schon seit langem zu den kulturhistorischen Kostbarkeiten des Achentals und die jährlichen „Dorfschießen“ gehören zu den sportlichen Höhepunkten eines jeden Sportjahres.  

Der Tennissport hat eine eher sehr junge Geschichte aufzuweisen. Der erste Tennis- Club des Achentals wurde 1968 in Schleching gegründet. Gute Skifahrer und Fußballspieler entdeckten diesen Sport für sich und so waren die Achentaler Tennisclubs auch sehr schnell erfolgreich bei den oberbayerischen und bayerischen Tennismeisterschaften. 

In den letzten Jahrzehnten sind noch einige jüngere Sportarten wie Tischtennis (1972), Volleyball (1981), Badminton (2003), Karate (2000) und Judo in das besondere „Set“ der Sportarten der alpenländischen Sportkultur hinzugekommen. 2008 wurde in Unterwössen ein Beach-Volleyball Platz eingeweiht. Allerdings können diese Sportarten nur selten auf sportliche Erfolge verweisen und sie werden auch nur von wenigen Bürgerinnen und Bürgern des Achentals ausgeübt. Gleiches gilt auch für die schon seit längerem ausgeübten Sportarten  des Eishockeys, der Leichtathletik, des Schwimmens und des Turnens, die teilweise immer nur sporadisch angeboten wurden und keine erfolgreiche Tradition im Achental erkennen lassen. Doch es muss erwähnt werden, dass in Marquartstein bereits 1913 eine Damen- Turnriege gegründet wurde und bis heute noch einige Gymnastikgruppen sehr aktiv sind. 1998 wurde wohl eine Schwimmabteilung beim SV Unterwössen gegründet, doch bereits im Jahr 2004 wurde sie wieder aufgegeben. Vom gleichen Schicksal war der Damen-Handball betroffen. 1946 wurde die einzige Handballabteilung des Achentals in Marquartstein gegründet, doch wurde der Spielbetrieb sehr schnell wieder eingestellt. Vom gleichen Schicksal war auch der Reit- und Fahrverein Achenthal e.V. betroffen Mit den „Red Bulls Marquartstein“, dem „EHC Tequila Oberwössen“, und dem „EC Mettenham“ gab es wohl immerhin vier Vereine, in denen Eishockey gespielt wurde. Da jedoch immer weniger Spieler zur Verfügung standen war 2001 ein Zusammenschluss dieser Clubs die Folge. Doch das Eishockeyspiel der „Hackler“ vom „EHC Tequila Achental“ hatte nur eine kurze Lebensdauer. Mit einigen sehr guten leichtathletischen Leistungen konnten sich jedoch einzelne Athleten und Athletinnen insbesondere im Berglauf und im Mehrkampf in die Bestenlisten des bayerischen Leichtathletikverbandes eintragen. 
Schließlich muss auch noch der Segelflugsport erwähnt, der zunächst mit einer eigenen Abteilung im SV Unterwössen begann. 1979 gründete er seinen eigenen Verein als „Verein Flugsportgruppe e.V.“. Für seine Segelflugambitionen trifft er im Achental auf geradezu ideale Windbedingungen. Gleiches gilt für das Gleitschirmfliegen wo im Achental nicht nur einer der bedeutsamsten internationalen Hersteller dieser Fluggeräte zu Hause ist sondern auch eine Ausbildungsschule mit ihren bestens geeigneten Übungshängen angetroffen werden kann. 

In den Chroniken der Achentaler Turn- und Sportvereine lassen sich schließlich auch noch einige besondere Sportereignisse finden, die von den Vereinen als Höhepunkte ihrer Vereinsarbeit betrachtet werden. Dazu gehören „Dorf-Fußballturniere“, die Durchführung des „Hochgernlaufs“ und des „Hochplattenlaufs“, die seit 1998 bzw. seit 1984 stattfinden, und der „Wössner Halbmarathon“ (seit 2012). Ein interessantes Ereignis war auch der „Marquartsteiner Winterfünfkampf“ (Eisstockschießen, Riesentorlauf, Skilanglauf, Schießen Schwimmen). 1976 kam es zur Teilnahme von vier Achentaler Skilangläufern beim schwedischen Wasa-Lauf. Auch ein E- und D- Jugend- Fußballtraining mit Nationaltrainer Dettmar Cramer in Marquartstein im Jahr 1990 war etwas ganz Besonderes. Alle Turn- und Sportvereine des Achentals, das zeigen ihre Chroniken, waren und sind bis heute vor allem Orte der Geselligkeit, die sich durch eine sehr große und intakte Gemeinschaft auszeichneten und noch immer auszeichnen. 

Das von mir hier skizzierte „Set“ an Sportarten, die die alpenländische Sportkultur in der Vergangenheit geprägt haben und auch heute noch prägen, ist äußerst bemerkenswert. Vergleicht man es mit dem eingangs beschriebenen Sportartenset der Stuttgarter Region und deren Umgebung, so kann man sehr schnell erkennen wie vielfältig Deutschlands Sportkultur ist und wie wichtig es ist, dass man die in Deutschland bestehenden regionalen Sportkulturen zu unterscheiden weiß. Jede dieser Kulturen unterliegt ständig einen Wandel und auch die alpenländische Sportkultur wird es in den nächsten Jahren sehr schwer haben seine spezifischen Merkmale noch auf Dauer zu erhalten. Die geringere Bevölkerungsdichte im Vergleich zur großstädtischen Sportkultur hat zur Folge, dass es die Mannschaftssportarten in der alpenländischen Sportkultur schon immer schwer hatten und auch noch weiterhin sehr schwer haben werden, Kinder und Jugendliche für ihre Sportarten zu interessieren. Ein in den letzten 100 Jahren sehr lange andauernder Mangel an Sporthallen und geeigneten Sportstätten hatte die Entwicklung mancher Sportart erheblich beeinträchtigt. Erschwerend kommt die sich nahezu jährlich vergrößernde Vielfalt an Freizeitaktivitäten und die Vermehrung der digitalen Unterhaltungsangebote hinzu. Der Klimawandel, der allgemeine Wertewandel in unsere Gesellschaft, die veränderten Freizeitinteressen von Kindern und Jugendlichen, die vielfältigen Konsummöglichkeiten, die veränderten Erziehungsstile, gravierende Veränderungen im öffentlichen Schulwesen: all dies sind Faktoren, die auch auf die Entwicklung der alpenländischen Sportkultur einen Einfluss haben und uns bereits in den letzten Jahren die Erkenntnis nahe gelegt haben, dass vor allem der Wintersport, die tragende Säule der alpenländischen Sportkultur, mit schwierigen Herausforderungen konfrontiert ist. Aber auch manches neue Sport Angebot – das hat bereits die Geschichte der Achentaler Sportvereine gezeigt –  wird oft nur eine kurze Lebensdauer haben. „Fluktuation“ innerhalb der Angebote wird nicht nur für die alpenländische Sportkultur ein kennzeichnendes Merkmal der zukünftigen Sportentwicklung sein. Dennoch darf gehofft werden, dass die Vielfalt dieser besonderen Sportkultur, deren Sonderstellung in der deutschen Sportkultur durch die vielen besonders sehr geselligen und alle Gesellschaftsschichten umfassenden Sportaktivitäten und durch ein lebendiges, von großartiger ehrenamtlicher Arbeit geprägtes Vereinsleben auch in einer schwierigeren Zukunft noch erhalten werden kann. 

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letzte Bearbeitung: 20. 5. 2023