1) Merkmale des Kolonialismus
Auf einen ersten Blick hat das Phänomen der Kolonialisierung nur noch historische Bedeutung. Indien, China und aus deutscher Sicht bestimmte Regionen Afrikas wie Togo und Namibia werden in unseren Erinnerungen wachgerufen. Es war die längst vergangene Kaiserzeit, die Zeit des Reichkanzlers v. Bismarck und des Kaisers Wilhelm II. Es war die Zeit, in der wir Deutsche uns in der Rolle von Kolonialherren gefielen und in den Einwohnern afrikanischer Länder Menschen sahen, die es zu kolonialisieren galt. Betrachten wir jedoch das Phänomen des Kolonialismus etwas genauer, so erkennen wir, dass die Strukturen, die dieses Phänomen kennzeichnen, keineswegs nur noch der Geschichte angehören. Ganz im Gegenteil: Sie sind heute sogar so allgegenwärtig wie nie zuvor, wenn auch in einer etwas modernisierten Ausprägung. Dies gilt vor allem und gerade auch für den Bereich des Sports.
Mit dem Begriff des Kolonialismus wird eine Politik gekennzeichnet, die auf die Vermehrung des wirtschaftlichen, militärischen und machtpolitischen Nutzens des Kolonialherren ausgerichtet ist und bei der die zu kolonisierenden Bürgerinnen und Bürger politisch unterdrückt und wirtschaftlich ausbeutet werden. Neben ökonomischen Aspekten spielte dabei häufig auch das religiöse Sendungsbewusstsein der Kolonialherren eine wichtige Rolle. Der Kolonialismus ist geprägt von psychischer und körperlicher Gewalt und Unterdrückung gegenüber den indigenen Völkern.
Neuere Bestrebungen, kolonialistische Machtstrukturen wiederherzustellen, kann man mit dem Begriff des „Neokolonialismus“ erfassen. Bemühungen zur Weiterentwicklung der Ideologie des Kolonialismus können mit dem Begriff des „Imperialismus“ gedeutet werden. Folgt man der kommunistischen Ideologie, so stellt der Imperialismus das höchste Stadium des Kapitalismus dar.
Ursachen für den Kolonialismus und die mit ihm verbundenen machtpolitischen Bestrebungen sind vielfältig. Meist ist jedoch eine Hauptursache auszumachen. Ressourcentheoretisch findet bei einer Ressourcenknappheit auf der Seite des Kolonialherrn ein „Ressourcenraub“ im fremden Gebiet statt, ohne dafür angemessene Tausch- bzw. Gegenwerte anzubieten. Ein weiterer Grund für den Kolonialismus ist die Suche nach Macht und Wohlstand, ohne dass eine zwingende Notwendigkeit gegeben wäre. Durch Kolonien verschafft man sich einen guten Absatzmarkt, günstige Arbeitskräfte und billige Rohstoffe. Der Kolonialismus geht aber immer auch einher mit der Suche nach Prestige von Seiten des Kolonialherrn.
2) Neokolonialistische Tendenzen im Sport
Betrachten wir diese Charakteristika mit Blick auf den Sport von heute, so müssen wir erkennen, dass viele dieser Merkmale in einem übertragenen Sinne im Verhältnis zwischen dem Sport und seiner Umwelt anzutreffen sind. Systeme aus der Umwelt des Sports sind sozusagen auf der Ressourcensuche im fremden Gebiet des Sports, ohne dass sie dafür einen angemessenen Tauschwert bieten. Sie betrachten den Sport als Prestigeobjekt und in vielerlei Hinsicht wird dabei das Bedürfnis nach Macht befriedigt, ohne dass es hierfür zwingende Notwendigkeiten geben würde. Paradoxerweise scheint aber auch das Gegenteil der Fall zu sein. Der Sport und hier vor allem dessen machtorientierte und finanzstarke Organisationen wirken in Kolonialherrenmanier auf die Gesellschaft und befriedigen dabei nicht weniger dominant ihr Bedürfnis nach Macht. Prozesse, die sich gegenwärtig vermehrt im nationalen und internationalen Sport beobachten lassen, können somit als Kolonialisierungsprozesse beschrieben werden, wobei eine Kolonialisierung von außen durch Politik, Wirtschaft und Medien von einer internen Kolonialisierung, einer Machtausübung von bestimmten Sportbereichen über andere, zu unterscheiden ist. Diese Prozesse sind schon seit längerer Zeit mit der Entwicklung des modernen Sports auf das Engste verbunden. Der finnische Soziologe Heinilä hat sie mit seiner These der Totalisierung gekennzeichnet und dabei vor allem den Hochleistungssport einer fundierten Kritik unterworfen. Eichberg hat mit seiner Imperialismuskritik vor allem den abendländischen olympischen Sport im Blick, wenn er dessen zerstörerischen Einfluss – Sportexport als Wucherung – auf traditionale Kulturen beschreibt. Neben zahlreichen weiteren Sozialwissenschaftlern wäre vor allem auch noch Guttmann zu nennen, dessen Beobachtungen auf vergleichbare Prozesse verweisen. Die folgenden essayistischen Beobachtungen über den organisierten Sport gehen über die dort gemachte Beobachtung hinaus. Mit Hilfe des Konstrukts des Kolonialismus soll auf aktuell sich ereignende Prozesse aufmerksam gemacht werden, die sich äußerst rasch und dynamisch vollziehen und möglicherweise einen umfassenden Systemwandel des Sports zur Folge haben.
3) Politik, Wirtschaft und Massenmedien in der Rolle von Kolonialherren
Im System des Sports und in dessen Beziehung zu seiner relevanten Umwelt lassen sich schon seit längerer Zeit in wachsendem Maße einseitig definierte Abhängigkeitsverhältnisse beobachten. Dabei ist es immer häufiger so, dass der Sport mit seinen Sportreibenden die Rolle der zu Kolonisierenden einnimmt und die Kolonialherren Vertreter jener dominanten Systeme sind, die über die notwendige Macht verfügen, den Sport in die Rolle des Bittstellers, des Abhängigen und nicht selten auch in die Rolle des sich selbst Erniedrigenden zu drängen. Der Sport verdankt seine massenhafte Entwicklung, seine globale Ausbreitung und seine als einmalig zu bezeichnende Erfolgsgeschichte im 20. Jahrhundert vorrangig und fast ausschließlich drei besonderen Partnerschaften. Der Sport ist umgeben von einem – man könnte sagen – magischen Dreieck. Dieses wird durch die gesellschaftlich bedeutsamen Systeme der Wirtschaft, der Politik und der Massenmedien gebildet. Der Sport stellt dabei ein System dar, auf das die besonderen Interessen dieser Umweltsysteme gerichtet sind.
Das Politiksystem instrumentalisiert den Sport für vielfältige politische Interessen: nationale Repräsentation im internationalen Wettbewerb, Sport als Spiegelbild nationaler Leistungsfähigkeit, Sport als Medium der Imagepflege der nationalen Streitkräfte, Sport als sozialintegratives Medium, Sport als zunehmend relevanter werdendes Instrument einer präventiven und kurativen Gesundheitspolitik. Die Reihe der politischen Instrumentalisierungen des Sports ließe sich fortführen.
Nicht weniger umfassend bedient sich das System der Wirtschaft des Sports. Hat der Sport in seinen Erscheinungsformen eine bestimmte Qualität und Quantität erreicht, so wird er systematisch einer ökonomischen Zweckbestimmung zugeführt. In der Marketingkommunikation vieler Unternehmen spielt der Sport eine zentrale Rolle. Er soll direkt zum vermehrten Verkauf von Gütern beitragen, er soll positive Wirkungen in Bezug auf das Klima in den Belegschaften der Unternehmen haben, er soll Imageprobleme lösen, und er soll seine positiven gesundheitlichen und sozialen Wirkungen auch dem System der Wirtschaft zukommen lassen.
Die Rolle, die Teile des Sports für das System der Massenmedien heute spielen, ist nicht weniger offensichtlich. Der Sport liefert Lesestoff für die Printmedien und ist Programminhalt für Hörfunk und Fernsehen. Der Sport füllt Internetseiten und ist wichtiger Inhalt der mobilen Smartphone-Kommunikation. Durch Sportinhalte können sich die audiovisuellen Medien im dualen Konkurrenzsystem bewähren. Der Sport garantiert Einschaltquoten und Marktanteile und damit auf indirekte Weise eine Steigerung der Werbeeinnahmen. Der Sport schafft massenmediale Arbeitsplätze, macht Journalistinnen und Journalisten zu Stars und bietet das Forum für „human touch“, für Sehen und Gesehenwerden, Klatsch und Tratsch und ist wesentlicher Teil des Boulevards. Auch diesbezüglich ließen sich die Formen und Inhalte der verschiedenen Instrumentalisierungsweisen noch fortführen.
4) Der Sport in fremdbestimmter Abhängigkeit
Die Inanspruchnahme des Sports durch die genannten bedeutsamen gesellschaftlichen Systeme der Politik, der Wirtschaft und der Massenmedien beschreibt einen Sachverhalt, der sich längst in der Welt des Sports etabliert hat und der gemeinhin als unproblematisch gilt. Die Verantwortlichen im System des Sports vertreten mehrheitlich diese Auffassung. Sie weisen jedoch darauf hin, dass es wichtig sei, dass die Organisationen des Sports ihre Autonomie bewahren, dass sich die Beziehung zwischen den genannten Systemen und dem System des Sports nicht als eine Einbahnstraße darstelle, sondern vielmehr ein Interessensausgleich anzustreben sei.
Wäre dies der Fall, so würden sich heute in der Beziehung zwischen Politik, Wirtschaft, Massenmedien und Sport gleichberechtigte Partner begegnen, die in einem kommunikativen Diskurs je eigene Interessen verfolgen, diese Interessen gegeneinander abwägen und tragfähige Kooperationsformen entwickeln, ohne dass die Interessen der Partner dominiert oder gar negiert werden.
Blickt man auf die tatsächlichen Beziehungsverhältnisse, so wie sie heute zwischen dem Sport und seinen Partnern existieren, so muss jedoch die Vermutung geäußert werden, dass die Praxis im Sport schon seit längerer Zeit der These widerspricht, dass eine Interessensgleichheit an die Stelle von Macht-/Ohnmachtsverhältnissen getreten ist. Die immer wieder bemühte Formel von der Autonomie des Sports, der man sich politisch und ideologisch verpflichtet fühlt, kommt zunehmend häufig nur noch Postulatscharakter zu. Ja, es kann die These vertreten werden, dass sich die Systeme der Wirtschaft, der Politik und der Massenmedien heute in der Rolle der Kolonialherren befinden und die Verantwortlichen im Sport und nicht selten auch die Sporttreibenden selbst die Abhängigen bzw. die zu Kolonisierenden sind.
Will man prüfen, ob diese These zutrifft, so hat man die Kommunikationsverhältnisse zu beobachten, die zwischen dem Sport und seiner hier angesprochenen Umwelt bestehen. Man hat die Wertestruktur des Sports in den Blick zu nehmen und zu fragen, durch wen diese beeinflusst, verändert, dominiert und manipuliert wird. Man hat das Personal im Sport zu beobachten, das haupt- oder ehrenamtlich mit der Leitung des Sports beauftragt ist und wie sich das Personal unter dem Einfluss von Wirtschaft, Massenmedien und Politik strukturell verändert. Man hat die Logik der Entscheidungsprozesse in den Blick zu nehmen, wie sie in den Führungsgremien des Sports praktiziert wird. Man sollte auch das neu hinzugewonnene Personal beachten, das beim Generationenwechsel der Führungskräfte in den Sportorganisationen an Macht und Einfluss gewinnt. Man hat die Erneuerungs- und Anpassungsprozesse zu beachten, wie sie sich in den Sportverbänden und -organisationen ereignen und bei denen die Vorbilder den genannten Einfluss-Systemen entstammen. Man hat die Sportangebote, die die Sportorganisationen den Bürgerinnen und Bürgern in unserer Gesellschaft unterbreiten, in den Blick zu nehmen. Schließlich hat man vor allem auch die Vertragswerke zu analysieren, die der Sport mit den jeweiligen Organisationen und Institutionen aus den Bereichen der Wirtschaft, der Massenmedien und der Politik abgeschlossen hat.
Tut man dies, so werden höchst problematische Verhältnisse, Sachverhalte, Kommunikationsstrukturen und vertragliche Regularien zu Tage gefördert, die mit Blick auf die geforderte Autonomie des Sportsystems als mehr als bedenklich zu bezeichnen sind. Der Sport ist von einer umfassenden Ökonomisierung und Kommerzialisierung betroffen. Im Austausch zur Wirtschaft befindet er sich dabei in aller Regel in der Rolle eines Bittstellers. Bei Vertragsverhandlungen mit potenziellen Sponsoren kann man erkennen, wie einseitig die Machtverhältnisse verteilt sind. Die meisten Sportorganisationen müssen jedes ihnen gemachte Angebot nahezu zwangsläufig annehmen. Beabsichtigt ein Vertragspartner, sich vom Sport zu trennen, so sind solche Entscheidungen meist leidend hinzunehmen. Die Risiken sind bei diesen Partnerschaften sehr einseitig verteilt. Wechselt ein Unternehmen seine Marketingstrategie, so bleibt der Partner aus dem System des Sports von heute auf morgen auf der Strecke. Will man die dadurch entstandene Ertragslücke schließen, so müssen die Verantwortlichen des Sports nicht selten bei Repräsentanten der Wirtschaft zu Kreuze kriechen. Der Sport scheint dabei zu jeder Anpassung bereit zu sein und die Repräsentanten der Wirtschaft genießen ihre Rolle als Kolonialherren gegenüber den „Eingeborenen“ aus der abhängigen Welt des Sports. Es kommt immer häufiger hinzu, dass die Wirtschaft vermehrt ihre Repräsentanten in die Führungsgremien des Sports entsendet. Großzügig übernehmen sie die Rolle des Beraters und versuchen dabei indirekt mit diesen Interventionen, dem System des Sports die imperialistische Logik ihres Handelns aufzuzwingen.
5) Sportorganisation mit Kolonialherrenmanier
Die Situation des Sports ist heute jedoch keineswegs so eindeutig, wie das bislang gezeichnete Bild von der Macht der externen Kolonialherren und den bemitleidenswerten Abhängigen im System des Sports nahelegt. Die Kolonialismusthese, wie schon oben angedeutet, kann auch umgekehrt werden. Der Sport ist dabei in der Rolle der Kolonialmacht und verfügt über mächtige Kolonialherren. Vom Sport abhängig sind dabei einzelne Personen, Organisationen, Institutionen bis hin zu ganzen Staaten. Im System des Sports werden dabei bedeutsame Werte unserer Gesellschaft wie Fairplay und Solidarität lediglich ideologisch vorgetäuscht, in der Realität herrscht jedoch das Gesetz des ökonomisch Mächtigen. Dabei gibt es nur wenige, die über umfassende Macht verfügen und sehr viele, die sich als ohnmächtig wahrnehmen.
Mächtig sind dabei vor allem internationale Sportorganisationen, wie z.B. das IOC, die FIFA oder „World Athletics“. Aber auch einzelne, nationale Sportverbände wie z. B. der DFB können dominante Rollen ausüben. Bei keiner anderen Sportart wird die Rolle des mächtigen Kolonialherren deutlicher als beim Fußball, bei dem die FIFA längst über die Definitionsmacht über jene Regeln verfügt, über die sich der Fußballsport mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen austauscht. Wer als Mitgliedsverband die Fußballweltmeisterschaft ausrichten möchte, muss deshalb zu allererst seine Regierung davon überzeugen, dass sie sich mit ihrem Steuerrecht den Bedingungen der FIFA anzupassen hat. Auch die Qualitätsstandards für die Stadien werden von der FIFA vorgeschrieben. Angesichts der Macht und des damit verbundenen finanziellen Reichtums darf es dabei nicht verwundern, dass die Repräsentanten der FIFA in der politischen Hierarchie einen Status einnehmen, der für die Führungseliten des Politik- und Wirtschaftssystems typisch ist.
Auch das IOC befindet sich in einer mächtigen Position. Nur so kann es Bedingungen definieren, unter denen Olympische Spiele stattfinden können. Dies hat in der Regel zur Folge, dass dem privaten Sektor und den Sportorganisationen hohe Gewinne zufließen, die Verluste hingegen von der öffentlichen Hand und den jeweiligen nationalen Ausrichtern getragen werden müssen.
Viele internationale Sportorganisationen verfügen heute über eine Lizenzierungsmacht, die weit hinein in den gesellschaftlichen Alltag reicht. World Athletics definiert beispielsweise nicht nur, wie sich ein Hürdenlauf zu ereignen hat und welche Lauf- und Wurfdisziplinen bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen als Wettkämpfe zugelassen sind. Sie vergibt vielmehr auch die Lizenzen für die Wurfgeräte, für die Hürden, für Hochsprunganlagen und Kunststoffbahnen. Ändert World Athletics ihre Regeln, so hat dies Konsequenzen bis hinein in den Schulsport. Wird die Form und das Gewicht der Hochsprunglatte neu definiert, werden neue Gewichtsklassen für den Speerwurf festgelegt, oder kommt es zur Vereinbarung von neuen Qualitätskriterien für Kunststoffbahnen, so hat dies für den Sportstättenbau und für die Ausstattung von Sportanlagen auf der gesamten Welt Bedeutung.
In gewissem Sinne sind die Sportorganisationen „Weltmächte“ mit einer umfassenden Definitionsgewalt. Die koloniale Gewalt, die ein Teil des Sportsystems ausübt, reicht dabei weit über diese eher technischen Belange hinaus. Dies wird einmal mehr am Beispiel des Fußballs und der FIFA sichtbar, wenn diese die gesamte Weltöffentlichkeit mit ihrer Weltmeisterschaft über mehr als vier Wochen eines Jahres in Anspruch nimmt, die Aufmerksamkeit auf sich zieht, nationale Ökonomien im positiven wie im negativen Sinne dabei beeinflusst und das Zeitbudget von Institutionen, Gruppen, Unternehmen und ganzer Gesellschaften okkupiert und dabei nahezu einen Ausschließlichkeitsanspruch erhebt. Die Machtgelüste sind dabei derart groß geworden, dass eine Selbstbescheidung der FIFA kaum noch erwartet werden kann.
Auch von einer Solidarität gegenüber anderen Sportorganisationen sind die mächtigsten Sportverbände weit entfernt. Vielmehr prägt der finanzielle Steigerungsimperativ das Handeln der Funktionäre, und der Einfluss und die Dominanz weniger Sportarten scheint ins Unermessliche zu reichen. Das Fernsehen tut dabei das Seinige und nicht zuletzt sind es die Zuschauer selbst, die den beschriebenen Sachverhalt zur „selbst erfüllenden Prophezeiung“ werden lassen. Wenn etwas dominant ist, so hat man sich an das Dominante gewöhnt und wünscht dessen Vermehrung. Genau dies ereignet sich seit mehreren Jahren beim Fußball und bei der Fußballberichterstattung. Von Montag bis Sonntag vergeht kein Tag, an dem die Zuschauer nicht an den Fußball gebunden werden. Die Sendezeiten für den Fußballsport wachsen und wachsen. Fußball ist das alleinige Zentrum des Sports, alles andere muss sich mit dem pejorativen Titel „Randsportart“ begnügen.
6) Fairness als politische Herausforderung
Der Sport zeigt sich uns somit als eine paradoxe Erscheinung. Es gibt in ihm Kolonialherren und Kolonialisierte, Abhängige und Mächtige. Der Sport ist in sich gespalten. Wenige haben das Sagen und immer mehr werden an den Rand gedrängt. Immer häufiger sind Sportarten gefährdet und in ihrer finanziellen Zukunft von großer Unsicherheit geprägt. Andere leben im Überfluss, wissen nicht wohin mit ihren lukrativen Einnahmen. Der Sport scheint ein Spiegelbild der Gesellschaft zu sein. Ambivalenzen, Paradoxien und Widersprüchlichkeiten, so wie sie in der Gesellschaft anzutreffen sind, prägen auch den Sport. Für die Mächtigen im Sport dient dieser Vergleich meist als Alibi für ihr problematisches und nicht selten unsoziales Handeln.
Dieser einseitigen Argumentation kann mit dem Hinweis begegnet werden, dass der Sport auch anders sein kann. Es gibt Möglichkeiten für einen besseren Sport. Es gibt einen fairen Sport, auch dann, wenn der Betrug im Sport zum Alltag geworden ist. Es gibt die Möglichkeit zur Solidarität auch dann, wenn im Sport derzeit der finanzielle Egoismus dominiert. Auch im Sport können die Maximen der anspruchsvollen Leistung, der gerechten Anerkennung und der fairen Beurteilung der Besten ihre Anwendung finden. Ohne Zweifel sind die Werte, die den Sport aus kultureller Sicht als wertvoll erscheinen lassen, in den vergangenen Jahrzehnten im System des Sports aus der Balance geraten. Diese Situation kann von uns jedoch beeinflusst werden. Der Sport ist keineswegs etwas Schicksalhaftes. Er ist vielmehr machbar. Er wird von Menschen für Menschen gemacht. Genau darin liegt heute nicht weniger die Chance, als dies in der Vergangenheit der Fall war.
Die Kolonialismus-These, so wie sie hier in einer doppelten Lesart diskutiert wurde, verweist auf Herr-Knecht-Verhältnisse in der Welt des Sports wie sie mit Blick auf einen wünschenswerten humanen Sport entschieden abzulehnen sind. Es sind deshalb Vorbilder gesucht, bei denen die kolonialen Verhältnisse überwunden sind und bei denen sich der Sport nach innen und nach außen durch faire Partnerschaften auszeichnet.
Letzte Überarbeitung: 15.01.2020