„Memorandum Schulsport“ Herbst 2019 – Ein Dokument ohne Wert?

Nahezu stillschweigend wurde im Oktober 2019 ein „Memorandum Schulsport“ veröffentlicht, das der deutsche Sportlehrerverband, die Deutsche Vereinigung für Sportwissenschaft, der Deutsche Olympische Sportbund und der „Fakultäten Tag Sportwissenschaft“ gemeinsam beschlossen haben. Dieses Memorandum sieht sich als eine aktualisierte Fortschreibung des „Memorandum zum Schulsport“ 2009.

Dem Schulsport kommt ohne Zweifel eine hohe bildungs-und gesellschaftspolitische Bedeutung zu. Seine pädagogische Bedeutung ist unbestritten. Die pädagogische und erziehungswissenschaftliche Diskussion über die Leibesübungen und den Sportunterricht hat eine lange Tradition. Die pädagogischen, didaktischen, und methodischen Grundlagen dieses Schulfaches sind schon seit längerer Zeit gesichert, dennoch scheint der Schulsport auch zu Beginn des dritten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts noch immer Probleme aufzuweisen. Anders lässt sich die Veröffentlichung des neuen Memorandums wohl kaum erklären.

In gewisser Weise muss dies überraschen, denn die Kritik an der aktuellen Situation des Schulsports beziehungsweise der Leibesübungen und der Leibeserziehung hat schon eine lange Tradition:

  • Der DSB hatte sich bereits zwei Jahre nach seiner Gründung am 16.3.1952 mit einer „Entschließung des Sportbeirates zum Schulsport“ zu Wort gemeldet.
  • 1955 folgte eine „Denkschrift über die Leibeserziehung an den deutschen Schulen und Hochschulen“.
  • Am 24.9.1956 wurden die ersten „Empfehlungen zur Förderung der Leibeserziehung in den Schulen“ veröffentlicht.
  • Am 2. Mai 1961verabschiedete der DSB eine „Stellungnahme zum Problem der Leibeserziehung an Gymnasien“.
  • 1965 folgte ein“ Memorandum zum Stand der schulischen Leibeserziehung“.
  • 1972 war es dann soweit. Das erste „Aktionsprogramm für den Schulsport“ wurde gemeinsam mit der Kultusministerkonferenz veröffentlicht. Neben dem Deutschen Sportbund und den Kultusministern der Länder wurde dieses Aktionsprogramm auch von den kommunalen Spitzenverbänden verabschiedet.
  • 1985 wurde das zweite“ Aktionsprogramm für den Schulsport“ vom DSB gemeinsam mit der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder und den kommunalen Spitzenverbänden beschlossen.
  • 2009 folgte das „Memorandum zum Schulsport“, das vom DOSB, DSLV und von der dvs verabschiedet wurde.
  • Im Herbst 2019 folgte nun das neue „Memorandum Schulsport“ bei dem jedoch auffällt, dass wie 2009 weder die kommunalen Spitzenverbände noch die Konferenz der Kultusminister bei dessen Verabschiedung beteiligt gewesen sind.

Aus einer bildungs- und sportpolitischen Perspektive muss gefragt werden, welche Bedeutung derartige Memoranden und Dokumente für die Entwicklung des Schulsports in Deutschland haben, beziehungsweise gehabt haben, welche Forderungen in welcher Weise an die für den Schulsport Verantwortlichen herangetragen wurden und mit welchen Kontrollinstrumenten und mit welchen Kontrollinstrumenten eine Überprüfung der vorgetragenen Forderungen erfolgte.

Ein Vergleich der verabschiedeten Dokumente wäre dabei ebenso hilfreich wie ein Blick auf die empirischen Fakten, die die Entwicklung des Schulsports betreffen. Wollte man die Situation des Schulsports in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit dem zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts vergleichen, so müsste man beispielsweise wissen wie viele Schüler 1950 die öffentlichen Schulen besuchten, wie viele Sporthallen, Schwimmbäder, Sportplätze und Freiluftanlagen dem Sportunterricht zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung standen. Wie viel ausgebildete Sportlehrer und Sportlehrerinnen beschäftigt wurden, wie viel Stunden Leibesübungen bzw. Sport tatsächlich an den Schulen unterrichtetet wurden und wie die Leibeserziehung bzw. der Sportunterricht in den Lehrplänen der einzelnen Bundesländer abgesichert war. Zu all diesen Daten müsste man die Vergleichswerte zum Beispiel aus dem Jahr 2018 kennen, um die Entwicklung nachzuvollziehen, die tatsächlich in der Leibeserziehung beziehungsweise im Sportunterricht des schulischen Gemeinwesens stattgefunden hat.

Diese empirischen Befunde sind leider öffentlich nicht zugänglich, ja es muss sogar bezweifelt werden, ob sie jemals solide erhoben wurden und somit für politische Entscheidungen zur Verfügung gestellt werden können.

Ein Vergleich der verabschiedeten bildungspolitischen Dokumente könnte dennoch lohnend sein, kann doch damit möglicherweise aufgezeichnet werden, dass auch im „Politikfeld Schulsport“ nicht weniger häufig das sog. „Talk-Action-Phänomen“ zu beobachten ist, wie es in so vielen Politikbereichen unserer Gesellschaft üblich geworden ist. Viel „Talk“ manchmal auch Geschwätz, wenig „Action“, also nur selten wirkliche nachhaltige Veränderungen zeichnet dieses Phänomen aus.

Es kann sich dabei lohnen einen Blick auf das Dokument zu den „Empfehlungen zur Förderung der Leibeserziehung in den Schulen“ aus dem Jahr 1965 zu werfen. Vergleicht man es mit dem Dokument aus dem Jahr 2019 so fällt zunächst die klare und einfache Sprache auf, mit der die Probleme der Leibeserziehung in den sechziger Jahren behandelt wurden. Nicht weniger auffällig sind die klaren Forderungen:

„a) In allen Schulen ist für das erste und zweite Schuljahr in der Grundschule die tägliche Turn- (Spiel-)-zeit unentbehrlich. Sie ist auch bei wenig gegliederten Schulen durchzuführen.

b) Für alle allgemeinbildenden Schulen sind vom dritten Schuljahr an drei Wochenstunden Leibesübungen im Rahmen des geschlossenen Lehrplans anzustreben. Zusätzlich sind in der Form eines Sport-(Spiel)-nachmittags oder sportlicher Gemeinschaften (z.B. Turnen, Rudern, Schwimmen Skilaufen usw.) zwei Wochenstunden Leibesübungen einzurichten. Der Spielnachmittag soll für die teilnehmenden Klassen aufgabenfrei sein.

c) Für die Berufsfachschulen und Fachschulen ist Unterricht in den Leibesübungen vorzusehen. Der Umfang dieses Unterrichts soll an die für die allgemein bildenden Schulen geltende Stundenzahl fortschreitend und sinngemäß angepasst werden.

d)Die Jugend an den Berufsschulen soll durch geeignete Maßnahmen zu Leibesübungen angehalten werden.

In ferner Zukunft soll der Unterricht in den Leibesübungen in allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen eine tägliche Turn -und Sportzeit umfassen.“

Solch konkrete Forderungen gibt es auch zur „Gewinnung, Ausbildung und Fortbildung geeigneter Lehrer für die Leibeserziehung“, zur „Förderung des Übungsstättenbaus“ und zur „Zusammenarbeit zwischen Schule und Verein“. In der Anlage zu diesem Dokument werden ganz konkrete Vorgaben für die Anzahl und Größe der Sportstätten für die verschiedenen Typen der öffentlichen Schulen benannt.

Im „Memorandum Schulsport“ vom Herbst 2019 wird 60 Jahre später die aktuelle Situation des Schulsports folgendermaßen beschrieben:

„Schulsport befindet sich in einer ausbaufähigen Situation. Die Rahmenbedingungen und Wirkungsmöglichkeiten des Sportunterrichts, wie des außerunterrichtlichen Sports könnten besser ausfallen. Sie sind -verglichen mit früheren Zeiten und anderen Ländern- auch nicht so schlecht. … auf Grundlage aktueller Daten muss man jedoch feststellen, dass die Sportstätten und deren Ausstattung vielfach unter hohem Beschaffungs- und Sanierungsbedarf bei gleichzeitigem Investitionsstau leiden; das lässt sich im Länder- und schulspezifischen Einzelfall konkretisieren und verlangt nach Abhilfe. Probleme liegen zudem im hohen Stundenausfall und fachfremd erteilten Sportunterricht (insbesondere in der Grundschule), im starken Einsatz von Quereinsteiger*innen, Studierenden und Vertretungslehrkräften, sowie in der Benachteiligung von bestimmten Schulformen (z.B. der berufsbildenden Schulen). … nicht zuletzt bringen der inzwischen weitverbreitete schulische Ganztag und auch der umfassende Inklusionsanspruch gesteigerte Herausforderungen mit sich.

Angesichts solcher Veränderungen bestehen mancherorts Schwierigkeiten, dem beschriebenen Auftrag des Schulsports angemessen folgen zu können. Mit Blick auf die Qualitätsoffensive in Schule und Ausbildung, Schulsport und Sportunterricht setzen wir uns dafür ein, dass erstens die Strukturqualität (Input) z.B. durch eine politisch veranlasste Reduktion von Stundenausfällen, zweitens die Verlaufsqualität (Prozess) durch verbesserte Kommunikationsabläufe, fachliche Reflexionsgespräche etc. und drittens die Ergebnisqualität (Output)z.B. durch regelmäßige Evaluationen gesteigert werden. Das enorme Potenzial des Schulsports und das Wohl der Kinder und Jugendlichen sollten es uns wert sein, den z. T. schwierigen Bedingungen entgegenzuwirken und die gegenwärtige Situation weiter zu verbessern.“

Nicht nur in sprachlicher Hinsicht kann eine derartige Situationsbeschreibung nur Kopfschütteln hervorrufen. Die Situationsbeschreibung ist weder konkret, verständlich und klar noch bietet sie empirische Fakten, die Ausgangspunkte für konkrete Forderungen sein könnten.

Angesichts einer derart unpräzisen Situationsbeschreibung des Schulsports kann es kaum noch verwundern, dass die im Kapitel „Aufruf zum Handeln – Forderungen“ vorgetragenen Erwartungen, Ziele und Forderungen ebenfalls nur wenig konkret sind. In blumiger und gleichzeitig auch holpriger Sprache wird redundant noch einmal die Bedeutung des Schulsports beschrieben. Liest man die Forderungen an die Kultus- und Schulbehörden, Schulträger und Schulverwaltung so glaubt man, dass man in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückversetzt wird:

„Die von der KMK vorgesehenen drei Wochenstunden Sportunterricht müssen als Mindeststandards seitens der Länder in allen Schulformen und Schulstufen sichergestellt werden. Dies erfordert u.a. die Bereitstellung und Finanzierung von ausreichenden Stellen für akademisch ausgebildete Sportlehrer*innen. Zusätzlich sollte die bestehende Forderung nach einer täglichen Sport- oder Bewegungsstunde insbesondere in Grundschulen und den Ganztagsschulen realisiert werden.

Bund, Länder und Kommunen sind aufgefordert die Qualität der Sportstätten und deren materielle Ausstattung nachhaltig sicherzustellen.

Besonderes Augenmerk verdient die aufgrund schließender Bäder und zum Teil fehlender Fachkräfte besorgniserregende Situation des Schwimmunterrichts vor allem in der Grundschule.

Die Situation, dass der Sportunterricht vielerorts von nicht ausgebildeten Sportlehrkräften erteilt wird, ist untragbar…

Es ist dringend notwendig, ein differenziertes Lernangebot im Sportunterricht umzusetzen, das allen Schüler*innen gerecht wird.“

Solche Forderungen tun niemand weh. Sie werden vermutlich von den Kultusverwaltungen lediglich mit einem Kopfnicken aufgenommen. Keines der Bundesländer fühlt sich betroffen. Die Mängel finden sicher immer nur bei den anderen. Die Autoren des Memorandums geben sich mit drei Wochenstunden Sportunterricht zufrieden. Eine tägliche Sport- oder Bewegungsstunde, wie sie bereits 1965 nicht nur vom DSB, sondern auch von den Kultusministern selbst gefordert wurde, scheint heute eine völlig unrealistische Utopie zu sein. Dies ist vor allem auch deshalb ein Ärgernis, weil jeder weiß, dass noch nicht einmal die vorgeschriebenen drei Wochenstunden Sportunterricht in vielen Bundesländern verlässlich realisiert werden. Die Tatsache, dass an vielen Schulen gar kein Schwimmunterricht mehr stattfindet, dass immer mehr Schwimmbäder geschlossen werden und dass man davon auszugehen hat, dass viele Schüler zukünftig das Erwachsenenalter als Nichtschwimmer erreichen werden, wird nirgendwo konkret erwähnt.

Gewiss ist es schwierig angesichts der Kulturhoheit der Bundesländer und angesichts der Unabhängigkeit der einzelnen Bundesländer in Bezug auf die Entwicklung des Schulsports ein bundesweites Memorandum Schulsport zu verabschieden, mit dem man eine Betroffenheit aller Verantwortlichen des deutschen Schulsports erreichen kann. Will man dies, so muss man zu allererst die Kultusminister aller Bundesländer und die kommunalen Spitzenverbände mit ins Boot holen und sie auch mit festen Terminvorgaben verpflichten. Man muss aber auch konkrete Fakten und Ross und Reiter benennen. Damit schafft man sich gewiss auch Feinde. Doch nur auf diese Weise kann dem Schulsport auch wirklich geholfen werden. In welchen Bundesländern finden 3 Stunden Sportunterricht pro Woche wirklich statt? An wieviel Grundschulen im jeweiligen Bundesland arbeiten ausgebildete Sportlehrerinnen und Sportlehrer? Wie viel Mittel für die Beschaffung von Sportgeräten stehen den Schulen in den einzelnen Bundesländern tatsächlich zur Verfügung? Wie viel Schulsporthallen sind marode und deshalb renovierungsbedürftig? Wo soll in den einzelnen Bundesländern zukünftiger Schwimmunterricht stattfinden?

Nur wenn man die Antworten auf diese Fragen kennt, lassen sich operationalisierbare Ziele benennen, Zeitpunkte für die Überprüfung der angestrebten Ziele festlegen und die notwendigen Konsequenzen diskutieren, wenn die Ziele nicht erreicht werden. Ein pseudowissenschaftliches Geplänkel mit einem fragwürdigen Sprachgebrauch führt uns gewiss nicht weiter. Die zukünftigen Schülergenerationen haben angesichts der bestens begründeten pädagogischen Bedeutung des Schulsports eine bessere schulische Realität des Sports in den öffentlichen Schulen verdient.

Verfasst: 30.12.2019