Kultur des Wettbewerbs im Sport

1. Zu den Anfängen des modernen Sports in England

Der moderne Sport hat seinen Ursprung in England. Viele Sportarten, die heute in der ganzen Welt verbreitet sind, entstanden in England in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Besonders hervorzuheben sind dabei Fußball, Pferderennen, Ringen, Boxen, Tennis, Rudern, Kricket und Leichtathletik. Auch den englischen Ausdruck Sport übernahmen viele Sprachen als passenden Begriff für diesen unverwechselbaren Zeitvertreib.

Die Ausbreitung des modernen Sports ist zunächst an das Verhalten der feinen Gesellschaft gebunden. Sie gab in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Begriff Sport in England seinen Inhalt. Auch in anderen Ländern wurde der Sport zunächst von den Oberschichten übernommen. Dies gilt für die aristokratische Oberschicht Frankreichs in besonderer Weise. Die volkstümlichen Arten der Körperkultur, wie z. B. der Fußball, entwickelten ihre Merkmale eines Sports erst später und wurden auch erst später als Sport anerkannt. Sehr schnell setzten sich die englischen Sportarten aber weltweit als Zeitvertreib der Mittel- und Unterschichten durch.

Die Umwandlung eines in zahlreichen lokalen Variationen überlieferten englischen Volksspiels zum Sportspiel Fußball mit einem einheitlichen und umfangreichen Regelwerk vollzog sich in einem Prozess über mehrere hundert Jahre. Einen gewissen Abschluss fand diese Entwicklung 1863, als zum ersten Mal für ganz England Regeln festgelegt wurden. Gleichzeitig kam es dabei zur reinlichen Scheidung zwischen dem Association Football und dem Rugby. Beide Sportarten haben sich bis heute als weltweit verbreitete Sportarten mit höchster Zuschauerresonanz bewährt. Mit der Festlegung der Regeln im Jahr 1863 konnte sich der englische Fußballsport sehr schnell verbreiten, 1878 wurde in Hannover der erste Fußballclub nach englischen Regeln gegründet. In den Niederlanden geschah dies ein Jahr später. In Italien fand die erste Gründung 1880 statt. 1892 fand das erste Fußballspiel zwischen einer französischen (Stade francais) und einer englischen (Rosaleen Parc) Mannschaft in Paris unter der Schirmherrschaft des englischen Botschafters Lord Dufferin statt. Die ersten nationalen Fußballverbände wurden 1889 in den Niederlanden und Dänemark,1895 in der Schweiz, 1898 in Italien, 1900 in Deutschland und 1901 in Ungarn gegründet.

Wie lässt sich die Tatsache erklären, dass eine in England entstandene Form des Zeitvertreibs zum Vorbild einer weltweiten Freizeitbewegung werden konnte? Offenbar entsprach der Sport den spezifischen Freizeitbedürfnissen, wie sie sich damals in vielen Ländern zeigten. Interessant ist auch die Frage, warum gerade in England Freizeitaktivitäten mit unverwechselbaren Merkmalen entstanden, die wir heute als Sport bezeichnen. Eine Antwort auf diese Fragen zu finden bereitet Schwierigkeiten, denn das, was den modernen englischen Sport auszeichnet, kann auf viele Wegbereiter in der Geschichte verweisen. Die Höflinge Ludwigs des XVI. hatten ihre Tennisplätze und erfreuten sich beim Jeu de Paume. In der Antike gab es schon leichtathletische Wettkämpfe. Auch andere Sportarten wurden damals bereits betrieben und nationale und zwischenstaatliche Vergleichswettkämpfe waren üblich. Zudem kann die Wiederbelebung der Olympischen Spiele in unserer Zeit als Beweis dienen, dass der Sport der Neuzeit nichts Neues ist.

Norbert Elias war es, der uns in Bezug auf diese Fragen eine hilfreiche begriffliche Unterscheidung an die Hand gegeben hat. Er meint, dass der Begriff „Sport“ sich ähnlich wie der Begriff „Industrie“ in einem engeren und in einem weiteren Sinne verwenden lässt. Im weiteren Sinne bezieht sich der Sportbegriff wie auch der Begriff „Industrie“ auf spezifische Figurationen in vorstaatlichen Stammesgesellschaften und vorindustriellen Staatsgesellschaften ebenso wie auf vergleichbare Erscheinungen in industrialisierten Nationalstaaten. Selbst wenn man den Begriff „Industrie“ so allgemein verwendet, ist man sich doch seiner Bedeutung im engeren Sinne bewusst. Man weiß, dass der Industrialisierungsprozess des 19. und 20. Jahrhunderts als etwas völlig Neues anzusehen ist, und dass die spezifischen Produktionsweisen und Arbeitsformen, die sich unter der Bezeichnung „Industrie“ entwickelten, bestimmte einzigartige Strukturen aufweisen, die sich soziologisch genau bestimmen und klar von anderen Produktionsformen unterscheiden lassen (vgl. Elias & Dunning, 1982, S. 13).

Ähnlich verhält es sich bei der Verwendung des Begriffs „Sport“. Man kann ihn in seiner weiten Form verwenden und bezieht sich dabei auf die Wettkampfspiele und körperlichen Ertüchtigungen aller Gesellschaften. Im engeren Sinne verwendet, verweist der Begriff auf eine besondere Art des Wettkampfs, die in England entstand und sich von dort aus verbreitete. Elias spricht in diesem Zusammenhang von der Versportung der Wettkämpfe in England. Die Industrialisierung ebenso wie die Entstehung des modernen Sports stellen dabei interdependente Teilentwicklungen einer umfassenden Veränderung der Staatsgesellschaften der Neuzeit dar.

Für Elias liegt der grundlegende Unterschied der antiken Wettkampfspiele im Vergleich zum modernen Sport des 19. und 20. Jahrhunderts in den Regeln, die die jeweiligen Aktivitäten leiteten. In der Antike ließen die traditionellen Regeln der athletischen Übungen ein weitaus höheres Maß an physischer Gewalt zu, als das die Regeln der vergleichbaren Sportarten im modernen Sport erlauben. Die Scham- und Peinlichkeitsschwellen der Menschen, die sich in einem Wettkampf gegenseitig zum Ergötzen der Zuschauer verwundeten oder gar umbrachten, lagen wesentlich niedriger als in der modernen Gesellschaft. Die Regeln des modernen Sports sind auch viel genauer. An die Stelle mündlich überlieferter sind schriftlich fixierte Regeln getreten, die eine Überprüfung und Veränderung leichter zugänglich machen.

Ein weiterer Unterschied zu den antiken Vorläufern ist im Prinzip der Fairness zu erkennen. Fairness kann man bei den griechischen Spielen vergeblich suchen. Das englische Fairness-Ethos beruht nicht auf kriegerischen Traditionen. Das Postulat der Fairness ist Teil einer Wandlung im Verhalten und Erleben der Menschen. Zum modernen Fairness-Prinzip gehört, dass die Erregung und das Vergnügen, das ein Wettkampf vermittelt, nicht nur auf den kurzen Augenblick der endgültigen Entscheidung ausgerichtet ist, sondern sich auf den gesamten Verlauf des Wettkampfs bezieht. Die Dauer des Wettkampfs vermittelt eine eigene Spannung und wird nicht nur als eine Art Vorspiel für den Endpunkt, den Sieg oder die Niederlage erlebt. Im modernen englischen Sport werden Wettkämpfe auf eine neue Art spannend (vgl. Elias & Dunning, 1982, S. 9-46).

Damit kommt ein weiterer Erklärungsaspekt in den Blick, der für die Verbreitung des englischen Sports ausgesprochen bedeutsam werden sollte. Die Entwicklung des modernen Sports steht in engem Zusammenhang mit einer aufkommenden Wettleidenschaft. Das Wetten spielt in England eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Veränderung roher Wettkampfarten in zivilisiertere Formen. Für englische Gentlemen war es eine besondere Qualität ihrer Freizeit, Geld auf eine Mannschaft, einen Läufer oder Boxer (Boxkämpfe dauerten dabei mehrere Stunden) zu setzen, um so die Spannung des Wettkampfs, der bereits in zivilisiertere Bahnen gelenkt war, zu erhöhen. Das Wetten konnte aber nur dann Spannung erzeugen, wenn die Gewinnchancen fair verteilt waren. Der Ausgang musste deshalb ungewiss bleiben. Hierzu war erforderlich, dass die Wettkämpfe sehr viel genauer reguliert werden mussten, als dies in den Stadtstaaten der griechischen Antike der Fall war. So waren in der griechischen Antike beispielsweise Gewichtsklassen für Ring- oder Faustkämpfer nicht üblich. Der antike Wettkampf war von der agonalen Kampfweise geprägt. Sieg oder Niederlage standen im Mittelpunkt und nicht der Verlauf des Wettkampfs. Es ging um Ausdauer, Muskelkraft und Geschicklichkeit. Ernsthafte Verletzungen der Augen, Ohren und des Schädels waren an der Tagesordnung. Es existieren Berichte von Boxern, in denen der Sieger, als der Gegner seine Deckung fallen ließ, diesem die Finger der gestreckten Hand unter den Rippenbogen stieß und mit seinen harten Nägeln die Bauchdecke öffnete, seine Eingeweide herausriss und ihn dabei tötete.

Die Studien von Norbert Elias zeigen uns auf eindrucksvolle Weise, dass man den modernen Sport nur dann angemessen erfassen kann, wenn man den Sport nicht unabhängig von anderen Bereichen der Gesellschaft betrachtet. Wie Arbeit, Industrie, Wissenschaft und eine Vielzahl anderer Bereiche, hat auch der Sport einen bestimmten Grad an Autonomie. In der Realität gibt es aber immer nur eine relative Autonomie, bezogen auf andere gesellschaftliche Bereiche. Will man die Beziehungen zwischen der Struktur und den sozialen Funktionen des Sports sowie den anderen Aspekten einer Gesellschaft ans Licht bringen, muss man den Sport in seiner prozessualen Entwicklung beobachten. Wer den Sport lediglich als ein Faktum behandelt, dessen Existenz nicht weiter erklärt zu werden braucht, kann seiner Qualität, die er mittlerweile erreicht hat, nicht gerecht werden.

Der englische Sport mit seiner Wertestruktur, seinem Prinzip des Fair Play, seinem Regelkonzept, seiner Organisationsstruktur und seiner kommerziellen Ausrichtung, die sich vor allem an der Idee des Wettens ausrichtet, ist mittlerweile zu einem globalen Kulturmuster geworden.

SpitzenverbandMitgliedsverbände
Gründungsjahr
Mitglieds-verbände
2009
IAAFInternational Association of Athletics Federations17 (1912)213
FIFAFédération Internationale de Football Association8 (1904)208
FINAFédération Internationale de Natation Amateur8 (1908)183
FEIFédération Équestre Internationale8 (1921)134
UCIUnion Cycliste Internationale5 (1900)170
IOCInternational Olympic Committee11 (1984)206

Der internationale Fußballverband kann ebenso wie der internationale Leichtathletikverband mehr als 200 Nationen bzw. territoriale Gebilde als seine Mitglieder ausweisen (vgl. Tab. 1). Sämtliche olympische Sportarten können mittlerweile den Nachweis erbringen, dass sie in allen Kontinenten betrieben werden. Der Wettbewerb des Sports ist deshalb im wahrsten Sinne des Wortes internationalisiert, und weltweit werden die Sportarten nach standardisierten Regeln betrieben, die von den internationalen Fachverbänden zu verantworten sind (vgl. Abb. 1). Sie haben dabei die volle Hoheit über das Regelwerk. Selbst der Schulsport der Bundesländer einer Bundesrepublik muss mit den Auswirkungen dieser hoheitlichen Macht leben. Dies zeigt sich vor allem bei der Verwendung von Sportgeräten und beim Bau von Sportanlagen. So zertifiziert beispielsweise der internationale Leichtathletikverband (IAAF) weltweit die Leichtathletikanlagen. Er legt fest, mit welchen Geräten geworfen oder gesprungen wird und welches Ausmaß die jeweiligen Anlagen für die einzelnen Disziplinen haben müssen. Technische Regeländerungen können dabei folgenreiche ökonomische Wirkungen haben. Sorgfältig muss dabei überwacht werden, welche technologischen Errungenschaften der Weiterentwicklung der Sportart nützlich sein können und welche eher als eine Gefahr zu deuten sind.

Abb. 1: Sport als globales Kulturgut

2. Wetten und Fair Play als konstitutive Grundlage des modernen Sports

Im Zusammenhang mit der Entwicklung des modernen Sports spricht man in England vom „Goldenen Zeitalter des Wettens“ (Radford, 2001, S. 16). Exemplarisch für die Wettkultur des Sports kann dabei Captain Barclay erwähnt werden. Peter Radford machte 2009 mit seinem Buch The Celebrated Captain Barclay: Sport, money and fame in regency Britain auf dessen außergewöhnliche Sporterfolge aufmerksam. Bereits im Jahr 1802, nachdem er sich systematisch auf das Langstreckengehen vorbereitet hatte, gelang es Barclay, 103 km in zehn Stunden zu gehen. 1805 legte er zwischen dem Frühstück und dem Abendessen 116 km zurück und 1806 konnte er 161 km auf schlechten Straßen in 19 Stunden absolvieren. 1807 benötigte er für 125 km in hügeligem Gelände 14 Stunden. Bei all diesen Läufen ging er Wetten ein und konnte sich dabei selbst als Profiathlet beweisen. Den Höhepunkt seiner Karriere bildete eine Wette im Jahr 1809. Im Zeitraum zwischen dem 1. Juni und 12. Juli lief er 1.000 Stunden und hatte dabei das Wettangebot gemacht, dass er pro Stunde eine Meile zurücklegen wird. Captain Barclay gewann diese Wette und er konnte ein Äquivalent von 320 Jahreseinkommen eines Durchschnittsbriten mit nach Hause nehmen. Die Adeligen, die dabei auf Sieg und Niederlage von Captain Barclay setzten, boten Wetteinsätze in einer Größenordnung von 100.000 Pfund. Das ganze Wettvolumen für diese Wette würde nach heutiger Währung 40 Millionen britische Pfund betragen. Auch der Prinz von Wales gehörte dabei zu jenen, die ihren Einsatz in diese Wette eingebracht hatten (vgl. Radford, 2001, S. 2-3).

Leichtathletische Laufhelden wie Barclay gab es auch in Deutschland. Hier ist z. B. ein Taglöhner namens Stolz aus Nauheim bei Groß-Gerau zu erwähnen. Als Läufer nannte er sich selbst Peter Bajus. Auch er machte durch außergewöhnliche Laufleistungen auf sich aufmerksam. So lief er unter anderem in fünf Stunden 45 Minuten von Kastel nach Frankfurt über eine Strecke von 80 km. Im Darmstädter Tagblatt vom 25. Januar 1824 konnte dabei folgender Bericht nachgelesen werden:

„Am 18. Januar erbot sich der Taglöhner Stolz aus Nauheim bei Groß-Gerau, auf Veranlassung einer Wette, zwischen mehreren hiesigen Bürgern in 5 Stunden aus einem Gasthause zu Kastel nach Frankfurt und zurück (16 Stunden) zu gehen oder zu laufen. Um ein Viertel nach 9 Uhr des Morgens begann der Schnellfüßler seinen Trab. Aus den von Herrn Depré, Zöllner am Bockenheimer Thor in Frankfurt, ausgestellten Scheine geht hervor, daß Stolz in 2 Std 15 Min nach Frankfurt gelaufen war, und wenn er erst kurz vor 3 Uhr in Kastel wieder in dem Gasthause anlangte, so waren wohl mehrere Zufälle daran schuld, als: ein bedeutender Aufenthalt in Frankfurt, schlechte, unvorteilhafte Bekleidung, so wie der Mangel an Vorsicht, sich ein wenig Brot in die Tasche zu stecken, wodurch er veranlaßt wurde, um sich welches zu kaufen, abermals 15 Min zu verwenden“.

In der gleichen Zeitung wird berichtet, dass Peter Bajus über 10.000 m Zeiten von 31 Minuten gelaufen ist (vgl. Bertsch, o. J., S. 8, 12).

Ein besonderer Ort für die neue sich herausbildende europäische Bewegungskultur war der Prater in Wien. 1766 ließ ihn Josef II. für die gesamte Bevölkerung öffnen, nachdem er zuvor lediglich kaiserliches Jagdrevier war. In einer Erklärung weist Josef II. ausdrücklich darauf hin, dass nunmehr „Ballenschlagen“, „Kegelscheiben“ und andere Unterhaltungen erlaubt seien (vgl. Fleig, 2008, S. 8). Der Prater wird danach sehr schnell zu einem Freiraum für Schaustellerei, Spiele und sportliche Wettkämpfe. Es wurde gekegelt und Federball gespielt. Es gab mechanische Schlittenfahrten, Glückshäfen, Wachsfigurenkabinette, Theaterbuden und viele andere Formen der Zerstreuung. Veranstaltungen mit explizit sportlichem Charakter kamen hinzu. 1851 wurde ein spezielles Gebäude für Ring- und Sportkämpfe erstellt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden bereits Wettläufe organisiert. Ab 1822 kam es beim traditionellen Maifest zum wichtigen „Wiener Wettlauf“. Zehn bis zwölf herrschaftliche Läufer mussten in ihrer prunkvollen Livree auf der Hauptallee bis zum Lusthaus um die Wette laufen, dort eine Trophäe entgegennehmen und dann umdrehen. Dabei wurden sie von Pferdewagen begleitet. Nicht selten brach ein Läufer vor Erschöpfung zusammen. Mit dem so genannten „Wiener Laufer“ war der erste professionelle Beruf im Sport entstanden. Zuvor war es die Aufgabe der „Wiener Laufer“ vor den Karossen der Herrschaften herzulaufen, um für ein zügiges Vorankommen zu sorgen. Im Dunkeln trugen sie Fackeln oder Windlichter. Gelegentlich hatten sie auch die Aufgabe, Botschaften zu überbringen. Die „Wiener Laufer“ bildeten eine eigene Zunft und verfolgten auch eine eigenständige Ausbildung. Mit den besseren Straßen- und Postverhältnissen wurde der Beruf jedoch sehr schnell in Frage gestellt. 1847 fand dann der letzte Lauf im Prater statt. Parallel zu diesen Berufsläufern kamen neue Schauläufe hinzu, bei denen Schnell- und Dauerläufer eine besondere Rolle spielten. Es gab dabei artistische und sportliche Merkmale bei deren Aufführungen. So traten z. B. einige Läufer als Stelzenläufer auf, andere liefen schon gemäß der Merkmale der modernen Leichtathletik. Zunehmend setzten sich Zeitmessung und genauer Leistungsvergleich durch. Der entstehende Wettkampfsport war dabei auch immer Zuschauersport. Er sollte die Unterhaltungsbedürfnisse der Massen befriedigen (vgl. Fleig, 2008, S. 8-15).

Die englischen, deutschen und österreichischen „Wettläufe“ können als Ausgangspunkte für den Siegeszug des modernen Sports bezeichnet werden. Für die Ausrichtung sportlicher Wettkämpfe war es dabei wichtig, dass das Fair Play Prinzip über verbindliche Vereinbarungen gesichert wird, um gerechte Wetten zu ermöglichen. In der weiteren Entwicklung der Wettkämpfe führte dies zur Kodifizierung der Regeln. Erste schriftlich niedergelegte Regeln lassen sich um das Jahr 1800 für mehrere Sportarten beobachten. Neben den Regeln kam es zu einer ganzen Reihe von weiteren institutionellen Absicherungen des Fair Play Prinzips.

Wichtig waren zunächst die so genannten „Timekeeper“, die die Zeiten bei den Läufen zu messen hatten. Dies war an die Entwicklung der Zeitmesstechnologien gebunden. Mit der Einführung der Stoppuhr konnte ein erster Höhepunkt der Zeitmessung erreicht werden.

In der Person des Handicapmasters kann eine weitere Institution gesehen werden, die in erster Linie auf die Garantie fairer Wetten ausgerichtet war. Handicaprennen waren in England und in den USA im 19. Jahrhundert sehr beliebt. Die teilnehmenden Athleten mussten dem Veranstalter ihre vier letzten Leistungen mit Ort und Datum übermitteln. Diese Daten wurden vom Handicapmaster überprüft. Er führte Buch über Athleten und Resultate. Die Aufgabe des Handicapmasters bestand darin, aus der Leistungsdifferenz der Aspiranten zum favorisierten Scratchman die zu teilenden Vorgaben zu errechnen. Drei Tage vor einem Wettkampf wurden die Namen der Begünstigten in der Presse veröffentlicht. Der schlechteste Teilnehmer war dabei der so genannte Limitman. In jedem Rennen gab es auf diese Weise Cracks und Crocks. Das Publikum war dabei vor allem an den Positionskämpfen und der Aufholjagd des Favoriten interessiert. Alle Handicaps waren so bemessen, dass theoretisch alle Konkurrenten auf gleicher Höhe im Ziel einlaufen konnten. Nachteilig bei dieser Regelung war, dass viele hervorragende Leistungen verloren gingen, da der Scratchman oftmals als dritter im Ziel einlief, dennoch aber eine Bestzeit gelaufen war. Doch zu diesem Zeitpunkt war es noch nicht üblich, die weiteren Zeiten nach dem Einlauf des Ersten zu messen.

Neben Entfernungsvorgaben gab es auch Zeithandicaps. Der schwächere Läufer wurde mit einem Zeitbonus früher losgelassen und der favorisierte Scratchman startete zuletzt. Es gab aber auch Rennen, bei denen alle gemeinsam starteten und nach dem Zieleinlauf wurde den einzelnen Läufern vorher zugestandene Zeitvergünstigungen von ihrer tatsächlich erzielten Zeit abgezogen (vgl. Hamacher, 2007, S. 43).

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die bei diesen Rennen angewandte Fehlstartregel. In England und in den USA wurde ein Konkurrent beim dritten Fehlstart ausgeschlossen. Beim ersten und zweiten Fehlstart verhängte man Penalties, die eine Zurücksetzung des Läufers hinter die Startlinie zur Folge hatten. Hierbei unterscheiden sich allerdings beide Länder. Bei Läufen bis 200 Yards musste man bei einem Fehlstart in England 1 Yard zurück, in den Vereinigten Staaten galt diese Regel bis 125 Yards, bei Strecken über 800 m musste man 5 Yard zurück, in den Vereinigten Staaten galt diese Regel erst ab einer Meile.

Für die Vergleichbarkeit der Wettkämpfe war von herausragender Bedeutung, dass man die Leistungen der Wettkämpfer möglichst genau messen konnte. Mit dieser Aufgabe war die Institution des Timekeepers betraut, der Timekeeper wurde in England deshalb sehr schnell zum Beruf. Mit der Erfindung der Stoppuhr durch Adolphe Nicole im Jahr 1862 war es möglich, die Laufzeiten sehr viel genauer zu messen. Eine Messung in Fünftelsekunden setzte sich zunächst durch und hatte bis zum Jahr 1930 Gültigkeit. 1970 wurde dann die elektronische Zeitmessung eingeführt. Die Zeitmessung wurde bereits in den Anfängen des modernen Sports sehr ernst genommen. Deswegen mussten alle Messsysteme Tauglichkeitszertifikate aufweisen, und es gab einen Observation Board, dem die Überwachung aller Zeitnahmeaktionen oblag (vgl. Hamacher 2007, S. 26-27).

Das wohl schwierigste Problem zur Gewährung fairer Ausgangsbedingungen bei Wettläufen war die Frage nach der geeigneten Wettkampfanlage. In England fanden die Läufe anfangs nur auf Landstraßen und Pferdegeläufen statt. Auch gesprungen wurde nur im freien Gelände. Erst im 18. Jahrhundert begann die Einrichtung so genannter temporary tracks. Ein geeignetes Terrain wurde dabei mit Fähnchen oder Kreidestrichen abgegrenzt. Am Ausgang wurden Zelte mit Sitzbänken und einfachen Waschschüsseln aufgestellt. Ein herausragender Ort für die englische Leichtathletik wurde das in Südengland gelegene Newmarket. Es wurde vor allem durch die von Captain Barclay an diesem Ort erreichten Leistungen über England hinaus berühmt. In Newmarket fanden 1664 bereits Laufwettbewerbe statt, und ab 1680 wird über herausragende Laufresultate berichtet. Nach 1750 breitete sich die Leichtathletikbewegung in England sehr schnell aus. In Schottland wurden dabei neben kurzen und langen Laufdistanzen vor allem auch Sprünge und Würfe angeboten. In London wird 1837 die erste Laufpiste erwähnt, angelegt auf dem „Lord Cricketground“. Das rechteckige Kricketfeld war dabei nicht nur in London der geeignete Ausgangspunkt für viele Leichtathletikanlagen. Die Piste verlief dabei in Rechteckform mit vier Geraden und vier Wendepunkten von jeweils 90 Grad. Auf einem Vorläufer der Londoner Bahn lief Captain Barclay 1805 in 56 Sekunden einen Rekord über 440 Yards. Vergleichbare Bahnen gab es in Eton, Exeter und Harrow. Die Schulen und Universitäten hatten dabei eine wegweisende Bedeutung. Eine wichtige Leichtathletikanlage war der „Fenner`s Cricket Ground“ der Cambridge University. Dort gab es eine Quadratbahn, bestehend aus vier Geraden. Die Schule von Rugby war z. B. der Ort, an dem die ersten schriftlichen Fußballregeln vereinbart wurden. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die bis dahin üblichen Graspisten durch einen Aschebelag ersetzt. Aschepisten galten als besonders schnell. Ein Problem in dieser Zeit war jedoch, dass die einzelnen Laufpisten unterschiedliche Längen und unterschiedliche Formen aufwiesen. Im Laufduell zwischen Oxford und Cambridge im „Greensclub“ im Jahr 1868 maß beispielsweise die Aschenbahnrunde eine Drittelmeile. Die fortschrittlichste Anlage gab es in West Brompton im Stadion „Stamford Bridge“. Dieses Stadion besaß eine 400 Yard lange Aschenbahn mit zwei 120 Yard langen Geraden, die durch zwei 100 Yard Kurven verbunden waren. Damit war in gewisser Weise der Weg zur 400 m Bahn vorgegeben so wie wir sie heute kennen. Aus Sicht der damaligen Leichtathletik war diese Bahn jedoch umstritten. Die Vorstellungen, was einen fairen Wettkampf auszuzeichnen hat, waren dabei sehr unterschiedlich. So wurden Kurvenbahnen als weniger fair erachtet im Vergleich zu den Rechteckbahnen. Monteque Shermann, der wichtigste Leichtathletiktheoretiker dieser Zeit, vertrat zum Beispiel in seinem Buch 1887 folgende Auffassung:

„Wir sind der festen Überzeugung, dass jede Laufbahn über ein Höchstmaß an Gerade und so wenig Kurve wie möglich verfügen sollte, oder mit anderen Worten, die Piste sollte viereckig mit abgerundeten Ecken sein und nicht oval mit zwei seitlichen Geraden…Lange Kurven sind äußerst unfair bei Handicaprennen und im Übrigen bei jedem Lauf in einem großen Feld, wenn ein Konkurrent beim Überholen eines anderen gezwungen ist von innen nach außen auszuscheren, um anschließend wieder nach innen zu kommen, um nicht um weiteren Boden zu verlieren. Außerdem zwingt das ständige Laufen in der Kurve unvermeidlich zu einem verkürzten Schritt, wobei mehr Boden verloren geht, als auf einer kurzen, wenn auch schärferen Kurve“ (zitiert nach Hamacher, 2007, S. 34).

Der Grund, warum sich am Ende die Kurvenbahn durchsetzen konnte, hängt deshalb vermutlich auch damit zusammen, dass die Leichtathleten ihre Bahnen mit den Radsportlern zu teilen hatten. Für Radsportler ist die ausladende Kurve weit günstiger, hingegen sind Pisten mit abrupten Abbiegungen wenig geeignet. So kamen wohl gegen den Willen der meisten Leichtathleten die Kurvenbahnen in die Leichtathletikarenen. Auch in den USA legte man die ersten Leichathletikanlagen um bestehende Sportspielfelder an. Bezugspunkt waren dabei vor allem das Baseballspiel und der Polosport. Auch in den USA gab es zunächst vier Geraden mit kurzen Kurven, erst später kam es zur Angleichung hin zum ovalen Leichathletikstadion. Mit dem Siegeszug des Fußballspiels und der Kodifizierung der Fußballregeln wurde die Kombination des Fußballfelds mit einer Leichtathletiklaufanlage zum standardisierten Modell einer modernen Sportarena. Diese Konzeption der Raumnutzung konnte über mehr als 100 Jahre erhalten werden. Mit dem Bau eines reinen Fußballstadions wurde diese Konzeption zunächst in England, mittlerweile auch in vielen anderen europäischen Ländern überwunden, so dass die Zukunft der Leichtathletikanlage heute als offen zu bezeichnen ist.

3. Zur Situation des Sports in England im 19. Jahrhundert

Die Hinweise auf die Wettkultur Englands und die damit einhergehenden Wettkämpfe und die mit diesen Wettkämpfen verbundene Motivstruktur des Wetteiferns, verweisen auf einen Paradigmenwechsel in der englischen Körperkultur. Aus Volksspielen wird moderner Sport, aus diffuser informeller Organisation werden spezifische formale Organisationen, die von der lokalen über die regionale, nationale bis zur internationalen Ebene reichen. Einfache unbeschriebene Gewohnheitsregeln, die über Traditionen legitimiert werden, werden zu formellen kodifizierten Regeln, die zunehmend durch rationale Prozesse einer Legitimation unterliegen. Es kommt zu präzisen Begrenzungen von Raum, Zeit und Teilnehmerzahl. Gleichheit wird zu einer besonderen Maxime. Der Einfluss natürlicher und sozialer Unterschiede auf die Spielmuster wird kontinuierlich verringert, informelle soziale Selbstkontrolle während des Spielvorgangs wird durch externe Kontrolle ersetzt. Schieds- und Kampfrichter werden durch eine zentrale Organisation eingesetzt und erhalten weitreichende Befugnisse. Der Grad sozial tolerierter, physischer Gewalt wird ganz wesentlich zurückgenommen, es kommt zur Kontrolle der Emotionalität. Zurückhaltung ist geboten. Die Partizipation am modernen Sport beruht auf individueller Entscheidung. Die ehemals dominante Gruppenidentität wird zurückgenommen, individuelle Identität und persönliche Leistungsfähigkeit erhalten hohe Bedeutung (vgl. Elias & Dunning, 1982, S. 110-111).

Für den Siegeszug des modernen Sports war dabei besonders bedeutsam, dass die englischen Public Schools sehr schnell die sportlichen Wettkämpfe als einen geeigneten Erziehungsinhalt in das Schulwesen integrieren konnten. Dies gilt vor allem für das Fußballspiel, das bereits im 19. Jahrhundert in das Curriculum der Public Schools aufgenommen wurde. Ihm folgten weitere Sportarten. Auf diese Weise wurde der moderne Sport im englischen Erziehungswesen verankert. Die Popularität des Sports führte in Verbindung mit dieser pädagogischen Grundlegung des Sports zur Gründung von Sportvereinen und -verbänden. Der Sport wurde zu einer gesamtgesellschaftlichen Angelegenheit. Sozialstrukturelle Unterschiede waren dabei jedoch evident. Der Fußballsport wurde zunehmend zum Sport der sozial unteren Schichten, Bourgeoisie und Adel spielten hingegen Tennis, Kricket, Polo, Golf und betrieben Pferdesport.

 4. Turnen als deutsche Alternative

In ganz anderer Weise verlief die Entwicklung in Deutschland. War zunächst noch eine pädagogische Reflexion über die Bedeutung von Wettspielen auf der Grundlage der pädagogischen Ideen von Rousseau an der Tagesordnung und konnte man noch in den so genannten Philanthropinen ein umfassendes Bewegungs-, Spiel-, Turn- und Gymnastikprogramm als wichtiges erzieherisches und vor allem auf Nützlichkeit ausgerichtetes Medium beobachten, wird in den Folgejahren auf Grundlage der Initiativen von Friedrich Ludwig Jahn mit dem Turnen eine Körperkultur gepflegt, in der Gesellschaftsübungen im Mittelpunkt stehen, die im Gegensatz zum englischen Sport auf die Gemeinschaftsleistung ausgerichtet waren. Im Deutschen Turnen ging es nicht um die Hervorhebung der Individualleistung. Auch das Prinzip der Überbietung spielte so gut wie keine Rolle. Die damit verbundene Wertestruktur war auch für das pädagogische Turnen prägend, so wie es sich seit dem Schulerlass von 1850 unter Anleitung von Adolf Spieß im öffentlichen Schulwesen entwickeln konnte. Eine kommerzielle Ausrichtung war bei dieser Art von Körperkultur noch nicht zu erkennen. Sie beruhte im Wesentlichen auf einer medizinischen und integrationspolitischen Legitimation. Das Prinzip des Fair Play, auch die Idee codifizierter Regeln und das dazugehörige organisatorische Konzept konnten im Deutschen Turnen nicht in gleicher Weise beobachtet werden, wie dies für den englischen Sport der Fall war, wenngleich die Gründung der Turngesellschaften und die Ausrichtung der deutschen Turnfeste den institutionalen Charakter des Turnens in dessen weiterer Entwicklung prägen sollte. Vergleicht man die konkurrierenden weltlichen Wertestrukturen des deutschen Turnens und des englischen Sports, so wird deutlich, dass ein kultureller Konflikt bei der Begegnung zwischen Turnen und Sport vorhersehbar war. Bemühungen, die sich gegen die Versportlichung der deutschen Gesellschaft gerichtet haben, waren zum Ende des 19. Jahrhunderts deshalb kaum noch überraschend, nachdem der englische Sport vermehrt das Interesse sowohl der höheren Schichten als auch der Jugend, zunächst in Norddeutschland, später in allen deutschen Städten, finden konnte.

Als ein ausdrucksvolles Dokument für jene Initiativen, die gegen den englischen Sport gerichtet waren, kann das Buch des Stuttgarter Studienprofessors Karl Planck bezeichnet werden. Mit dem Titel Fußlümmelei und dem Untertitel Über Stauchballspiel und englische Krankheit (vgl. Abb. 2), versucht er 1898 mit dieser Kampfschrift gegen den englischen Sport das angeblich so gefährliche Fußballspiel von seinen Schülern fern zu halten (vgl. Planck, 1898). Der weitere Siegeszug des englischen Sports und damit des modernen Sports war mit solchen Initiativen jedoch nicht aufzuhalten.

Abb. 2: Fußlümmelei – Über Stauchballspiel und englische Krankheit

 5. Kulturelle Überhöhung des Sports durch Coubertins Olympismus

Unter kulturellen Gesichtspunkten ist dem modernen Sport der Durchbruch vor allem durch die kulturelle Überhöhung des Sports durch die Einführung der Olympischen Spiele der Neuzeit gelungen. Coubertins Idee des Olympismus, seine Vorstellung einer Religio athletae, der mit den Olympischen Spielen verbundene Bildungsauftrag und die Verknüpfung des modernen Sports mit Kunst, Literatur, Architektur, Theater und Film wertete den modernen Sport zu einem Kulturmuster auf, das sich seiner massenhaften Anerkennung auch heute noch sicher sein kann. Dabei gäbe es die modernen Olympischen Spiele nicht, wenn es nicht zuvor 1.000 Jahre lang die griechischen Olympischen Spiele gegeben hätte. Es ist allerdings zu vermuten, dass der Weltsport sich auch ohne die Olympische Bewegung zu einer unverzichtbaren Sportkultur entwickelt hätte. Allerdings würde dem Weltsport ein entscheidender Referenzpunkt fehlen.

Coubertins Leistung ist vorrangig darin zu sehen, dass er die antiken Olympischen Spiele in eine neue Konzeption überführte. Das Medium Sport sollte dabei zentraler Inhalt zu Gunsten einer Reform des französischen Erziehungswesens sein. Im 19. Jahrhundert war eine Erneuerung der Olympischen Spiele vor allem auch deshalb möglich, weil in Europa eine umfassende Griechenverehrung zu beobachten war. Schiller, Hölderlin, Rousseau, Curtius und eine Reihe weiterer Philosophen, Schriftsteller und Intellektuelle haben mit ihren Ideen Coubertins Konzeption der modernen Olympischen Spiele vorbereitet und teilweise auch vorweggenommen.

Der im 19. Jahrhundert beginnende Siegeszug des modernen englischen Sports erreichte seinen ersten Höhepunkt mit der Wiederbegründung der modernen Olympischen Spiele im Jahr 1896. Coubertins Bemühungen waren dabei vorrangig auf die Lösung von Erziehungsproblemen ausgerichtet, wie er sie in der französischen Gesellschaft beobachten konnte. Seine pädagogischen Studien führten ihn dabei unter anderem auch nach England, wo er den modernen Sport im englischen Schulwesen beobachten konnte. Zuvor war es in Europa zu einer Wiederbelebung der Begeisterung für die Antike gekommen, was gleichzeitig auch zu verschiedenen Versuchen führte, die Olympischen Spiele in Griechenland oder aber auch an anderen Orten in Europa durchzuführen. Die Ausgrabungen der antiken Stätten taten ein Übriges, um in Frankreich, aber auch in Deutschland und in den übrigen europäischen Staaten eine Aufwertung des Hellenismus zu bewirken (vgl. Krüger, 1993, S. 60-67).

In diesem ideellen Umfeld entwickelte Coubertin seine Leitgedanken zu einem modernen Olympismus. Im Mittelpunkt sollte dabei der Athlet stehen. Der faire Wettkampf des Athleten, der seine Leistung um seiner Selbstwillen erbringt, sollte dabei eine religiöse Erhöhung erhalten („religio athletae“). Im Wettkampf sollten Adel und Auslese durch körperliche Überlegenheit hergestellt werden. Der Wettkampf selbst sollte dem Gebot des Friedens folgen und die sportlichen Wettkämpfe sollten in ein Kulturereignis eingebunden sein, das sich durch eine eigene Ästhetik und Schönheit auszuzeichnen hat. Für Coubertin war es deshalb wünschenswert, dass neben dem sportlichen Wettkampf auch Wettbewerbe um den besten Literaten, Künstler, Musiker und Wissenschaftler stattzufinden haben. Das Ideal des Wettbewerbs hat sich dabei durch die gegenseitige Achtung der Wettkämpfer auszuzeichnen. Zu achten sind die Überzeugungen und Lebensbedingungen des anderen. Besonders zu beachten sind die Regeln, aber auch die Persönlichkeit des Gegners und alle Beteiligten haben sich ihrem Gewissen zu verpflichten (vgl. Coubertin, 1915). Für Coubertin war es dabei folgerichtig, diese Idee des modernen Olympismus mit einem Symbolismus anzureichern, durch den die eigentliche Erhöhung bei den Spielen selbst zum Ausdruck gebracht werden soll. Hierzu gehören der olympische Eid, die olympische Fackel, später die olympische Hymne und ab 1936 der olympische Fackellauf. Hierzu gehören auch die olympischen Ringe und eine nach festen Regeln abzuhaltende Eröffnungs- und Schlussfeier. Dem modernen Olympismus gelang es dabei, die Literaten und Künstler der Welt ebenso wie die herausragenden Musiker, Filmregisseure und Architekten an sich zu binden. Bis zu den Olympischen Spielen 1948 fanden Kunstwettbewerbe in der Baukunst, in der Literatur, in der Musik, in der Malerei und in der Bildhauerei statt. Bei den olympischen Kunstwettbewerben 1936 wurden noch Medaillen für städtebauliche und architektonische Entwürfe, für Gemälde, Zeichnungen, Aquarelle, Gebrauchsgrafik, Rundplastik, Reliefplastik, lyrische Werke, epische Werke, Solo- und Chorgesang und Erstbesteigungen (z. B. Eigernordwand) vergeben. Als ein Höhepunkt in dieser Entwicklung können die Olympischen Spiele von 1972 in München gelten, wo es Dank des damaligen NOK-Präsidenten Willi Daume gelang, herausragende Designer, Architekten und Städteplaner, aber auch Schriftsteller und Musiker an das Münchner Projekt zu binden. Der Münchner Olympiapark gilt unter diesem Gesichtspunkt bis heute als eine künstlerische Besonderheit, wie sie zuvor im Olympismus noch nicht anzutreffen war.

6. Internationalisierung des sportlichen Wettbewerbs – Sport wird zum universellen Kulturmuster

Aus heutiger Sicht betrachtet, ist der moderne Sport zu einem universellen Kulturmuster geworden (vgl. Bausinger, 2006). Diese Annahme vertreten auch die Repräsentanten des Weltsports. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass die Merkmale einer kulturellen Relativität gerade auch im modernen Sport nur unzureichend beachtet werden. Auch wird übersehen, dass der moderne Sport keineswegs in gleicher Weise in den verschiedenen Gesellschaften dieser Welt Anerkennung finden konnte und er nach wie vor unter dem Aspekt der jeweiligen Sozialisationsbedingungen erhebliche Unterschiede aufweist.

Der Sport ist in seiner Entwicklung vorrangig ein bürgerliches, großstädtisches Phänomen. Dies lässt sich auch heute noch in Entwicklungs- und Schwellenländern beobachten. Sport wird vorrangig durch städtische Eliten getragen, meist sind sie Angehörige des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums, aber auch die Angestellten sind dabei zu beachten, die mittels des Sports am bürgerlichen Leben teilhaben. Die von Nielsen vorgelegten Befunde zur Entwicklung des Verhältnisses der Großstadt zum Sport zwischen 1870 bis 1930 gelten auch heute noch. Es ist vorrangig die Mittelschicht, die auf eine gesundheitsbewusste Lebensweise und auf die Geselligkeit im Verein ausgerichtet ist (vgl. Nielsen, 2002).

Will sich der moderne Sport durchsetzen, so müssen in den jeweiligen Gesellschaften ganz bestimmte Voraussetzungen anzutreffen sein. Dazu gehört unter anderem, dass akzeptiert wird, dass der menschliche Körper als manipulierbares Objekt betrachtet werden kann. Es muss in der Gesellschaft als legitim angesehen werden, dass Triebe und Affekte zu kontrollieren sind. Es muss ein Regelbewusstsein anzutreffen sein, d. h., es müssen gesellschaftlich anerkannte Formen sozialer Kontrolle existieren. Damit eng verbunden ist auch die Idee von Planung und Training in Bezug auf leistungsorientierte Handlungsmuster. Zum modernen Sport gehört auch die Idee des Überbietens, die sich ja aus einer vergleichenden kulturellen Perspektive keineswegs als universell erweist, wie dies vielfach aus europäischer Sicht fälschlicherweise angenommen wird. Auch das Phänomen der Zeit-Nutzenmaximierung, der Zeit-Minimierung und des ökonomischen Einsatzes von Zeit muss als grundlegend für den modernen Sport bezeichnet werden. Im modernen Sport geht es auch um die Möglichkeit des Bedürfnisaufschubs zu Gunsten einer zeitlich entfernten Zielerreichung. Sporttreibende Menschen müssen ihre Lebensführung optimieren, Lebensaskese und Gefühlsdisziplinführung müssen als sinnvoll erachtet werden. Rhythmisierter Tages- und Jahresablauf, die Gliederung in soziale Räume, eine Normierung und Spezifikation der Lebenswelten müssen akzeptiert sein. Besonders beachtlich ist dabei der gesellschaftliche Wunsch nach prinzipieller Chancengleichheit, die man im Sport zur Darstellung bringen möchte. Der moderne Sport ist dabei vor allem ein Ausdruck einer gesellschaftlichen Kultur, die sich dadurch auszeichnet, dass etwas prinzipiell Folgenloses von den Menschen mit Sinn verknüpft wird. Die Idee des „Überflüssigen“ und des „Spielerischen“ prägt den modernen Sport.

Wo immer Gesellschaften diese grundlegenden Merkmale aufzuweisen hatten und über einen Modernisierungsprozess an diese Merkmale herangeführt wurden, konnte man in der weiteren Entwicklung des Weltsports erkennen, dass die verschiedenen Sportarten sehr schnell ihre Anhängerschaft finden konnten. Sportarten wie Leichtathletik und Fußball sind mittlerweile weltweit verbreitet. Aber auch olympische Sportarten, die zunächst nur auf Europa beschränkt waren, konnten mittlerweile alle Kontinente der Welt erreichen. Dies gilt für den internationalen Radsportverband gleichermaßen wie für den internationalen Reitsportverband. Und betrachten wir das Internationale Olympische Komitee, so kann es im Jahr 2021 auf 206 nationale Olympische Komitees verweisen (vgl. Tab. 1).

Die Tendenz zur Universalität wird bei den Olympischen Spielen auch über die Vervielfältigung der Wettbewerbe deutlich. Vermehrt ist man auch bemüht, aus den einzelnen Kontinenten bedeutsame bewegungskulturelle Muster, wenn sie sich als Sportarten eignen, in das olympische Programm aufzunehmen. Die sportlichen Großereignisse, wie z. B. eine Fußballweltmeisterschaft, eine Leichtathletikweltmeisterschaft oder die Olympischen Spiele, sind auf diese Weise zu globalen Veranstaltungen geworden (vgl. Tab. 2).

Tab. 2: Die Entwicklung der Olympischen Sommerspiele

JahrVertretene NationenZahl der WettbewerbeZahl der Teilnehmer
18961343280
19041287681
1912281082.490
1924441403.070
1932371281.328
1948591514.064
1956671533.258
1964931675.081
19721222057.173
1980812045.217
19881592608.465
199617927110.320
200420230110.625
200820420411.126

Die Reichweite dieser internationalen Sportwettkämpfe betrifft nicht nur die Athletinnen und Athleten und die beteiligten Sportfunktionäre der jeweiligen Nationen, sie erfasst nahezu alle Bürgerinnen und Bürger dieser Welt. Besonders deutlich wird dies an der internationalen Bekanntheit der olympischen Ringe (vgl. Abb. 3).

Abb. 3: Internationale Bekanntheit der olympischen Ringe

1920 wurde zum ersten Mal das Logo der Olympischen Spiele auf einer Fahne bei den Olympischen Spielen in Antwerpen gezeigt. Die fünf Ringe, die die fünf Erdteile der Welt repräsentieren, sind heute das weltweit bekannteste Logo. Es wird allenfalls vom Logo der Firma Coca Cola übertroffen.

7. Steigerung, Vervielfältigung und funktionale Differenzierung des modernen Sports

Die olympische Überhöhung des modernen Sports durch Pierre de Coubertin hat ohne Zweifel den Siegeszug des modernen Sports bis hinein in das 21. Jahrhundert ganz wesentlich beeinflussen können. Die Olympischen Spiele sind heute das größte Sportereignis und dem Olympismus gelingt es bis heute, 28 Sommersportarten und 15 Wintersportarten trotz vieler Gegensätze und Widersprüche alle vier Jahre in Olympische Spiele einzubinden, die sich vor allem unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten als eine besondere Wachstumsbranche darstellen. Besonders eindrucksvoll kann dies über die Vermarktung der Fernsehrechte gezeigt werden (vgl. Abb. 4).

Abb. 4: Einnahmen aus Fernsehrechten der Olympischen Sommerspiele (in Mio. Euro)

In der Überhöhung der Spiele ist jedoch auch die eigentliche Gefahr zu sehen, die in der weiteren Entwicklung des modernen Sports genauer zu beobachten ist. Ursächlich wird diese Gefahr vor allem durch den Steigerungsimperativ „höher, schneller, weiter“ und durch den „Sieg-Niederlage-Code“ des modernen Sports ausgelöst. Der Steigerungsimperativ hat dabei in relativ kurzer Zeit zu außergewöhnlichen Leistungssteigerungen im olympischen Sport führen können. Lag der Weltrekord im Frauen-Hochsprung 1912 noch bei 1,44 m, so hält heute die Hochspringerin Kostadinowa den Weltrekord mit 2,09 m. Der Weitsprung der Männer lag 1896 bei 7,20 m und heute gilt die Marke von 8,95 m als Weltrekordweite. Der Weitsprung der Frauen hatte 1912 bei 4,65 m seine Weltrekordmarke, heute liegt der Weltrekord bei 7,52 m. (vgl. Tab. 3).

Tab. 3: Weltrekordentwicklung leichtathletischer Disziplinen bei Männern und Frauen

MännerFrauen
DisziplinWR 1912WR 2009DisziplinWR 1912WR 2009
100m10,69,58100m13,5010,49
200m21,4019,19200m30,321,34
400m47,8043,18400m67,147,60
10000m30:58,8026:17,5310000m38:06,4029:31,78
110mH15,0012,87100mH14,3012,21
3000m Hi,10:03,007:53,633000m Hi.9:55,288:58,81
4 x 100m42,3037,104 x 100m58,8041,37
Hochsprung2,002,45Hochsprung1,442,09
Stabhochsprung4,026,14Stabhochsprung1,725,06

Vergleichende Rekordentwicklungen finden sich auch in der Sportart Schwimmen wieder. Im Jahr 2009 kam es durch die Verwendung neuer Schwimmanzüge zu einer regelrechten Rekordflut (vgl. Tab. 4).

Tab. 4: Weltrekordentwicklung der Schwimmdisziplinen bei Männern und Frauen

MännerFrauen
DisziplinWR (Jahr)WR 2009DisziplinWR (Jahr)WR 2009
100m Freistil(1912)
01:01,6
00:46,91100m Freistil(1912)
01:20,6
00:52,07
800m Freistil(1924)
10:43,6
07:32,12800m Freistil(1919)
13:19,0
08:14,10
100m Rücken(1912)
01:15,6
00:51,94100m Rücken(1923)
01:36,7
00:58,12
200m Rücken(1912)
02:48,4
01:51,92200m Rücken(1922)
03:06,8
02:04,81
100m Brust(1912)
03:00,8
00:58,58100m Brust(1921)
01:37,6
01:04,45
200m Brust(1912)
03:00,8
02:07,31200m Brust(1921)
03:38,2
02:20,12
100m Schmetterling(1953)
01:04,3
00:49,82100m Schmetterling(1954)
01:16,6
00:56,06
200m Schmetterling(1954)
02:21,6
01:51,51200m Schmetterling(1956)
02:42,3
02:03,41
200m Lagen(1966)
02:12,4
01:54,10200m Lagen(1966)
02:27,8
02:06,15
400m Lagen(1953)
05:48,5
04:03,84400m Lagen(1953)
05:50,4
04:29,45
4x100m Freistil(1937)
04:10,2
03:08,244x100m Freistil(1912)
05:52,8
03:31,72
4x100m Lagen(1953)
04:39,2
03:27,284x100m Lagen(1953)
05:10,8
03:52,19

Betrachtet man dabei die Weltrekordentwicklung in den verschiedenen olympischen Sportarten etwas genauer, so muss man erkennen, dass in vielen CGS-Sportarten mittlerweile Leistungsgrenzen erreicht wurden, die nur noch selten überboten werden. Experten vertreten die Auffassung, dass viele Leistungen nur noch mit medikamentöser Manipulation gesteigert werden können. Die aufgedeckten Dopingfälle in Verbindung mit Weltrekordleistungen sprechen diesbezüglich eine relativ eindeutige Sprache. Der Steigerungsimperativ ist auf diese Weise für die Weiterentwicklung des modernen Hochleistungssports zur Falle geworden (vgl. Digel, 1996).

Die Erfolgsgeschichte des modernen Sports lässt sich auch über eine Vervielfältigung der Sportarten und über eine Steigerung der aktiv Sporttreibenden nachzeichnen. Gab es im Jahr 1950 24 Sportarten, die mit ihren Fachverbänden den Deutschen Sportbund gründeten, so sind heute in Deutschland 60 Sportfachverbände zu unterscheiden (vgl. Tab. 5). Darüber hinaus gibt es immer mehr regelgeleitete Sportaktivitäten, deren Zahl mittlerweile bei über 100 angelangt ist. In der Sportstättenplanung und beim -bau werden von Architekten heute bereits mehr als 200 Bewegungs- und Sportaktivitäten unterschieden. Diese Vervielfältigung lässt sich auch in den Mitgliedschaften der Vereine beobachten. 1950 gab es in Deutschland 19.874 Vereine, im Jahr 2008 kann eine Vervierfachung diagnostiziert werden, es wurde die Zahl von 90.775 Vereinen erreicht. Der in Sportvereinen organisierte Bevölkerungsanteil, der noch im Jahr 1950 bei 6,7 % lag, hat mittlerweile einen Wert von 33,4 % erreicht. In das System des Sports ist somit ein Drittel der Gesamtbevölkerung inkludiert. Betrachten wir in diesem Zusammenhang freiwillige Vereinigungen und Non-Governmental Organizations, so lässt sich für keinen anderen kulturellen Sektor ein vergleichbares Wachstum in den vergangenen 50 Jahren beobachten (vgl. Tab. 5).

195020012021
Sportvereine19.87487.71787.000
Mitgliedschaften3,2 Mio.26,8 Mio.27,0 Mio.
Bevölkerungsanteil6,7%32,7%32,5%
Sportfachverbände245566

Tab. 5: Sportentwicklung in Deutschland

Neben der Vermehrung der Sportarten kann eine intensive Beeinflussung der globalen Sportkultur durch die nordamerikanische Sportkultur beobachtet werden. Mountainbiking, Bodyshaping, Bungee-Jumping, Carving, Snakeboard, Robe-Skipping, Free-Climbimg, Go-Kart oder auch Inline-Skating sind Beispiele für Sportaktivitäten, die ursprünglich häufig in Subkulturen der USA ihren Ursprung hatten, heute jedoch nicht nur unter sprachlichen Gesichtspunkten globale Nachahmung erreichen.

Die Vervielfältigung der Sportaktivitäten ist in erster Linie auf die Kreativität jener zurückzuführen, die eine Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse über sportliche Aktivitäten suchen. Der Erfindung neuer Sportarten scheinen dabei keine Grenzen gesetzt zu sein. Aber auch einzelne Techniken können in überraschender Weise weiter entwickelt werden. So wurde zum Beispiel im Hochsprung der Schersprung durch den Rollsprung, später durch den Straddle und schließlich durch den Fosbury Flop abgelöst (vgl. Abb. 5).

Abb. 5: Die Entwicklung der Hochsprungtechniken

Die Vervielfältigung der Sportaktivitäten hängt aber auch mit neuen Technologien zusammen, die meist zu Gunsten des industriellen Sektors entwickelt wurden, jedoch sehr direkte und oft auch sehr überraschende Auswirkungen auf die Entwicklung des Hochleistungssports haben konnten. Dies sieht man vor allem über einen Vergleich der Sportgeräteentwicklung, wenn z. B. aus einem Holz- ein Bambusstock wird. Dieser wird von einem Stahlstab, einem Aluminiumstab und schließlich von einem Carbonfaserstab abgelöst. Auf ähnliche Weise entwickelten sich Hochräder zu Rennmaschinen, einfache Laufschuhe zu federleichten Spikes, Fußballstiefel zu WM-Modellen aus der Hightechmanufaktur und aus der Badehose wurden Schwimmanzüge, die angeblich Wunderleistungen bewirken (vgl. Abb. 6).

Abb. 6: Sportgeräteentwicklung aus historischer Perspektive

Aber auch die Sportstätten wurden Dank dieser Technologien optimiert. Das Startschäufelchen, das Jesse Owens noch 1936 bei seinem Olympiasieg benötigte, ist museal geworden. An dessen Stelle traten Startmaschinen. Elektronische Zeitmessung, Fotofinish und die neue Kunststoffbahn bewirken über entsprechende Innovationen nahezu jährlich eine erneute Beschleunigung (vgl. Abb. 7).

Abb. 7: Von der Startschaufel zur hochmodernen Starteranlage

Doch nicht nur die Sportanlagen und die Sportgeräte haben sich verändert. Verändert hat sich auch das Menschenbild des Athleten. Aus relativ normal gewachsenen schlanken Athleten sind teilweise athletische „Monster“ geworden und der Einfluss der Wissenschaft tut ein Übriges, um eine Weiterentwicklung des Menschenbilds im Hochleistungssport zu beeinflussen (vgl. Abb. 8).

Abb. 8: Sieger des 100m-Wettbewerbs 1896 und 2000

An deren Ende steht vermutlich der genmanipulierte Athlet. Medizin- und Trainingswissenschaft beeinflussen die Kraft- und Ausdauerentwicklung und steuern Koordination, Schnelligkeit und Beweglichkeit. Die Sportpsychologie ist auf die Optimierung der menschlichen Psyche ausgerichtet. Dank der pharmakologischen und biochemischen Erkenntnisse haben Athleten die Möglichkeit, ihre sportliche Leistung mittels Medikamenten zu steigern und dabei ihre Gegner zu betrügen. Bereits in den ersten Anfängen des modernen Olympismus ist diese Art von Manipulation vieler Athleten zur Alltagsroutine geworden. Heute hat das Dopingproblem ein Ausmaß angenommen, das in seinem weiteren Wachstum ganz offensichtlich nicht aufzuhalten ist. Die Anzahl der verbotenen Substanzen muss angesichts des wachsenden Missbrauchs ständig erhöht werden. Immer mehr Athleten sind heute in der Lage, eingebunden in kriminelle wissenschaftliche Beratungsnetzwerke, das bestehende Kontrollsystem zu unterlaufen. Auf diese Weise gelingt es diesen Athleten, ihre Gegner oft über viele Jahre hinweg zu betrügen und den Betrug zur Normalität werden zu lassen. Am Beispiel der Tour de France kann dabei gezeigt werden, dass der Betrug zur Normalität werden kann. Die Idee der Wettbewerbskultur, durch die sich der moderne Sport auszuzeichnen vorgibt, wird dabei in ihr Gegenteil verkehrt. Das Prinzip des Fair Play ist außer Kraft gesetzt (vgl. Digel, 1996).

Aus einer soziologischen Perspektive kann der Prozess, in dem sich in den vergangenen 100 Jahren der moderne Sport befunden hat, als ein Prozess funktionaler Ausdifferenzierung rekonstruiert werden. Strukturen mit relativ schwach ausgeprägter Differenzierung werden von komplexen Strukturen abgelöst, die sich durch fortgesetzte Differenzierung auszeichnen. Aus einem einfachen Angebot mit wenigen Sportarten wurden viele Spiele-Bewegungsmuster und viele Regelsportarten. War der Sport zunächst vorrangig eine Angelegenheit junger Männer und war er überwiegend ehrenamtlich organisiert, so sind heute nahezu alle Menschen in das System des Sports inkludiert und Hauptamtlichkeit gewinnt zunehmend an Bedeutung. War früher der Sport eine Angelegenheit, die sich vorrangig in urbanen Sportstätten abgespielt hat, so kann der Sport heute in allen ökologischen Varianten beobachtet werden. Er findet zu Land, zu Wasser, in der Luft statt und längst hat er ein eigenes Umweltproblem aufzuweisen (vgl. Digel, 1990, 73-96).

Die Angebote an Land umfassen Mountainbiketouren, Klettersteige, Hochseilgarten und Trekkingtouren. In der Luft sind Fallschirmspringen, Bungeesprünge, Paragliding und Ballonfahrten zu beobachten. Im Wasser reichen die Aktivitäten von Rafting, Wasserklettern, Canyoningtouren, Kajak, Kanu- und Wildwasserfahrten bis hin zum Rudern. Im Winter sind Schlittenhunderennen, Skisafaris, Schneeschuhtrekking, Iglubau und Langlaufen angesagt.

Auch unter dem Aspekt der zeitlichen Positionierung hat sich dabei Entscheidendes verändert. Noch vor 50 Jahren war der Sport ausschließlich eine Angelegenheit, die sich abends nach der getanen Arbeit und dabei nur bis zur Dämmerung ereignen konnte und sich auf das Wochenende beschränkte. Heute findet der Sport zu jeder Zeit statt. Der flexible Mensch sucht dabei flexible Zeiträume zur Befriedigung seiner ständig sich verändernden Bedürfnisse. Auch die Finanzierung des Sports hat sich dabei erheblich verändert. Eigenleistungen als Fundament der freiwilligen Vereinigung, d. h. der Mitgliedsbeitrag der Vereine, war zunächst das tragende Element. Diese Finanzierungsform wurde mittlerweile durch variable Finanzmittel ergänzt.

Besonders auffällig ist die Vervielfältigung der Motivstrukturen. Waren zunächst das Wetteifermotiv zentral und die Ausrichtung am Leistungsprinzip kennzeichnend für den jugendlich-orientierten Sport, so kann heute eine Vielfalt von Motiven unterschieden werden. Gleiches gilt für die Institutionen und Organisationen, die den Sport anbieten und bei denen Sport getrieben wird. Neben Verein und Schule sind längst zahlreiche private und staatliche Anbieter sowie viele weitere Organisationen getreten, die sich des Sports bedienen.

In ideologischen Reflexionen über den modernen Sport, insbesondere in politischen Reden, die der Legitimation der Sportpolitik dienen, wird noch immer sehr einstimmig ein Zusammenhang zwischen Spitzensport und Breitensport betont. Es wird dabei die Annahme vertreten, dass ein aktiv gelebter Breitensport die notwendige Basis für Erfolge im Spitzensport ist. Dieser Zusammenhang wurde spätestens durch die Erfolge der sozialistischen Sportsysteme widerlegt. Betrachtet man die Organisationsmuster, die dem modernen Hochleistungssport zu Grunde liegen, kann man erkennen, dass sich das System des Hochleistungssports längst als ein eigenständiges Subsystem des Gesamtsystems Sport darstellen lässt, das sich durch spezifische Merkmale auszeichnet. Deshalb ist es angebracht, den modernen Sport mit seinen verschiedenen Bereichen neu zu modellieren. Eine Unterscheidung in organisierter Wettkampfsport, Sport ohne organisierten Wettbewerb, instrumenteller Sport, Alternativsport und Berufssport könnte dabei ein geeignetes Angebot sein (vgl. Abb. 9).

Abb. 9: Säulenmodell der Erscheinungsweisen des Sports nach Digel – Folge funktionaler Ausdifferenzierung

8. Kommerzialisierung des modernen Sports

Die Erfolgsgeschichte des modernen Sports und die dabei zum Ausdruck kommenden Veränderungen der Wettbewerbskultur im modernen Sport können nicht nur positiv gedeutet werden. Der Steigerungsimperativ, die Einflüsse durch neue Technologien, die Beeinflussung der Sportentwicklung durch die Wissenschaft haben Gefahren sichtbar gemacht, deren Wahrnehmung, Behandlung und Abwehr immer größere Schwierigkeiten bereitet. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Entwicklung des modernen Sports aus einer System-Umwelt-Perspektive betrachtet und dabei die Wirkungen beobachtet, die die Interaktionen des Sports mit dem Wirtschaftssystem, mit dem System der Massenmedien und dem System der Politik zur Folge haben.

Besonders nachdrücklich wurde der Sport durch die Inanspruchnahme durch die Wirtschaft verändert. Für Deutschland kann dabei als entscheidender Ausgangspunkt das Jahr 1973 bezeichnet werden, als die Firma Jägermeister mit ihrem Besitzer Günther Mast, der gleichzeitig der Präsident der Braunschweiger Eintracht war, für 300.000 DM die Brust der Fußballspieler von Eintracht Braunschweig als Werbefläche einkaufte (vgl. Abb. 10).

Abb. 10: Beginn des Trikotsponsorings in der Fußballbundesliga 1973

Ab diesem Zeitpunkt war die Werbung am Mann nicht mehr aufzuhalten und hat mittlerweile ein Ausmaß erreicht, das selbst aus der Perspektive der Wirtschaft als kritisch bezeichnet wird. Doch nicht nur die Brust des Athleten wurde dabei zum Verkauf angeboten. Der Sport hat einen Weg bestritten, in dem alles, was sich als marktfähig erweisen könnte, zum Marktobjekt verändert wurde. Spieler wurden im Jahr 2009 zum Wert von 94 Millionen Euro transferiert, Preisgelder und Antrittsprämien in einer Größenordnung von 60.000 US $ bzw. 300.000 US $ für einen Olympiasieger des 100 m-Laufs sind üblich geworden.

Dieser neue Marktwert, den der Sport damit hat erreichen können, hängt vor allem mit seiner massenmedialen Präsenz zusammen. Dem Sport ist es gelungen, seine Übertragungszeiten im Fernsehen bis zur Unermesslichkeit zu steigern und die Berichterstattung über den Sport ist in einer Weise attraktiv, dass mittlerweile bei Fußballweltmeisterschaften 215 Territorien erreicht werden und mehr als 500 TV-Anstalten von diesem Wettkampf berichten. 26 Milliarden kumulierte Zuschauer betrachten vor ihren Bildschirmen die Fußballspiele einer Weltmeisterschaft (vgl. Tab. 6).

LandHöchste EinschaltquoteEinschaltquoten kumuliert
Brasilien60,5 Mio.1.140 Mio.
China71,5 Mio.1.820 Mio.
Deutschland29,7 Mio.658 Mio.
England18,8 Mio.362 Mio.
Frankreich22,2 Mio.388 Mio.
Indonesien23,5 Mio.589 Mio.
Italien23,9 Mio.278 Mio.
Japan42,3 Mio.289 Mio.
Russland12,9 Mio.369 Mio.
USA9,4 Mio.235 Mio.
Vietnam29,8 Mio.650 Mio.

Tab. 6: Einschaltquoten der Fußball-Weltmeisterschaft 2006

Vergleichbare Übertragungsdauern, Reichweiten und kumulierte Zuschauer erreichen die Olympischen Spiele (vgl. Tab. 7).

Nettoreichweiten der Olympischen Spiele 2008
Zuschauer in Mio.Marktanteil in %
Zuschauer gesamt48.0465,8
Westdeutschland39,7165,9
Ostdeutschland8,8665,3
Männer21,7068,4
Frauen23,0568,1
Meistgesehene Live-Übertragungen der Olympischen Spiele 2008
Zuschauer in Mio.Marktanteil in %
Eröffnungsfeier (ARD)7,7152,4
Schlussfeier (ZDF)4,6428,8
Rudern: Doppelvierer Damen und Herren (ZDF)4,3335,1
Turnen: Boden-Finale Männer (ARD)4,3336,6
Gewichtheben Frauen bis 53kg (ZDF)4,2234,7

Tab. 7: Nettoreichweiten ausgewählter Live-Übertragungen bei den Olympischen Spielen 2008 (Quelle: Media Perspektiven 10/2008)

Die FIFA und das IOC können über den Verkauf ihrer Fernsehrechte Milliardengewinne erzielen. Gleiches gilt für den Verkauf ihrer Sponsoren- und Lizenzrechte. Die größten Wirtschaftsunternehmen der Welt lassen sich in die Kooperation mit dem Sport einbinden und der Sport erweist sich dabei als eine Wachstumsbranche erster Ordnung. Die FIFA konnte beispielsweise ihre Marketingeinnahmen seit dem Jahr 1998 von 0,3 Milliarden auf 3,2 Milliarden Euro steigern (vgl. Abb. 11).

Abb. 11: Einnahmen der FIFA Weltmeisterschaften in Milliarden Euro (nach Weltmeisterschaftszyklen)

Sportarten werden auf diese Weise zu Marken, sie werden Produkte mit bestimmten Produkteigenschaften. Verkaufspsychologische Kernwerte werden unterschieden und die Emotionen werden benannt, die über ihre Präsentation auszulösen sind, um die entsprechenden Marketingerfolge zu erreichen. Immer mehr betritt dabei der Sport den öffentlichen Raum und benutzt diesen für Großauftritte. Werbung im XXL-Format, auf Autobahnen, in Flughäfen, in internationalen Bahnhöfen und an historischen Plätzen wird zur Normalität (vgl. Abb. 12).

Abb. 12: XXL-Werbung bei der Fußball-WM 2006 und der Euro 2008 in Zürich, München und Wien

Die neuen elektronischen Medien tun dabei ein Übriges. Der Sport entwickelt seine eigene E-community und wird dabei besonders attraktiv und anschlussfähig für die Werbewirtschaft. Die Zuschauer, die an der modernen Kultur des Wettbewerbs des Sports teilnehmen, haben dabei nicht selten den Charakter des modernen Globetrotters, wenngleich die Vermarktung der Zuschauer vor allem auf die Schaffung von Unterschieden ausgerichtet ist. Die eigens dafür geschaffene Konzeption des Hospitalitymarketings hat dabei eine vielfältige Hospitalitykultur hervor gebracht (vgl. Digel & Fahrner, 2008). Sie ist ausgerichtet auf die Bedürfnisse der Menschen, sich durch Konsum und Luxus von anderen zu unterscheiden. Die Idee der feinen Unterschiede wird dabei in besonderer Weise kultiviert (vgl. Tab. 8).

Red
carpet
Royal BritishMaleTicket centeredAdrena-lineWellbeingBusiness centered
Art der
Veranstaltung
öffentlich, elitärtraditionell, elitärmännerdominierendtraditionell, global nach Abenteuer suchendcaterings-fixiert unternehmensfixiert
Zugänglichkeitausgewählte High Societysehr begrenzt, privilegiertindirekt, begrenzt indirekt, begrenzt nur Ausgewähltehochnur Ausgewählte
Garderobe---festgeschrieben---------------
Anzahl an Gästenbegrenzt, privilegiertbegrenztgewöhnlichzahlreich, aber privilegiertminimalzahlreichbegrenzt, privilegiert
Preisnicht käuflich zu erwerbenhochgewöhnlichsehr hochnur schwer bezahlbarbezahlbarhoch
Exklusivitätallerhöchstehochgewöhnlichsehr hochallerhöchsteniedrighoch
Häufigkeit
einmaligjährlich, regelmäßigregelmäßigalle 4 Jahreeinmaligregelmäßigregelmäßig
Räumlichkeitexklusiver Bereichexklusiver Bereichexklusiver Bereichexklusiver Bereichdirekt am Geschehen/an die Veranstaltung angrenzendexklusiver Bereichexklusiver Bereich, spezielle räumliche Arrangements/Angebote für Unternehmen

Tab. 8: Die Typologie der Hospitality-Kulturen

9. Der Sport auf dem Weg der Selbstzerstörung

Die bisherigen Ausführungen waren darauf ausgerichtet, die Entwicklung des modernen Sports und seiner Kultur des Wettbewerbs ausgehend von England bis in die heutige Zeit nachzuzeichnen. Besonders beachtlich ist dabei der mittlerweile erreichte Stand der Universalität. Die Omnipräsenz des Sports ist eines seiner markantesten Merkmale und ist gleichzeitig eines der markantesten Phänomene der Moderne.

Interessant ist sicher auch die intensive Austauschbeziehung, die das moderne Sportsystem zu anderen gesellschaftlichen Systemen eingegangen ist. Die Beeinflussung durch Wissenschaft, Technologie, Wirtschaft und Massenmedien konnte vielfältige Dimensionen der Wettbewerbskultur des Sports offen legen. Bei der Darstellung der dimensionalen Vielfalt der Wettbewerbskultur des Sports wurde jedoch bereits auch mehrfach deutlich, dass der Prozess der Vervielfältigung, die funktionale Ausdifferenzierung des Sportsystems und nicht zuletzt dessen Kommerzialisierung auch Gefahren in sich bergen können, deren Bewältigung dem Sport zunehmend Schwierigkeiten bereitet.

Betrachtet man die jüngsten Entwicklungen des modernen Sports, so kann durchaus von der Gefahr gesprochen werden, dass sich der Sport auf dem Weg zur Selbstzerstörung befindet. Dies wird vor allem über den umfassenden Dopingbetrug sichtbar, dessen Beherrschung derzeit nicht zu erkennen ist. Weder gelingt es den Organisationen des Sports, den Betrug ausreichend zu erfassen noch kann von einer ausreichenden Sanktionierung des Betrugs gesprochen werden. Die mittlerweile angemahnte Hilfe zum Schutz des „Kulturgutes Sport“ durch den Staat ist nur in ersten Anfängen zu erkennen. Ihre Wirksamkeit ist umstritten und der Sport befindet sich dabei in der Gefahr, sich in eine vermehrte Abhängigkeit zum Politiksystem zu begeben, was einen Autonomieverlust zur Folge hätte. Völlig unzureichend sind die präventiven Maßnahmen. Erfolgreiche Präventionsbemühungen, die verhindern, dass Athleten in die Dopingfalle geraten, sind weltweit nicht zu erkennen. Einzelne nationale Bemühungen können wohl als redlich bezeichnet werden. Sie leben allerdings vorwiegend von einer pädagogischen Illusion, die angesichts des Dilemmas, in dem sich die Hochleistungssportler heute befinden, kaum als weiterführend bezeichnet werden kann (vgl. Digel, 2007, S. 12-13).

Mit der Kommerzialisierung hat nicht nur der Dopingbetrug ein flächendeckendes Ausmaß erreicht. Die Kommerzialisierung hat vielmehr auch Korruption und vielfältige Formen von Regelmanipulationen begünstigt. Ge- und verkaufte Spiele werden immer häufiger beklagt, bestochene Schieds- und Kampfrichter sind angesichts der Gewinne, die mit sportlichen Leistungen erzielt werden können, eine naheliegende Konsequenz. Angesichts einer umfassenden Ökonomisierung aller Lebenswelten ist auch der Sport kein Schonraum. Es geht auch in ihm vorrangig um Möglichkeiten der Bereicherung und um die Steigerung von Gewinnen. Dass dabei auch der Einsatz von Gewalt eine Rolle spielen kann, kann angesichts dieser Entwicklung nicht überraschen. Gezielt eingesetzte Foulhandlungen haben zugenommen, ja es ist sogar wieder möglich geworden, dass exzessive Gewalt zum zentralen Unterhaltungsinhalt wird, so bei der neu geschaffenen Sportart Ultimate Fighting. All diese neuen Varianten der sportbezogenen Unterhaltungsbranche zeichnen sich dadurch aus, dass diese Sportereignisse meist manipulierte Ereignisse sind und nicht selten auch die Sieger bestimmten Absprachen unterliegen.

Doch nicht nur die sportliche Leistung selbst und der Wettbewerb und damit die Kultur des Wettbewerbs werden manipuliert und unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten in Frage gestellt. Manipulation findet sich auch in den Organisationen des Sports selbst, wenn die Frage zu beantworten ist, wer in den Organisationen des Sports über Macht verfügt und welche Vorteile diese Macht den Beteiligten bringen wird. Angesichts der umfassenden Aufwertung des internationalen Wettkampfsports konnte und kann es nicht überraschen, dass vermehrt Repräsentanten außerhalb des Sports ihr Interesse für die Machtpositionen innerhalb des Systems des Sports artikulieren. Genau diese Art von Machtübernahme durch Externe ist schon seit längerer Zeit in immer mehr internationalen Sportverbänden zu beobachten. Ausgelöst wurde dieser Prozess durch machtbewusste europäische Sportführer, die im eigenen Interesse das angeblich demokratische Prinzip, „one vote-one country“ in die Wahlverfahren der internationalen Sportorganisationen eingeführt haben, um auf diese Weise die vielen jungen Nationen mit ihren Stimmen an sich zu binden (vgl. Digel, 2009, S. 12-14).

Dieser Prozess der Entdemokratisierung ist derzeit voll im Gange. Die Wettbewerbskultur des Sports wird dabei zukünftig von einem neuen Führungspersonal geprägt sein, das vermutlich unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten weit weniger zuverlässig sein wird, als dies bereits in der Vergangenheit zumindest in einigen Situationen der Fall war.

10. Ausblick

Sloterdijk, der noch in seinem Werk Sphären Coubertin und dem olympischen Sport ein „sozialdarwinistisches“ und „faschistisches“ Menschenbild unterstellte, hat in seinem neuesten Buch Du musst dein Leben ändern von dieser kaum gerechtfertigten These Abstand genommen. Vielmehr sieht er nun im Sport die erfolgreichste Anthropotechnik der Moderne. Der Sport ist für ihn eine moderne bzw. postmoderne Konkretion des Somatismus. Der Somatismus ist für ihn die einzige große Idee des 19. Jahrhunderts, die bis heute übrig und noch lebendig geblieben ist. Sloterdijks Buch ist ein Lob der Disziplin und Askese im Sport.

Für Sloterdijk kam es seit 1900 zu einem explodierenden Sportkult, der eine „überragende geistesgeschichtliche“ – besser ethik- und askesegeschichtliche – Bedeutung aufweist, weil sich im Sport ein epochaler Akzentwandel im Übungsverhalten manifestiert. Es kommt zu einer „Entspiritualisierung der Askesen“. Vergleicht er die großen Ideen des 19. Jahrhunderts, den Sozialismus und den Somatismus, so ist es nur der letztere, der sich seiner Meinung nach hat durchsetzen können und er geht davon aus, dass das 21. Jahrhundert von diesem Somatismus intensiver denn je geprägt sein wird.

Sloterdijk vertritt die Auffassung, dass Coubertin in Bezug auf seine religiöse Idee des Olympismus gescheitert sei (vgl. Sloterdijk, 2009, S. 133-151). Der Olympismus ist seiner Auffassung nach keine Religion, sondern die umfassendste Organisationsform für menschliches Anstrengungs- und Übungsverhalten. Für Sloterdijk wurde mit dem Olympismus ein moderner und äußerst erfolgreicher asketischer Kult gegründet (vgl. Sloterdijk, 2009, S. 49-51). Die Olympische Bewegung ist für ihn eine „Organisation zur Stimulierung, Lenkung, Betreuung und Bewirtschaftung primär stolz und ergeizhafter, an zweiter Stelle erotischer, gierhafter, libidinöser Energien“. Zu diesem Apparat gehören auch die Funktionäre. Sie sieht er als die unentbehrlichen Parasiten des Sports. Sie tragen mit dazu bei, dass ein „goldenes Zeitalter“ anbrechen konnte, weil die Olympische Bewegung das wichtigste aller Organisationsgeheimnisse beachtet: „So viele Funktionen und Ehrenämter schaffen wie möglich, um die thymotische Mobilisierung und pragmatische Bindung der Mitglieder an die erhabene Sache zu garantieren“. Für Sloterdijk ist die Moderne die Ära der Neureichen und Neuwichtigen und genau dies hat seiner Meinung nach Coubertin begriffen. Der Sport steht dabei im Mittelpunkt einer „Lebensübungslehre“. Dabei geht es ihm aus naheliegenden Gründen nicht nur um den Sport. Der Sport steht als modernes Symbol für eine Kultur des Übens, Trainierens, der Anstrengung und Leistung. Die damit verbundenen Werte möchte Sloterdijk neu legitimieren und rehabilitieren. Jene, die den Sport als Religion betrachten möchten, haben dabei mit seiner bissigen Kritik zu rechnen. Doch nicht nur jene Ideologen verstellen den Blick auf die von ihm geforderte Lebensübungslehre. Er sieht eine Barbarei der Popularkultur und meint dabei vor allem die Massenmedien mit ihrem „Messianismus der Unbildung“. Er zielt damit aber auch auf die Leistungskritik der sechziger und siebziger Jahre. Für Sloterdijk gehören Sport und Philosophie eng zusammen. Philosophen und Athleten sind „Freunde der Belastung“. Seine Apologetik zu Gunsten des Sports gipfelt in einem Entwurf einer neuen Universität, die sich in 13 Disziplinen zu gliedern hätte. Die beiden ersten und wichtigsten Disziplinen sind dabei die „Akrobatik und Ästhetik sowie die Athletik (allgemeine Sportartenkunde)“ (vgl. Sloterdijk 2009, S. 246-249). Aus der Sicht eines Sportwissenschaftlers kann man sich vielleicht darüber freuen; realistisch und angemessen scheint diese Prioritätensetzung jedoch nicht zu sein. Zu Gunsten von Sloterdijk sei jedoch erwähnt, dass er den Sport durchaus auch in seinem derzeit vorgezeichneten Weg der Selbstzerstörung erkennt. Das folgende Zitat bringt dies eindrucksvoll zum Ausdruck:

„Entweder fungiert der Sportler weiterhin als Zeuge für die menschliche Fähigkeit, an der Grenze zum Unmöglichen Schritte nach vorne zu tun – mit unabsehbaren Übertragungswirkungen auf alle, die sich auf das schöne Schauspiel einlassen – oder er geht den schon jetzt vorgezeichneten Weg der Selbstzerstörung weiter, auf dem debile Fans ko-debile Stars mit Anerkennung von ganz unten überschütten, die ersten betrunken, die zweiten gedopt“ (Sloterdijk, 2009, S. 660).

Immerhin ist damit Sloterdijks „Lob des Sports“ etwas provokanter als die literaturwissenschaftlichen Versuche von Hans-Ulrich Gumbrecht, dem es in seinen populistisch vorgetragenen Essays ausschließlich um dessen ideologische Erhöhung über den Sport gegangen ist.

Dem Sport ist es ohne Zweifel gelungen, ein bedeutsamer Inhalt unserer Alltagskultur zu sein. Dabei ist sein Bereich, den er in unserer Kultur für sich beanspruchen kann, zunehmend unübersehbar geworden. Hier zeigen sich Gemeinsamkeiten zur Kultur, Musik, Kunst und nicht zuletzt auch zur Wirtschaftskultur. Dennoch ist der Sport gerade unter kulturellen Gesichtspunkten etwas Besonderes. Das was er sein möchte, ist in expliziten Regeln festgelegt und für das was in der Kultur des Sports als unerlaubt gilt, gibt es über Regeln definierte Sanktionen. Die Kodifizierung und die Qualität der schriftlich niedergelegten Vereinbarung können deshalb gerade unter kulturellen Gesichtspunkten als das besondere Merkmal des Sports herausgestellt werden.

Literatur

  • H. Bausinger, Sportkultur, Tübingen 2006.
  • R. Bertsch, „Peter Bajus – der Schnellläufer“, Darmstadt o. D.
  • P. de Coubertin, L´éducation des adolescents au xxe siècle. III: Éducation morale. Le respect mutuel, Paris 1915.
  • H. Digel, „Über den Wandel der Werte in Gesellschaft, Freizeit und Sport“, in: Deutscher Sportbund (Hrsg.), Die Zukunft des Sports. Materialien zum Kongress „Menschen im Sport 2000“, Schorndorf 1986, S. 14-43.
  • H. Digel, „Die Versportlichung unserer Kultur und deren Folgen für den Sport – ein Beitrag zur Uneinheitlichkeit des Sports“, in H. Gabler & U. Göhner (Hrsg.), Für einen besseren Sport. Themen, Entwicklungen und Perspektiven aus Sport und Sportwissenschaf). Ommo Gruppe zum 60. Geburtstag, Schorndorf 1990, S. 73-96.
  • H. Digel, „Warum Doping niemals erlaubt sein darf“, Olympisches Feuer, 46 (1996) S. 28-31.
  • H. Digel, „Der Sport auf dem Weg zur Selbstzerstörung“, Olympisches Feuer, 57 (2007). S. 12-13.
  • H. Digel, & M. Fahrner, „Hospitality Marketing im Sport“, in G. Nufer & A. Bühler (Hrsg.), Management und Marketing im Sport. Betriebswirtschaftliche Grundlagen und Anwendungen der Sportökonomie, Berlin 2008, S. 443-465.
  • H. Digel, „Mit dem Ideal der Demokratie wird in den Weltsportorganisationen oft Schindluder betrieben“, Olympisches Feuer, 59 (2009), S. 12-14.
  • N. Elias, & E. Dunning, Sport im Zivilisationsprozess. Berlin u. a. 1982.
  • A. Fleig, Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports. Berlin, New York 2008.
  • H. Hamacher, Leichtathletik im 19. Jahrhundert. Geschichte und Statistik. Band II. o. O. 2007.
  • M. Krüger, Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports. Teil 3: Leibesübungen im 20. Jahrhundert. Sport für alle. Schorndorf 1993.
  • S. Nielsen, Sport und Großstadt 1870 und 1930: komparative Studien zur Entstehung bürgerlicher Freizeitkultur. Frankfurt/Main, Berlin, Bern u. a. 2002.
  • K. Planck, Fußlümmelei. Über Stauchballspiel und englische Krankheit. Berlin u. a. 1898.
  • P. Radford, The Celebrated Captain Barclay. Sport, Money and Fame in Regency Britain. London 2001.
  • P. Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern. Frankfurt 2009.

Letzte Bearbeitung: 4.11.2022