Subsidiäre Partnerschaft zwischen Staat und Sport

Am 6.12.1975 feierte der Deutsche Sportbund sein 25-jähriges Jubiläum in der Frankfurter Paulskirche. Aus diesem Anlass sprach der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in seiner Laudatio, die der subsidiären Partnerschaft zwischen Staat und Sport gewidmet war, über die wichtigsten Herausforderungen des Sports und einer verantwortungsvollen Sportpolitik, wie sie sich in den achtziger Jahren gestellt hatten. Meines Erachtens sind seine Ausführungen auch heute noch von höchster Relevanz und sie sollen deshalb im Sinne eines sporthistorischen Dokuments als Gastbeitrag für „sport-nachgedacht.de“ aktualisiert werden. Es ist beabsichtigt, auch weitere nach wie vor wichtige sporthistorische Dokumente in dieser Form erneut zu veröffentlichen.

H.D.

Helmut Schmidt

1.

Zunächst möchten Herr Bundesminister Maihafer und ich in unserem eigenen Namen, aber auch im Namen der ganzen Bundesregierung unsere Glückwünsche zum 25. Geburtstag des Deutschen Sportbundes sagen. Zugleich möchten wir dem Sportbund, den Landessportbünden und den Spitzenverbänden sowie dem Nationalen Olympischen Komitee und der Stiftung Sporthilfe, vor allem aber den Vereinen für ihre bisher geleistete Arbeit sehr herzlich danken. Und für meine Person schließe ich mich dem ausdrücklichen Dank an die Person Willi Daumes an, den Ihr Präsident eben ausgesprochen hat.

Wenn ich es richtig weiß – und voller Stolz hat der Präsident es eben noch einmal hervorgehoben -, dann ist der Sportbund mit etwa 46 000 Turn- und Sportvereinen und 13 Millionen Mitgliedern die größte Organisation unseres Landes – darauf müßte dann selbst Heinz Oskar Vetter mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund ein bißchen neidisch sein, wenn es nicht so wäre, daß doch zum erheblichen Teil die Mitglieder dieselben sind.

Sie, Herr Präsident Weyer, haben die Turn- und Sportbewegung als einen Glücksfall unserer Gesellschaft bezeichnet. Und Sie haben dabei – durchaus im Sinne des politischen Selbstverständnisses, zu dem der Sport sich bekennt – von einer gewaltigen Bürgerinitiative gesprochen und von der freiheitlichen Selbsthilfe des Sports. Weil ich dem, was Sie im Kern meinen, innerlich zustimme – und ich unterstreiche es noch einmall -, darf ich in meiner heutigen Laudatio nicht diejenigen vergessen, die recht eigentlich diesen Glücksfall ausmachen. Das sind die Menschen in den Vereinen. Ihnen möchte ich ganz besonders danken. Bei allem, was in den Verbänden gearbeitet, organisiert, auch gestritten und entschieden werden muß: Halten Sie die Vereine hoch! Sie sind die eigentliche Bürgerinitiative!

 

2.

Nun bin ich mir nicht ganz sicher darüber, was Sie, meine Damen und Herren, von einem Manne erwarten, dessen persönliche Beziehungen zum Sport während seines Lebensweges immer platonischer geworden sind – abgesehen davon, daß ich seit der Schule Anhänger des HSV bin.

Ich höre oft, Sport sei eigentlich die herrlichste Nebensache der Welt. Manche, die das so sagen, kriegen dann einen Schimmer romantischer Verklärung ins Gesicht. Ich denke mir – in einer Stunde der Besinnung auf das eigene Wesen wird man das sagen dürfen -, wenn man den etwas überspannten Ernst erlebt, den Sportfunktionäre bisweilen an den Tag legen, sind vielleicht die wenigen Romantiker als Gegenakzent nicht vollends unerwünscht. In Wirklichkeit ist es wohl mit dem Sport als angeblicher Nebensache so ähnlich wie mit den Nebensachen bei den Karnevalisten: mindestens das, was hinter der Bühne geschieht gibt meistens wenig Anlaß zum Lachen.

Im Ernst: man kann beim Sport in einer Zeit, in der er nicht Privileg einer leisure class ist, sondern eine von uns allen gewünschte, bejahte und zum großen Teil handelnd mitgetragene Massenbewegung, nicht von einer Nebensache reden. Der Sport ist zu einer Hauptsache in dieser Gesellschaft geworden. Aber er bleibt eine Sache mit vielen inneren Widersprüchen und Problemen. Und soviel das auch in Festreden beschworen sein mag: kein Abrakadabra, kein intellektueller Trick kann das, was vor Generationen einigen vorgeschwebt hat, „Beschwingtheit“, „edler Wettstreit“ und dergleichen, wieder heilmachen oder wiederherstellen – jedenfalls solange nicht, wie man in aller Welt mit Sportskanonen aufeinander schießt, was natürlich sehr viel besser ist, als es mit wirklichen Kanonen zu tun.

 

3.

Wenn wir nicht heucheln wollen und wenn wir nicht verdrängen wollen, daß der Sport auch bei uns mit vielen Millionen D-Mark aus vielerlei öffentlichen Kassen – von der Gemeinde Buxtehude bis zum Bundeshaushalt – gefördert wird, dann muß man zugeben, daß der Sport längst nicht mehr bloß Privatvergnügen ist.

Sicher, wir stellen immer noch gerne in den Vordergrund, daß der Sport die Gesundheit fördere; und das dient dann in vielerlei Beziehung als Begründung für die sportfördernden Beschlüsse im Stadtrat oder im Gemeinderat. In gleicher Weise unpolitisch wird der Sport als hervorragende Möglichkeit ausgefüllter Freizeit dargestellt. Gewiß, beides ist richtig.

Aber ebenso stimmt es auch, daß der Sport ein hervorragendes Mittel der Bildung und Erziehung des einzelnen Menschen ist. Er vermittelt dem einzelnen im Kontakt mit anderen, im Wettkampf, im Spiel, im Gemeinschaftsleben der Vereine eine Fülle sozialer Grunderfahrungen; da werden Verhaltensweisen – wenn ich so sagen darf – eingeübt, wie das auf andere Weise nur schwer und zum Teil gar nicht möglich ist. Das ist natürlich zugleich ein politisch wirksamer Prozeß. Man lernt, sich an Regeln zu halten, an den Geist eines Teams zu halten, ohne dazu gezwungen zu werden. Mit anderen Worten: in vielfacher Weise dient Sport und eigenes sportliches Handeln der Entfaltung der Person. Und Sport trägt dadurch auch zur gesellschaftlichen Selbstverwirklichung bei, daß er den‘ einzelnen Solidarität lehrt. Er hat somit in hohem Maße eine sozialerzieherische und damit politische Komponente.

So haben wir nach dem zweiten Weltkrieg den Sport wiederaufgebaut und bei vielerlei internationalen Veranstaltungen, zuletzt bei den Olympischen Spielen, sehr deutlich international präsentiert. Dieser Weg des Sports hat uns Erfolg und Achtung eingebracht. Und ich füge ganz laut hinzu: nicht etwa deshalb müßte jemand meinen, diesen Weg verlassen zu sollen, weil andere bei dieser oder jener Gelegenheit m e h r Medaillen nach Hause tragen als wir.

 

4.

Unsere Grundsätze zu verteidigen, aber zugleich auch fortzuentwickeln, ist nicht so ganz leicht in einer Zeit, in der andere politische Systeme aus dem Sport ein Politikum allerersten Ranges in der Hand des Staates oder in der Hand der herrschenden Partei gemacht haben.

Ich denke dabei nicht an die Entwicklungsländer, bei denen es viele gibt, die zwar wirtschaftlich noch viel aufholen müssen und dazu viel Arbeit und Zelt und Hilfe brauchen, die aber mindestens in einzelnen Disziplinen relativ schnell sportlich gleichziehen können, wenn man ihnen nur ein bisschen hilft. Wir tun das ja auch, indem wir Sportlehre und andere Experten in diese Länder schicken. Da stellt sich dann das Selbstbewusstsein und das Gefühl der Gleichwertigkeit in der internationalen Arena relativ schnell ein. Und gewiss wird steigendes Selbstwertgefühl auch begleitet von Leistungsdenken, das doch zum Aufbau der Gesellschaften und der Staaten in diesen Entwicklungsländern unerlässlich ist. Diese Länder müssen ja lernen, daß.es notwendig ist, selbst etwas zu leisten, und dass man nicht glauben kann, sich nur mit fremder Hilfe entwickeln zu können. Vielleicht Ist der Sport dazu eine nützliche Hilfe.

Wo jedoch der Sport sozusagen als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln begriffen wird um ein missverstandenes Wort von Clausewitz auf den Sport anzuwenden -, da müssen wir aufpassen, wenn über Sportkonzepte geredet wird, daß wir uns nicht auf den Weg einer Sportideologie begeben, der uns letztlich von unseren freiheitlichen und demokratischen Grundauffassungen wegführen würde. Es wäre schlimm, wenn wir im verständlichen Wunsch, uns sportllch nicht unterbuttern zu lassen, unseren Sport zum Abklatsch anderer Systeme und Wertvorstellungen machen oder machen lassen würden.

Vor kurzem habe Ich einen Zeitungsartikel gelesen, in dem die Rede war von den „ehrenamtlichen Dilettanten“ bei uns und von den „Musterschülern“ auf der anderen Seite. Ich halte das für gefährliche, polemische Gegenüberstellung; ebenso wie ich das vielfache Lob des Zweifels. für würdig halte, das man über einen Sportapparat hört und liest, dem es gelungen sei, Vorschule und Schule und Hochschule und Betrieb und Armee In ein einheitliches Leistungskonzept einzubinden; desgleichen das Lob über all die Wunderdinge, die man liest über das Ausbildungsniveau der Trainer und die straffe, zentralisierte Organisation des Sportes in einigen der uns östlich benachbarten Staaten. Alles das soll gerne imponieren, darüber darf man nachdenken, aber bitte dann sich des eigenen Wertes und der eigenen Werte bewußt bleiben!

Natürlich gewinnen auch wir ganz gerne eine Goldmedaille mehr als eine weniger. Und ich höre schon jetzt die dramatisierenden Berichte der Sportreporter und das kleinmütige Vorzählen von Medaillenspiegeln, wenn im nächsten Jahr in Montreal andere häufiger auf den „Treppchen“ stehen als unsere.

Aber Ich warne sehr nachdrücklich: Wer aus solchen Ereignissen, die ja übrigens nicht so zu bleiben brauchen, die Konsequenz zöge, etwas bloß nachahmen zu müssen, um gleiche Medaillenzahlen zu erreichen, der könnte unversehens das in Frage stellen, was die Stärke unseres Sports ausmacht und was allein den Stolz und das Selbstbewusstsein legitimiert, mit dem Willi Weyer vorhin aufgetreten ist.

Es wäre sehr naiv, wollten wir den Sport in einer kommunistisch beherrschten Gesellschaft nicht als Teil des Herrschaftsapparates, als Teil der dort herrschenden politischen und ideologischen Wirklichkeit auffassen. Wer das Ziel hat, hinter den Spitzenleistungen des Sportes solcher Staaten nicht zurückzubleiben, der soll aus den Erfolgen der anderen Auftrieb für seinen eigenen Leistungswillen nehmen. Aber er muß aufpassen, daß er sich nicht der Kampfideologie kommunistischer Gesellschaften unterwirft. Und er sollte sich auch nicht der Methoden kommunistischer Gesellschaften bedienen. Er muß aufpassen, daß er nicht verschüttet, was hierzulande kräftige wurzeln hat, nämlich die Freude des einzelnen und seine individuelle Bereitschaft, etwas zu tun, etwas zu leisten, die spontane, vielleicht geweckte, vielleicht eingeübte, aber doch im Kern spontane Bereitschaft des einzelnen und die Selbstverwaltung und Selbstverantwortung von Vereinen und Verbänden.

Sport darf für uns nie zu einer Speerspitze im Ideologischen Kampf werden. Wir brauchen den Sport, aber wir dürfen ihn nicht mißbrauchen. Und Sie dürfen ihn auch nicht mißbrauchen. Ja, ich spreche die ganze Zeil von einer Gefahr, in der ich viele Sportfunktionäre sehe. Es besteht keine Gefahr, daß der Bundestag oder die Bundesregierung in Bonn oder die Länderregierungen sie unter Druck setzen, es doch nun kommunistischen Gesellschaftsund Staatsordnungen gleichzutun: diese Gefährdung besteht eher in Ihrer eigenen Seele, meine Damen und Herren. Sie brauchen nicht zuzustimmen.

Aber wenn Sie sich schon einen Politiker als Redner verschreiben, dürfen Sie nicht erwarten, daß er Ihnen nur und ausschließlich Angenehmes zu sagen hat. Auf der anderen Seite bin ich sicher, daß Sie genauso wissen wie ich, daß die Zahl von Medaillen nichts aussagt über die Freiheit in einer Gesellschaft, nichts aussagt über die Gerechtigkeit in einer Gesellschaft, auch nichts über.den Wohlstand in einer Gesellschaft. Sowas sollten wir uns auch nicht einreden lassen.

 

5.

Es ist deshalb auch gut, sich in bezug auf den Sportverkehr zwischen Ost und West keinerlei Illusionen zu machen. Der Sportverkehr zwischen Ost und West wird immer ideologisch belastet bleiben, auch zwischen den beiden deutschen Teilen, jedenfalls so lange, Wie die DDR den Sport und sportliche Leistungen als staatspolitisches Instrument benutzt. Ich denke, aus dem Gespräch, das wir neulich miteinander hatten, hat sich – für mich jedenfalls sehr klar – ergeben, daß Sie, meine Damen und Herren auf seiten des Sportbundes, das durchaus realistisch auch so sehen.

Wir auf seiten der Regierenden werden jedenfalls alles tun, was an uns liegt, um das erreichte Maß an Begegnung zu wahren und, wo immer möglich, auszuweiten und zu vertiefen.

Wir waren uns in jenem Gespräch auch darüber einig, daß im Internationalen Sportverkehr die Liberalität nicht verlorengehen darf und daß die nach allen Seiten offene Tätigkeit  der internationalen Sportverbände nicht eingeengt werden darf. Der Sport muß ein freies Feld für alle bleiben, die den sportlichen Regeln folgen, und es dürfen keine Hürden und keine Gräben geschaffen werden, um etwa den fernzuhalten oder an den Rand zu drängen, der politisch nicht genehm ist.

 

6.

ln unseren eigenen Grenzen kann der Sport gewiss sein, daß er die aktive Unterstützung der Bundesregierung behalten wird. Die Sportpolitik der Bundesregierung bleibt bei dem Subsidiaritätsprinzip, daß der Sport grundsätzlich Sache der Sportorganisationen ist und daß der Staat nur da Hilfe leistet, wo die eigenen Kräfte nicht ausreichen.

Ich akzeptiere das Wort, was vorhin ausgesprochen worden ist, daß Sport und Staat Partner sind. Jeder Partner weiß freilich, daß er auf einer anderen Ebene steht und daß er trotzdem als Partner mit dem anderen reden muß; und der andere muß ihn auch als Partner hören wollen. Im Verhältnis zur Regierung verstehen sich ja manche Partner nur als solche, die reden, und die Regierung solle hören. Beide müssen hören wollen!

Wir Regierenden wollen Partner bleiben, weil eben unser Staat nicht alles machen will, weil wir überzeugt sind, daß er nicht alles machen darf. Mit dieser Art von subsidiärer Partnerschaft also kann der Sport weiterhin rechnen, und er sollte mit Ihr auch zufrieden sein und nicht darüber hinaus andere Mitwirkung des Staates erwarten oder verlangen. Man kann sagen, daß wir – weitgehend durch staatliche und kommunale subsidiäre Hilfe – heute in unserem Lande über Sportstätten verfügen, die sich nach Zahl und Ausstattung auf der ganzen Welt sehen lassen können.

Manchmal scheint mir allerdings, daß an einigen Stellen sogar zuviel baulicher Ehrgeiz entwickelt wird, wenn man sich z. B. vor Augen hält, daß keineswegs alle Anlagen wirklich optimal ausgenutzt werden, daß viele dieser Anlagen während der Sommerferien oder während der Semesterferien oder während der Schulferien leerstehen oder daß Turn- und Schwimmhallen übers Wochenende geschlossen sind.

Ich denke, daß man die für den Sport zuständigen Landesminister verstehen muß, wenn sie in einer Zeit finanzieller Enge, in der auch im Bau von Sportanlagen nicht alle Blütenträume schnell genug reifen, darauf drängen, daß die Anlagen besser genutzt werden, zumal ich den Eindruck habe, daß an einigen Stellen regelrechte Prachtbauten errichtet worden sind. Man darf den uns allen gemeinsamen, unterschwelligen Hang zur Repräsentation, wie herrlich weit wir es mit dieser oder jener Anlage gebracht haben, nicht übertreiben. Es ist unvermeidlich, daß auch der Sport repräsentiert, wie heute morgen in der Paulskirche. Aber passen Sie auf, daß die Repräsentation nicht zum Selbstzweck wird, insbesondere dann nicht, wenn sie anderer Leute Geld kostet.

Wir müssen uns alle Mühe geben, die Anlagen noch besser zu nutzen, wenn wir den Breitensport verstärken wollen. Wenn ich vorhin für die Bundesregierung Dank ausgesprochen habe, dann zu einem erheblichen Teil, weil es gelungen ist, durch solche Aktionen wie „Trimmdich“ oder „Jugend trainiert für Olympia“, wirklich etwas zu bewegen in unserer 60-Mlllionen-Gesellschaft. Sie, meine Damen und Herren, haben die Erwartungen weit übertroffen. Und ich möchte jeden, der an dieser Art sportlicher Arbeit beteiligt ist, herzlich bitten, diesen Weg des Breitensports noch zu intensivieren.

Dies steht durchaus nicht im Gegensatz zur Bejahung oder zμr Förderung des Leistungs- oder Hochleistungssports. Ich halte die Formel „lieber 10 000 Sportabzeichen für Otto Normalverbraucher als eine Olympia-Medaille“ für überspitzt und im Denkansatz· für falsch, weil es eine Scheinalternative ist. Denn wer die Breite stärkt, der schafft bessere Voraussetzungen auch für die Spitze. Das steht sich gar nicht feindlich gegenüber.

In diesem Sinne ist übrigens das, was die Bundeswehr in sportlicher Hinsicht für die Breite wie auch für die Spitze tut, ein Beispiel gelungener, weil ausgewogener Förderung des Sports; ich bin durchaus stolz darauf, daß ich dazu beitragen konnte.

 

7.

Ober den Schulsport habe ich vor wenigen Tagen mit den Ministerpräsidenten der Länder gesprochen. Ich spreche jetzt nur für meine Person, weil ich nicht ganz sicher bin, ob ich das, was jetzt kommt, für die ganze Bundesregierung sagen darf. Aber Ich halte das, was wir in Sachen Schulsport in Wirklichkeit vorfinden in unserem Lande, für schlechthin unerträglich. Ich bin fest überzeugt, es darf so nicht bleiben, daß bei den allgemeinbildenden Schulen im Schnitt gerade zwei Stunden Sportunterricht in der Woche angeboten werden, keineswegs Immer auch erteilt werden; und bei den Grundschulen und den Sonderschulen sieht es noch schlimmer aus, bei den Berufsschulen am allerschlimmsten.

Es wird uns ja durchaus zugegeben, daß der Sport – übrigens zusammen mit den musischen Betätigungen als Randgebiet vernachlässigt wird. Das hat natürlich auch zu tun mit dem derzeit geltenden Zulassungsverfahren zur Hochschule. Zeugnisse in Sport gehen grundsätzlich in den Notendurchschnitt nicht ein, den man braucht, um ·den Numerus clausus zu überwinden, Zeugnisse in Musik oder in Malerei oder Zeichnen auch nicht.

Aber ich denke, daß es auch etwas zu tun hat mit falschen, weil nicht zu Ende gedachten Reaktionen auf das Dritte Reich. Als ich zur Schule ging, ich bin 1936 mitten in der Nazizeit aus der Schule gekommen, da hatte natürlich die damals in Deutschland allein regierende Partei, ähnlich wie in anderen Diktaturen, auch aus dem Sport ein politisches Instrument gemacht. Das hat Ressentiments und Widerstand ausgelöst, der sich dann In den Köpfen der Pädagogen nach 1 945 nicht sofort verflüchtigte. Wie hätte er das auch tun können? Jeder war doch bemüht, die Konsequenzen zu ziehen aus den Erfahrungen, die man In der Naziära gemacht oder erlitten hatte.

Aber es ist ein großes Missverständnis, zu meinen, Sport in der Schule sei ein Attribut _einer Diktatur. Im Gegenteil, wer in der Schule nur die geistes- und naturwissenschaftlichen Fächer paukte und versäumte darüber denjenigen Teil der Erziehung, der nur durch den Sport geleistet werden kann, oder er versäumte darüber denjenigen Teil der Erziehung, der nur durch Musik oder bildende Kunst und das Einüben derselben geleistet werden kann, der schafft eben dadurch Pennälertum.

Ich werde nie vergessen, was ich auf dem Felde des Sports meiner Schule zu verdanken habe. Vielleicht haben wir Jungens damals nicht ganz soviel Sprachen oder Mathematik gelernt, aber wir haben sechs Tage in der Woche jeden Tag eine Stunde Sport gemacht, und eine von diesen sechs Sportstunden war eine Schwimmstunde. Mit 18 Jahren konnte niemand ein „genügend“ in Sport bekommen, der nicht das Deutsche Sportabzeichen erworben hatte, und „gut“ erhielt man nur, wenn man mindestens 10 Bedingungen fürs Sportabzeichen erfüllte, und eine „eins“ gab es nur, wenn man 20 Bedingungen erfüllte. Ich hatte 21, Ich durfte eine „eins“ kriegen. Ich war jedoch in der Klasse nicht der einzige mit einer „eins“, sondern zwei Drittel hatten eine, die hatten alle über 20 mal die Bedingungen des Sportabzeichens in ein und demselben Jahr erfüllt. Das war der Erfolg dieses Schulsports über acht oder neun Jahre.

Nie werde ich meine innere Dankbarkeit gegenüber meinem Turnlehrer Ernst Schöning aufgeben er lebt heute noch, inzwischen wohl 90 Jahre alt – für das, was er uns jungen Leuten an menschlichem Vorbild gegeben hat. Er hat uns in nichts anderem unterrichtet als wie man miteinander Ha.ndball spielt, wie man miteinander Faustball spielt, wie man seinen eigenen Körper zu beherrschen lernt im Geräteturnen. Von ihm ist der stärkste pädagogische Einfluß ausgegangen auf uns junge Menschen. Es gibt viele, denen es so gegangen ist.

Deswegen ist es nicht nur ein Irrtum zu meinen, Sport an der Schule und sportliches Spiel an der Schule seien Attribute diktatorischer Gesellschaften. Es ist vielmehr ein schweres Versäumnis an der pädagogischen Aufgabe, wenn Sport und ebenso Erweckung und Einübung musischer Interessen an der Schule zurückbleiben. In diesen Tagen wird der 100. Geburtstag des früheren Reichstagspräsidenten Paul Löbe gefeiert. Er hat vor einem halben Jahrhundert, nämlich 1927, öffentlich die tägliche Sportstunde für die Schulen gefordert. Schauen Sie sich um, wo Sie diese heute finden!

Bei den jungen Menschen ist ja eine innere Bereitschaft da, die nur geweckt zu werden braucht. Nicht zuletzt deswegen sind so viele Jungen und Mädchen in Ihren Vereinen, meine Damen und Herren, weil sie an der Schule sportlich im Stich gelassen werden. Deshalb sollte jeder versuchen, in .seinem Ort, in seiner Stadt, in den Bereichen, in denen er persönlichen Einfluß hat, die Schule ein bißchen zum Schulsport anzuregen.

 

8.

Pierre deCoubertin hat gesagt: „Damit hundert sich körperlich ertüchtigen, ist es notwendig, daß fünfzig Sport treiben, daß zwanzig sich spezialisieren und daß fünf sportliche Höchstleistungen erbringen“. Ich bin nicht sicher, ob der Zusammenhang so stimmt. Aber ich glaube, daß der Höchstleistungssport weit in den Schul- und Breitensport hineinwirkt, weil er Beispiel und Ansporn gibt.

Deswegen ist es falsch, sich als Anhänger des Breitensports gegenüber dem Leistungs- oder Höchstleistungssport gleichgültig zu stellen. Es wäre auch Heuchelei, wenn wir untereinander nicht zugeben würden, daß große internationale Leistungen uns allen auch ein Erfolgserlebnis geben würden. Aber sie sind auch Ansporn für den Nachwuchs in der Breite. Die heutige Ausdehnung etwa des Volleyballspiels wäre nie möglich gewesen ohne die Übertragung der großartigen Kämpfe bei den Olympischen Spielen. Das allgemeine Sportbewußtsein und die Bereitschaft, sich selbst zu bestätigen, wächst eben mit den sportlichen Höchstleistungen, die uns als Zuschauer dargeboten werden.

Im Zusammenhang mit dem Leistungssport will ich mich auch dagegen wehren, daß jenes Prinzip verteufelt wird, das den Spitzensport erst eigentlich ermöglicht: Sie können es den Leistungswillen nennen, Sie können es auch Ehrgeiz nennen. Eine Gesellschaft ganz ohne jeden Ehrgeiz in der einzelnen Person versackt in Mittelmäßigkeit. Insofern ist der Breitensport auch notwendig, um ein bißchen Ehrgeiz in jedem einzelnen herauszukitzeln. Die Leistungssportler, bei denen ja der Ehrgeiz sehr viel ausgeprägter Ist, sollte man deswegen nicht verurteilen. Sie sind keinem äußeren Leistungszwang unterworfen – wenigstens bei uns nicht -, sondern sie haben sich freiwillig und eigenverantwortlich zu einer Leistungsorientierung bekannt.

Wer die Höchstleistung bejaht, der darf auf der anderen Seite natürlich die Spitzensportler, die sie erbringen, dann auch nicht allein lassen. Es ist ja nicht notwendig – wenn ich das überspitzt formulieren darf -, daß man dem kommunistischen sogenannten Staatsamateur einen kapitalistischen oder einen demokratischen Staatsamateur gegenüberstellt. Aber persönlich fördern muß man den Leistungssportler schon. Daß das bei uns nicht durch Steuermittel geschieht, sondern durch vielfache, vom Sport selbst organisierte Hilfe, das ist dankenswert. Wir haben darin einen Weg beschritten, der ein Weg der Freiwilligkeit, des privaten Opfers und der Selbsthilfe ist und bleiben sollte.

Das gilt auch für die schon erwähnten Olympia-Briefmarken, die im Jahre 1976 verkauft werden. Der Bundeskanzler hat nur mitgeholfen, daß es diese Marken geben wird. Entscheiden konnte er da gar nichts. Daß er die Richtlinienkompetenz habe in Briefmarkenfragen, das denkt sich vielleicht jemand, der in der Schule politischen Unterricht erteilt. In Wirklichkeit ist das anders. Aber ich verstehe die Hoffnungen sehr wohl, die in diesem ·Zusammenhang gehegt werden, und ich hoffe, daß ich Ihnen weiterhin helfen kann. Leider sind wir mit der „Glücksspirale“ nicht ganz so erfolgreich gewesen. Aber wir werden Im Olympiajahr eine neue „Glücksspirale“ bekommen. Und selbst, wenn es dann Herbst ist, kann der Sport damit dann die Nachlese von Montreal bezahlen und den Grundstock ·für Moskau schaffen.

Wenn von Förderung der Spitzensportler die Rede ist, dann muß man sich auch Mühe geben, daß die Spitzensportler nicht gesellschaftlich desintegriert werden. Während ihres Aufstiegs und ihrer Ausbildung muß man schon an ihre spätere soziale Stellung denken, vor allen Dingen an ihre spätere berufliche Laufbahn. Sie haben sicherlich ein Handikap zu tragen, was ihre Ausbildung oder ihre Berufsausübung angeht. Weil sie sich – im eigenen Interesse, aber auch sozial gewünscht – für einen großen Teil ihrer Zeit sportlich engagieren, sind sie sicherlich nicht in derselben Ausgangslage wie andere, die sich ausschließlich auf Beruf oder Reifeprüfung oder Examen vorbereiten können. Wenn das nun auch in den Kultusministerien verstanden wird und der gegebene Prüfungsauftrag bald zu positiven Regelungen führt, kann ich das nur begrüßen. Die Spitzensportler müssen nicht unbedingt die gehätschelten Lieblingskinder der Nation sein, aber sie dürfen auch nicht zu Stiefkindern der Gesellschaft werden.

 

9.

Ich denke, wir sind uns darin einig um dies zum Schluß noch einmal hervorzuheben -, daß wir keine Ideologisierung, auch keine Verstaatlichung oder Kommunalisierung des Sports wollen. Das letztere wird ganz gewiß nicht eintreten; aber auch das erstere sollte nicht eintreten.

Aber lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch sagen: passen Sie bitte ebenso auf, daß der Sport nicht kommerzialisiert wird. Das ist Ihre Sache, denn auf diesem Felde haben wir Gesetzesmacher oder Regierenden gar nichts zu sagen. Der Sport muß selbst aufpassen, daß die kommerziellen Interessen nicht überhandnehmen.

Ich rede damit nicht über das Feld der neuzeitlichen Gladiatoren, der beruflichen Leistungssportler im Fußball beispielsweise. Aber dies ist nicht das einzige Feld, auf dem ein etwas bestürzendes vordringen des Kommerzes beobachtet werden kann.

Auf der anderen Seite finde ich, sollte es der Attraktivität oder dem Selbstbewußtsein des Amateursports keinen Abbruch tun, wenn man hier ein bißchen für offenere und klarere Verhältnisse sorgt. Es ist doch klar, daß der Amateursport, jedenfalls der in der Spitze mit Idealismus allein die Eisenbahn oder das Flugzeug nicht bezahlen kann. Es gibt Unkosten, die das private Portemonnaie des einzelnen überfordern. Und je mehr Sie die hier notwendigen Hilfen aus der Sphäre der Geheimniskrämerei herausbringen, um so mehr nützen Sie sich und dem Ansehen des Sports, meine Damen und Herren.

 

10.

Ich denke, wir sind uns darin einig um dies zum Schluß noch einmal hervorzuheben -, daß wir keine Ideologisierung, auch keine Verstaatlichung oder Kommunalisierung des Sports wollen. Das letztere wird ganz gewiß nicht eintreten; aber auch das erstere sollte nicht eintreten.

Aber lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch sagen: passen Sie bitte ebenso auf, daß der Sport nicht kommerzialisiert wird. Das ist Ihre Sache, denn auf diesem Felde haben wir Gesetzesmacher oder Regierenden gar nichts zu sagen. Der Sport muß selbst aufpassen, daß die kommerziellen Interessen nicht überhandnehmen.

Ich rede damit nicht über das Feld der neuzeitlichen Gladiatoren, der beruflichen Leistungssportler im Fußball beispielsweise. Aber dies ist nicht das einzige Feld, auf dem ein etwas bestürzendes vordringen des Kommerzes beobachtet werden kann.

Auf der anderen Seite finde ich, sollte es der Attraktivität oder dem Selbstbewußtsein des Amateursports keinen Abbruch tun, wenn man hier ein bißchen für offenere und klarere Verhältnisse sorgt. Es ist doch klar, daß der Amateursport, jedenfalls der in der Spitze mit Idealismus allein die Eisenbahn oder das Flugzeug nicht bezahlen kann. Es gibt Unkosten, die das private Portemonnaie des einzelnen überfordern. Und je mehr Sie die hier notwendigen Hilfen aus der Sphäre der Geheimniskrämerei herausbringen, um so mehr nützen Sie sich und dem Ansehen des Sports, meine Damen und Herren.

Wiederveröffentlichung: 31.10.2022