Motorische Defizite der Kindheit sind im Erwachsenenalter kaum zu kompensieren, meint unser Autor – und weist auf die Reformbedürftigkeit des Schulsports hin.
Dr. Lothar Nieber
Mathematik, Deutsch und naturwissenschaftliche Fächer zählen zu Recht zum Kern schulischer Bildung und Erziehung. Dennoch gibt es Fächer, wie beispielsweise den Sportunterricht, die einen unersetzlichen und vor allem im Erwachsenenalter kaum noch zu kompensierenden Teil kindlicher Bildung und Erziehung abdecken. Wenn der Sportunterricht auch nicht zu den „harten“ Bildungsfächern gehört, leistet er doch einen von keinem anderen Fach zu ersetzenden Teil ganzheitlicher Persönlichkeitsentwicklung.
Ballprobe, Gummihopse, Seilspringen u. v. a. waren noch vor wenigen Jahrzehnten die bestimmenden Kinderspiele der Mädchen, während die Jungen mit dem Fußball bolzten, auf Bäume kletterten oder im Gelände spielten. Damit ist es vermutlich für immer vorbei. Die Kindheit in führenden Industrienationen wird heute von einer Fülle anderer verlockender Freizeitbeschäftigungen bestimmt. Kindern steht eine Vielzahl von Sportgeräten, Spielplätzen, Sporthallen, Skaterparks, Kunstrasen- und Tartanspielflächen, und ganz besonders eine Vielzahl elektronischer Spielgeräte mit hohem Appetenzpotenzial zur Verfügung.
Zudem kümmern sich ausgebildete Übungsleiter:innen und Trainer:innen in einer dichten Sportvereinslandschaft um die sportliche Betätigung vieler Kinder. Ein Jahrzehnt lang haben staatlich ausgebildete Sportlehrer:innen in den Schulen den Auftrag, jedes Kind durch Sport, Spiel und Bewegung motorisch optimal zu fördern. Aber führen sie auch zu den erstrebten Ergebnissen? Erreichen unsere Kinder noch den Umfang an Bewegungstätigkeit früherer Generationen, der uns in einer langen Evolution in unseren Genen mitgegeben wurde?
Sportlehrer:innen und Erzieher:innen beklagen, dass einige Kinder nicht mal mehr seit- oder rückwärtslaufen können, Angst vor Turngeräten, dem Wasser oder vor dem Ball haben. Der Sportunterricht ist als Lieblingsfach früherer Schülergenerationen inzwischen für eine ganze Reihe von Schüler:innen deutlich weniger attraktiv. Die Gründe sind vielschichtig.
„Bei Deutschlands Kindern ist – fast – alles in Ordnung“
Der Spiegel (v. 25.06.2014) titelte zur Kindergesundheitsstudie 2014 noch „Deutschlands Kinder sind sportlich, aktiv und ständig draußen: Bei Deutschlands Kindern ist – fast – alles in Ordnung“. Sportlehrer:innen, bei Fortbildungen mit dieser Aussage konfrontiert, äußern sich irritiert.
In einer Studie hatte das Robert-Koch-Institut ca. 16.000 Kinder untersucht. Kritik äußerten die Forscher lediglich zu den sozialen Unterschieden. Das Motorikmodul der Studie kam allerdings zu ganz anderen Schlussfolgerungen und kritisierte die immer weiter aufgehende Schere zwischen nach wie vor aktiven Kindern und einer immer größer werdenden Zahl (26 Prozent) jener Kinder und Jugendlichen, die die Mindestempfehlung der WHO von mindestens 60 Minuten körperlicher Aktivität pro Tag nicht erreichen. Bei der folgenden Studie von 2018 konstatierten die Forscher eine Verbesserung des Gesundheitszustands unserer Kinder. Lediglich der Anteil übergewichtiger oder sogar adipöser Kinder bereitete Sorgen. Als kritisch musste abermals das Ausmaß an körperlicher Aktivität bewertet werden, das sich im Vergleich zur vorherigen Studie 2014 weiter verschlechterte.
Nur 22,4 Prozent der Mädchen und 29,4 Prozent der Jungen im Alter von drei bis 17 Jahren waren laut Befragung mindestens 60 Minuten pro Tag körperlich aktiv. Die Bewegungsaktivität nahm zudem mit zunehmendem Alter stetig ab, bei Mädchen stärker als bei Jungen. Die folgenden Jahre der Corona-Pandemie dürften die Situation wegen ausgefallenen Sportunterrichts und sinkender Mitgliederzahlen in Sportvereinen noch weiter verschlechtert haben.
Der Bewegungsalltag unserer Kinder
Über die „Schulsportmisere“ gibt es seit langem viele, nicht immer sachlich geführte Dispute. Tatsache ist jedoch, dass der quantitative Bewegungsumfang viel zu vieler Kinder im Vergleich zu ihren genetischen Anlagen als unzureichend zu bewerten ist. Auch das Verhältnis psychischer und physischer Beanspruchung gerät aus der Balance. Physisch kann man Kinder kaum überfordern, sie hören einfach auf, suchen sich ihre Pausen und sind schnell wieder erholt. Psychisch überlasten wir sie in vielfältiger Weise. Das beginnt mit einem zu langen Schultag, mit zu langen Unterrichtsstunden in der Grundschule, geht weiter über exzessiven Medienkonsum in der Freizeit bis hin zu fehlenden Möglichkeiten, einfach mal nichts zu tun. Der Alltag unserer Kinder ist weitgehend verplant. Die aktuelle Pisa-Studie hat ein weiteres Mal den größer werdenden Abstand in grundlegenden Fächern zu führenden Bildungsnationen offengelegt. Im Fach Sport haben bereits Untersuchungen aus dem Jahr 2002 im Vergleich mit Längsschnittstudien aus den 70er- und 80er-Jahren in allen untersuchten koordinativen Fähigkeiten, außer in der Auge-Hand-Koordination, einen signifikanten Rückgang festgestellt. Sportlehrer:innen weichen heutzutage aus vielfältigen Gründen notwendigen Anforderungen aus, die noch vor Jahrzehnten gang und gäbe waren (Verletzungsgefahr, Hemmungen bei Hilfeleistungen im Turnen, Elternbeschwerden, viele Sportbefreiungen u. a.). Das Ganze reicht inzwischen bis in den Sprachgebrauch, wenn man mittlerweile schon von „Purzelbaum“ statt von einer Rolle vorwärts spricht, und so sieht sie dann auch aus. Es gibt eine immer größer werdende Zahl von Kindern, denen es an grundlegenden Bewegungskompetenzen mangelt. Sie können keinen Ball fangen, sind ängstlich beim Klettern oder Balancieren, sind wasserscheu und können nicht sicher schwimmen. Der Erwerb des Seepferdchens ist sicher eine gute Motivation für die Kinder, bedeutet aber keineswegs, dass sie sicher schwimmen können.
Die Unfallkasse beklagt zu viele Unfälle im Sportunterricht, besonders bei Ballspielen.
Wenn Kinder zu häufig und zu lange auf Flächen von Handys, Tablets und anderen Bildschirmen schauen, fehlt ihnen in der Wahrnehmung der Raumbezug. Gerade in Ballspielen ist die räumlich-zeitliche Wahrnehmung von Mit- und Gegenspielern sowie des Balles eine Grundvoraussetzung, um erfolgreich mitspielen zu können. Wertvolle komplexe Anforderungen der sportlichen Spieltätigkeit eben. Das ist aber für eine ganze Reihe von Schüler:innen inzwischen überfordernd.
Frust und Unlust zum Mitspielen sind die Folge und im unglücklichsten Fall führen vermeidbare schwerere Unfälle zu noch größerer Ängstlichkeit und Passivität – ein Teufelskreis! Es klingt paradox, aber wir brauchen mehr Missgeschicke und kleinere „Unfälle“ im Sportunterricht, jedoch keine schweren. Ein blauer Fleck, eine Beule oder eine Hautabschürfung hinterlassen keine bleibenden Schäden. Solche Ereignisse sind ein notwendiger Erfahrungsgewinn, der dazu beiträgt, schwere Verletzungen zu vermeiden. Fallen und wieder aufstehen will eben auch gelernt sein.
Das Dilemma einer verpassten frühzeitigen Schulung koordinativer Bewegungskompetenzen
Konditionelle Fähigkeiten, wie zum Beispiel die Kraft, können bei entsprechender Motivation besonders in und nach der Pubertät relativ schnell entwickelt werden. Auch die Ausdauer ist bis ins hohe Alter gut verbesserungsfähig. Da sie jedoch nicht speicherfähig sind, müssen sie durch Training beständig erhalten werden. Es kann also in gewissem Maße nachgeholt werden, was in der Kindheit und Jugend verpasst wurde. Das gilt ebenso für kognitive Kompetenzen.
Bei den koordinativen Fähigkeiten (umgangssprachlich: Geschicklichkeit, Gewandtheit) ist das anders. Sie benötigen eine gesamte Kindheit und Jugend, bis sie voll entwickelt sind. Einmal erworben, lassen sie sich aber bis ins Seniorenalter gut reaktivieren. Durch die Neurowissenschaften ist inzwischen belegt, dass besonders vielgestaltige Bewegungen, Musik (im aktiven Sinne) und sportliches Spiel (auch das Rollen- oder Theaterspiel) besonders effektiv zur Bildung neuer Synapsen beitragen.
Aus diesen Gegebenheiten ergibt sich folgendes Dilemma: Wurde in der Prägephase des Kleinkindalters ein variables und aktives Bewegungsverhalten vor allem durch die Eltern mit vielgestaltigen Bewegungsanforderungen vorgelebt und entwickelt und danach im Kindergarten und der Grundschule systematisch ausgeformt, kann man davon ausgehen, dass jede motorische Herausforderung über die gesamte Lebensspanne hinweg bis ins hohe Alter gern und leicht bewältigt wird. Das ist in der Summe ein bislang wenig verstandener Fitness- und Gesundheitsfaktor und ein Gewinn an Lebensfreude. Bei feinmotorischen Anforderungen wie dem Klavier- oder Geigenspiel ist jedem doch auch verständlich, dass man im Erwachsenenalter beginnend kein Virtuose mehr werden wird. Wer also motorische Defizite aus der Kindheit mitbringt und im Erwachsenenalter nicht auf variable motorische Ressourcen zurückgreifen kann, entwickelt leicht ein Vermeidungsverhalten. Zusammenfassend müsste die bekannte Volksweisheit: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!“ bewegungswissenschaftlich richtig lauten: „Was Hänschen motorisch gelernt hat, nützt Hans bis ins hohe Alter!
Schulsport auf den Prüfstand
Diese Zusammenhänge stehen im ernsten Konflikt mit vielen bildungspolitischen Entscheidungen. Konzepte und Projekte ändern sich, je nachdem, welche Partei die Bildungspolitik bestimmt. Wissenschaftliche Erkenntnisse bilden zu wenig die Grundlage für notwendige bildungspolitische Maßnahmen. Würde man nur die gesicherten Erkenntnisse der Neurowissenschaften oder der Trainings- und Bewegungswissenschaft bildungspolitisch umsetzen, müsste sich die Bildungslandschaft so drastisch verändern wie vielleicht seit der Zeit der Aufklärung nicht mehr.
Der Titel des Beitrags lässt jedoch befürchten, dass der Sportunterricht weiter aus dem Blickfeld der Bildungsverantwortlichen unter dem neuerlichen Pisa-Schock gerät. Die vielen Stundenausfälle im Fach Sport, die Übernahme des Sportunterrichts durch Nichtfachlehrer:innen oder gar Seiteneinsteiger sowie Mängel in der Sportlehrer:innenausbildung nähren diese Befürchtung. Was müsste also getan werden?
Eltern sind in der Kleinkindprägephase durch das eigene Bewegungsvorbild die stärksten Motivatoren. In dieser Entwicklungsphase tragen Eltern die Hauptverantwortung für eine vielseitige Bewegungsaktivität ihrer Kinder. Im Kindergarten und besonders in der Grundschule muss eine systematische Schulung besonders der koordinativen Fähigkeiten durch ausgebildetes Fachpersonal einsetzen. Hier hapert es gewaltig, wie die Studien belegen. Das ehemalige Institut für Sportwissenschaft der Uni Greifswald hatte über Jahrzehnte ein interdisziplinäres Forschungsprogramm mit allen Lehrstühlen und den Praxisspezialisten aufgelegt, das noch heute in der Schweiz, in Österreich und in einigen skandinavischen Ländern genutzt wird und weiterentwickelt wurde. Es war ein Unikat in Deutschland, fiel aber 2008 den Sparmaßnahmen des Bildungsministeriums zum Opfer.
Der Schulsport bietet besonders im frühen Schulalter die einmalige Gelegenheit, wirklich alle Kinder zu erreichen. Sie sind in diesem Alter zudem noch sehr aufgeschlossen für Spiel und Bewegung. Dabei geht es nicht allein um eine ausreichende Zahl von Sportunterrichtsstunden. Die werden immer begrenzt sein. Sie müssen jedoch Grundlagen entwickeln und haben später einen anleitenden Charakter. Bewegung, Spiel und Sport müssen schulalltagsbegleitend sein. Das können regelmäßige Bewegungspausen im Fachunterricht sein, Bewegungsanleitungen für die Hofpausen, Schulsportvereine, die am Nachmittag neigungsorientiertes Üben und Trainieren ermöglichen, u.v.a. Und dann sind da immer noch die Eltern, die Defizite ihrer Kinder nicht allein den Lehrern anlasten können. Sie haben die Hauptverantwortung für die Erziehung ihrer Kinder, auch für ihr Bewegungsverhalten. Schule muss viel deutlicher als Lebens- und Lernort verstanden werden, was unter den heutigen Bedingungen nur eine Ganztagsschule leisten kann. Im Sportunterricht selbst muss der Fokus wieder mehr auf Grundlegendes gerichtet werden, was aber mit Nachdruck und Zielstrebigkeit erarbeitet werden muss. Wenn wir im Sportunterricht mehr über Bewegung reflektieren (physical literacy), aber die eigentliche Bewegung zu kurz kommt, werden sich die Bewegungskompetenzen unserer Kinder weiter verschlechtern. Es ist eigentlich nicht viel, was Kinder am Ende der Grundschule können sollten, das aber mit Nachdruck! Sie müssen möglichst schon am Ende der ersten beiden Klassenstufen sicher schwimmen können. Außerdem sollten die Kinder Grundlegendes im Bereich Turnen, Gymnastik, Tanz erlernen, wie Klettern, Schwingen, Rollen, Hüpfen, u. v. a. Statt einer normierten Leichtathletik sollten die Kinder in spielerischer Weise schnell und auch länger laufen, weit und genau werfen sowie hoch und weit springen können. Vor allem aber müssen die pädagogischen Werte des Spiels, insbesondere des Ballspiels genutzt werden. Bei all dem darf der Wettbewerb nicht aus den Augen verloren werden, denn wer sich mit Kindern im frühen Schulalter auskennt, weiß um das natürliche Bedürfnis, sich zu vergleichen – eine große Chance für wertvolle pädagogische Einflussnahme, die in dieser für alle Teilnehmer unmittelbar erlebbaren Form kaum ein anderes Fach bietet.
Das alles kann nur mit gut ausgebildeten und motivierten Erzieher:innen, Fachlehrer:innen und nicht zuletzt mit engagierten Eltern erreicht werden, die sich ihrer Verantwortung und der Vorbildrolle für eine bewegungsaktive Bildung und Erziehung ihrer Kinder bewusst sind. Deren Ausbildung kann nicht so nebenbei an den Fachinstituten der Universitäten und Hochschulen geleistet werden. Dazu braucht es Pädagogische Hochschulen und vielleicht sogar Pädagogische Universitäten mit einem Fokus auf Erziehungswissenschaften und Didaktik in den gewählten Schulfächern sowie schulpraktischen Hospitationen und Übungen vom ersten Semester an. Die Studierenden können so schnell selbst erkennen, ob sie sich für den Lehrerberuf tatsächlich eignen Das Referendariat, das die Ausbildung der Lehrer unnötig in die Länge zieht, könnte damit entfallen. Wir brauchen schon jetzt mehr gut ausgebildete neue Sportlehrer, die den Kindern in allen Bereichen, besonders im Turnen auch was vormachen können.
Eine so große und komplexe Schulreform, bei der Bewegung, Spiel und Sport integrale Bestandteile der Bildung sein muss, um lebenslang körperlich und sportlich aktiv sein zu können, kostet Geld und Zeit, aber es ist eine Investition in die Zukunft, die zudem erst in einigen Schülergenerationen wirksam werden kann. Gelingt es uns nicht, die von Wissenschaftlern schon lange eingeforderten Reformen in der Bildung und ausdrücklich auch im „Nebenfach“ Sport zügig einzuleiten und auch umzusetzen, werden wir in den nächsten Jahren hart aufschlagen, was die motorische Kompetenz unserer Kinder anbelangt. Ein paar Jahrzehnte später wartet dann folgerichtig das nächste böse Erwachen im Gesundheitswesen und auch in der Wirtschaft.
Dr. Lothar Nieber ist Sportwissenschaftler in den Fachbereichen Trainings- und Bewegungswissenschaft und Sportspieldidaktik, sowie ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sportwissenschaft der Uni Greifswald. Zudem leitete er den Lehrbereich Theorie und Praxis von Sport, Spiel und Bewegung.
Das ist ein überarbeiteter Beitrag, der im Rahmen der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung eingereicht wurde (21.01.2024). |