Hymne und Hölle – Anmerkungen zu Christian Schenks Lebensbeichte

Ein Gastbeirag von Rüdiger Nickel

Christian Schenk war schon immer ein außergewöhnlicher Athlet: Seine Zehnkämpfe spiegelten eine Leichtigkeit wider, die alle Experten und Sportfans faszinierte und ihn schließlich zum Olympiasieg 1988 in Seoul brachte. Auch eine Bronzemedaille bei den Europameisterschaften 1990 und eine Bronzemedaille bei den Weltmeisterschaften 1991 sowie bereits der 2. Platz bei den Junioren-Europameisterschaften 1983 gehörten zu seinen großartigen Erfolgen. 1995 wurde er mit dem höchsten deutschen Athletenpreis ausgezeichnet, dem Rudolf-Harbig-Gedächtnispreis, der jedes Jahr nur einem Athleten verliehen wird, der sich durch außergewöhnliche sportliche Leistungen, aber auch durch Haltung und vorbildliches Handeln in besonderem Maße auszeichnet. Damit ist er in der Geschichte der Preisträger dieses seit 1950 vergebenen ewigen Wanderpokals – nach Horst Beyer (1972) und Guido Kratschmer (1981) – erst der dritte Zehnkämpfer, der diese Trophäe erhielt. Ein Preis, der beispielsweise dem Zehnkampf-Olympiasieger Willi Holdorf (1964), herausragender Athlet und Vorbild bis heute, verwehrt geblieben ist. Seine persönlichen Bestleistungen im Zehnkampf (8.500 Punkte) und Hallensiebenkampf (6.021 Punkte) sind auch nach heutigen Maßstäben noch herausragend. Auch als Funktionär (Vizepräsident im Landesverband Mecklenburg-Vorpommern) und Organisator (Meeting-Direktor des Berliner ISTAF) bemühte er sich um die Belange seiner Leichtathletik, also jener Sportart, die ihm besonders ans Herz gewachsen war.

Christian Schenk stand gerade in Zeiten der politischen Wende im Mittelpunkt des turbulenten deutschen Sportgeschehens, und er selbst befand sich auf der Höhe seiner Leistungsfähigkeit. Die Aufarbeitung systematischen Dopingbetruges nach der Wende und der Beitritt der Ost-Landesverbände zum Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) nutzte Christian Schenk, sich an die Spitze der Dopingbekämpfer zu stellen. Im „Zehnkampfteam“, das sich stets – bis heute – dem Kampf gegen Doping verschrieben hat, prangerte er all diejenigen an, die zu unerlaubten Mitteln gegriffen hatten und greifen, so insbesondere auch seine früheren Athletenkollegen und Trainer. Zu den Angegriffenen gehörte u.a. auch sein ehemaliger Clubtrainer, dem er aufgrund einer behaupteten Dopingvergangenheit die Befähigung absprach, weiter Trainer – und damit Vorbild – zu sein. Sein konsequentes Auftreten im Kampf gegen Doping basierte auf dem vehementen Bestreiten eigenen Dopens: „Anfangs bestritt ich, jemals verbotene Mittel eingenommen zu haben. Dann legte ich mir die juristisch etwas weichere Antwort zurecht, ich hätte nie wissentlich gedopt“, so Christian Schenk heute in seiner nunmehr erschienenen Autobiografie „Riss – Mein Leben zwischen Hymne und Hölle“. Auch mit dieser außergewöhnlichen Offenbarung hebt er sich vom Gros der Sportler, Funktionäre, Ehrenamtlichen und Organisatoren ab. Ohne Außergewöhnliches macht es Christian Schenk offensichtlich nicht. Sein Geständnis wird dabei ebenso spektakulär inszeniert wie seine sportlichen Erfolge. Und selbst seine dabei offengelegte psychische Krankheit unterliegt einer Stilisierung, die man als außergewöhnlich bezeichnen muss. In seiner Biografie schreibt er weiter: „Beides war gelogen. Ich habe gedopt, und ich wusste, dass ich dope. Letzteres vielleicht nicht von Anfang an, doch lange hatte es nicht gedauert, bis ich begriff, dass es Mittel waren, über die man besser nicht sprach.“

Dass Christian Schenk unter seiner Lüge, seinem Betrug, aber auch unter seinem Zynismus jahrzehntelang gelitten hat, wie er jetzt in seinem Buch bekennt, begründet seine persönliche Tragik. Sie macht aber den Betrug nicht bemitleidenswerter. Durch sein „spätes Geständnis“ wird er nicht vom Täter zum Opfer. Es ist nachvollziehbar und doper-typisch, die Karte des „Ich-hab‘-nichts-davon-gewusst, was mir da verabreicht worden ist“ zu spielen. Jeder, der dabei erwischt worden ist, mit einer verbotenen Substanz am Start gewesen zu sein, hat das Bedürfnis, sich dieser Aussage zu bedienen.  Und er hat auch das Recht dazu. Nur: Es gibt keinen Anspruch darauf, dass jede Schutzbehauptung auch geglaubt wird. So hat auch Christian Schenk behauptet, am Anfang nichts davon gewusst zu haben, was er da zu sich nimmt. Damit steht er in der Schlange fast aller Doper, die dies zu ihrer Rechtfertigung behauptet haben und das sogar oft bis zum Schluss durchgehalten haben. Aber auch hier gilt der Grundsatz: „Was drin ist, ist drin“, und „was reingekommen ist, hat der Konsument zu verantworten“, entweder weil er es wissentlich konsumiert oder weil er es gar nicht wissen will. Wer als Leistungssportler Pillen schluckt, muss den Konsum verantworten können und darf sich nicht bewusst unwissend halten. Rechtlich nennt man das „billigend in Kauf nehmen“. Athleten können somit durch billigendes Inkaufnehmen zu Tätern werden, weil sie verpflichtet sind, sich darüber zu vergewissern, was sie zu sich nehmen und was ihnen verabreicht wird. Der Sachverhalt der „Zustandshaftung“ ist dem allgemeinen Rechtssystem nicht fremd. Vergleiche mit dem alkoholisierten oder unter Drogeneinfluss stehenden Kraftfahrer sind erlaubt, der unabhängig davon, wie die berauschende Substanz in seinen Körper gekommen ist, sich strafbar macht, wenn er in diesem Zustand Kraftfahrzeuge führt. Allerdings steht ihm die Möglichkeit zu, einen Entlastungsbeweis zu erbringen. Doch er kann sich nicht damit entschuldigen, nicht gewusst zu haben, was in dem Getränk drin ist. Auch das Rechtsinstitut der „Gefährdungshaftung“ kennt eine solche Zustandshaftung – ohne Verschuldensnachweis, bis zum Beweis des Gegenteils durch den Kraftfahrzeugführer selbst. Bei einem Unfall ist, unabhängig von einem Verschulden, grundsätzlich jeder Kraftfahrzeugführer verantwortlich, weil er mit seinem Auto ein „gefährliches Werkzeug“ in den Straßenverkehr gebracht hat. Er hat nur die Möglichkeit, den sog. „Unabwendbarkeitsnachweis“ zu führen, also nachzuweisen, dass dieser Unfall auch dem sog. Idealkraftfahrer nicht passiert wäre.

Ein schwerwiegender Betrug liegt in Christian Schenks Fall in zweifacher Hinsicht vor: Zum einen als Sportler gegenüber seinen Mitstreitern und sich selbst. Ein Betrug, der in damaligen Zeiten einer sportpolitischen Programmatik geschuldet war, die im DDR-Sport (aber nicht nur dort) zum Alltag gehörte, ist deswegen noch lange nicht entschuldbar, und er bleibt auch heute noch verdammenswert. Ein Betrug wird auch nicht deswegen erträglicher, weil „es ja alle machen“, sondern allenfalls subjektiv nachvollziehbarer. Zum zweiten liegt ein schwerwiegender Betrug vor, weil sich Christian Schenk als aktiver und engagierter Dopingbekämpfer auf der Basis einer lauthals vorgetragenen Äußerung „Ich-doch-nicht“ öffentlich inszenierte. Nicht viele der Betrüger haben sich so zynisch und infam zu Wort gemeldet, wenn es um die Geißelung dieses Krebsgeschwürs ging. Viele haben geschwiegen, wo sie vielleicht offensiver und ehrlicher mit sich und dem Sport hätten umgehen müssen. Manche haben ihren Beruf verloren und waren damit Teil der vielfältigen persönlichen Tragiken und Schicksale. Christian Schenk hat aber aus seiner Haltung zum Dopingbetrug auch beruflich Kapital geschlagen. Es waren nicht nur sein Olympiasieg und seine sportlichen Leistungen, sondern auch sein offensives Eintreten für einen „sauberen“ Sport nach der Wende, die ihm sein berufliches Fortkommen erleichterten: in seiner Sport- und Werbeagentur, als Sportreporter beim ZDF, als Leichtathletik-Kommentator bei einem Privatsender. Christian Schenk inszenierte sich auf der Grundlage seiner sportlichen Vita und mit seinem Anti-Doping-Engagement als Vorbild. Als solches wurde er von der Öffentlichkeit wertgeschätzt und bewundert: Er initiierte und leitete ein Sporthilfe-Elite-Forum. Er konzipierte ein Berufs- und Studienorientierungsprogramm „Erkenne Deine Stärken für Schülerinnen und Schüler sowie Azubis“, das von der IHK Berlin und dem Berliner Senat für Bildung gefördert wurde, und er war offizieller Botschafter der SOS-Kinderdörfer mit der von ihm organisierten SOS-Olympiade. Auch als Vorstand der Stiftung „Herzenswunsch“ weiß er, aus seiner Vorbildrolle kommerziell Nutzen zu ziehen. Nimmt man den Titel seines Orientierungsprogramms wörtlich, muss sich Christian Schenk jetzt hieran messen lassen: „Erkenne Deine Stärken“. Seine Stärke jetzt: Nach 30 Jahren „reinen Tisch“ zu machen. Doch dies ereignet sich wiederum in einem außergewöhnlichen Zusammenhang: es gibt nicht ein einfaches „spätes Geständnis“, weil er nicht mit seiner Lüge so weiterleben möchte. Sein Geständnis ist vielmehr Beginn einer massenmedialen Promotions-Aktion für sein neues Buch, die ihresgleichen sucht. Der Zeitpunkt dieses „Geständnisses“ ist nicht seiner Krankheit geschuldet. Es wurde von ihm und seinen Partnern bewusst gewählt. Vor der Veröffentlichung nach nunmehr 30 Jahren hat er, wie er schmunzelnd eingesteht, sich „schon ein bisschen schlau gemacht“, dass die Verfolgung der Dopingvergehen auch tatsächlich verjährt ist und er seinen Olympiasieg behalten kann, auf den er nach wie vor stolz sei. Und deswegen zeigt er bei seiner Buchvorstellung auch keinerlei Unrechtsbewusstsein, trotz aller Manipulationen, die seine sportliche Karriere geprägt haben.

Christian Schenk war schon immer etwas Außergewöhnliches. Das kann ich auch aus meinen persönlichen Kontakten mit ihm bestätigen, aus meinen persönlichen Kontakten, die ich mit ihm als damaliger Anti-Doping-Beauftragter „seines“ Verbandes, des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (1989 – 1993), hatte, zogen wir doch im Kampf gegen Doping an einem Strang, und das auch noch in die gleiche Richtung. Im Rahmen einer Diskussionsrunde um das Thema Kampf gegen Doping, Vorbild von Leistungssportlern für Kinder und Jugendliche und das Umgehen mit in das Dopingsystem verstrickten Athleten, Medizinern, Funktionären und Trainern, zu der Christian Schenk als engagierter und aktiver Dopingbekämpfer im Zehnkampfteam und ich als Anti-Doping-Beauftragter des DLV eingeladen waren, wies Christian Schenk mein Angebot zum „Du“, wie dies in solchen Diskussionsforen, aber auch im Umgang miteinander bei einem gemeinschaftlichen Ziel üblich war, mit der Begründung zurück: „Mit solch einem Funktionär duze ich mich nicht“. Vielleicht deswegen, weil er mich damals nicht als Gleichgesinnten ansah, der am gleichen Strang in die gleiche Richtung zog. So ist mir ein fragwürdiger „Duz-Freund“ erspart geblieben.

Trotz allen Betruges, Zynismus‘ und der Unehrenhaftigkeit hoffe ich, dass das jetzige Geständnis hilft, Christian Schenk von mehreren Jahrzehnten währenden persönlichen und tragischen Fesseln zu befreien. Denn Fesseln bleiben Fesseln. Menschlich ist seine Position eine Tragik. Auf Hilfe von außen ist Christian Schenk dabei unverzichtbar angewiesen, und die Organisationen des Sports müssten sich eigentlich die Frage stellen, was zu tun wäre, um solche Tragödien zukünftig zu verhindern und welcher Beitrag die Organisationen selbst an Hilfe und sozialer Betreuung zu leisten haben. Die Frage nach der Anerkennung der sportlichen Leistungen, die sich nach Christian Schenks Geständnis stellt, bedarf ebenfalls einer sorgfältigen Diskussion. Es ist nicht nur eine juristische Frage, und es muss nicht nur gefragt werden, ob die Ereignisse verjährt sind. Die ethisch-moralischen Fragen, die dieses Geständnis nahelegen, sind nicht weniger zwingend. Zur Ironie des Geständnisses gehört wohl auch, dass jener Athlet, der bei den Olympischen Spielen von Seoul die Silbermedaille erringen konnte und von dem Außenstehende annehmen könnten, dass er nunmehr die Goldmedaille verdient hätte, dem selben Leichtathletikverband angehörte wie Christian Schenk. Vor dem Hintergrund der Aussagen von Christian Schenk und der mittlerweile bekannten Dokumente zur Leistungsmanipulation in der DDR hat er seinen sportlichen Erfolg auf die gleiche unerlaubte Weise erreicht, wie dies beim Goldmedaillengewinner der Fall war. Die Leichtathletik schreibt ganz offensichtlich ihre eigenen zynischen Geschichten.

Über den Autor.
Rüdiger Nickel (73), Hanau, aktiver Mittelstreckler und deutscher Juniorenmeister, später Jugendwart, ab 1989 Anti-Doping-Beauftragter und schließlich als Sportwart und Vizepräsident Leistungssport des Deutschen Leichtathletik-Verbandes in mehreren Positionen bis 2004 ehrenamtlich tätig. Aufgrund der Übernahme sportpolitischer Verantwortung für das schlechte Abschneiden bei den Weltmeisterschaften 2003 und den Olympischen Spielen 2004 in Athen trat er von sämtlichen leistungssportlichen Verbandsfunktionen zurück. Als einer der ersten Anti-Doping-Beauftragten eines Sportfachverbandes begleitete und gestaltete er – unter seinem Verbandspräsidenten Prof. Dr. Helmut Digel, dessen Wegbegleiter er zusammen mit dem DLV-Vizepräsidenten Theo Rous er war – die Zeit der Wende, insbesondere der Zusammenführung zweier Leistungssportsysteme mit der Integration von Athleten, Trainern und Funktionären. Seine hauptberufliche Tätigkeit als Jurist – Rechtsanwalt und Notar in eigener Familienkanzlei – kam ihm insbesondere im Kampf gegen Doping zustatten. Der gebürtige Berliner lebt nach wie vor in Hanau und ist dort beruflich in seiner Rechtsanwalts- und Notarkanzlei tätig.