Wie das IOC Verantwortung im Anti-Doping-Kampf übernehmen könnte

Betrachtet man das Dopingproblem aus einer prinzipiellen Perspektive, so muss man erkennen, dass es vermutlich nicht lösbar ist. Aufgrund der Regelstrukturen des Sports ist dabei der Betrug eine schon immer existierende Option. Dem Regelbefolgen stehen das Nichtbefolgen, das Foulspiel, der Regelverstoß und damit auch der Dopingbetrug gegenüber. Der Betrug mittels medikamentöser Manipulation ist deshalb schon seit den ersten Anfängen des modernen Sports zu beobachten. Einige Sportarten waren sehr früh von dem Problem betroffen, andere sind erst seit der Kommerzialisierung des Sports und dessen umfassender Professionalisierung erfasst worden. Heute sind sämtliche olympische Sportarten von Dopingproblemen betroffen. Manche Sportarten müssen als dopingverseucht bezeichnet werden, so z.B. der Radsport und die Leichtathletik. Nachdem über Jahrzehnte der Dopingbetrug von den Sportverbänden eher vertuscht als aufgedeckt wurde, ist dank der massenmedialen Berichterstattung verschiedener Dopingfälle eine Situation entstanden, in der sowohl die Sportorganisationen als auch die Politik einen Anti-Doping-Kampf notwendigerweise zu führen haben.

Die bislang eingesetzten Instrumente im Anti-Doping-Kampf haben sich allerdings bis zum jetzigen Zeitpunkt nur sehr bedingt als erfolgreich erwiesen. Der Nachweis des Dopingbetrugs gelingt nur selten. Das Hase-Igel-Rennen wird meist vom Hasen gewonnen. Die Betrüger sind den Kontrolleuren nicht selten mehrere Schritte voraus. Mit der Einsicht, dass man den Anti-Doping-Kampf aufgrund prinzipieller Erwägungen nicht gewinnen kann und es deshalb eher darum geht, diesen Kampf möglichst optimal zu meistern, stellt sich die Frage durch welche Qualität sich eine optimale Meisterung auszeichnen sollte.

Einige Maxime einer optimalen Qualität sind dabei besonders erwähnenswert:

  1. Die Pharmakologie und die pharmazeutischen Experten, die die Basis des Dopingbetruges bilden, müssen einer globalen Kontrolle unterliegen. Transparenz ihres Handelns und dessen Kontrolle müssen höchste Priorität erhalten. In Kooperation mit der WHO sollte ein internationales Vorwarnsystem geschaffen werden.
  2. Der Generalverdacht, unter dem seit längerem leider auch die sauberen Athleten stehen, muss schnellstens beseitigt werden. Der saubere Athlet bedarf eines sehr viel umfassenderen Schutzes als dies heute der Fall ist.
  3. Olympische Sportverbände und NOKs, die nachweislich den WADA-Code nicht beachten und umsetzen, werden zukünftig von allen internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen. Diese Regel ist sowohl in die Olympische Charta als auch in den WADA-Code aufzunehmen.
  4. Den sauberen Athleten müssen bessere Möglichkeiten bereitgestellt werden, wie sie ihre Sauberkeit gegenüber der Öffentlichkeit nachweisen können. Die Suche nach neuen Möglichkeiten sollte über einen internationalen Kreativ-Wettbewerb erfolgen.
  5. Die Aufwendungen für Prävention müssen um ein Vielfaches erhöht werden. Die Zielgruppen der Präventionsmaßnahmen müssen sehr viel genauer definiert werden, als dies bislang der Fall ist. Die Präventionsmaßnahmen selbst müssen auf die definierten Zielgruppen spezifisch ausgerichtet werden.
  6. Sämtliche Anreizsysteme, die den Dopingbetrug wahrscheinlicher machen, müssen beseitigt werden. Dazu gehören die Transparenz aller Antrittsgelder bei internationalen Wettkämpfen und die völlige Zurücknahme aller Sieg- und Weltrekordprämien.
  7. Weltweit muss eine optimale Kooperation der Sportgerichtsbarkeit mit der staatlichen Gerichtsbarkeit gesucht werden. Dazu wäre es hilfreich, wenn das IOC ein Modell für ein Anti-Doping-Gesetz zugunsten seiner Mitglieds-NOKs offerieren könnte.
  8. Gemeinsam mit den Eliteuniversitäten aller Kontinente ist ein globales Anti-Doping-Forschungskonzept zu entwickeln. Hierzu müssten die besten Wissenschaftler motiviert werden, entsprechende Forschungsmittel bereitgestellt werden und neue Belohnungssysteme für erfolgreiche Forschung ausgelobt werden.
  9. Der Anti-Doping-Kampf muss einen Wettbewerbscharakter erhalten. Dazu sind neben der WADA neue Anti-Doping-Einrichtungen zu gründen, die sich in einem Wettbewerb befinden. Ein freier Markt des Anti-Doping-Kampfes gewährt eine erhöhte Qualität der eingesetzten Anti-Doping-Instrumente.

Die jüngsten Dopingskandale, bei denen vor allem Russland im Blickpunkt des öffentlichen Interesses steht, stellen für das IOC und für die internationalen Sportorganisationen eine nahezu einmalige Herausforderung dar. Es ist eine Situation mit Handlungszwang entstanden, bei der die Gefahr besteht, dass vorschnell falsche Entscheidungen getroffen werden, deren Wirkungen und Nebenwirkungen nicht überblickt werden können. Wird, wie vielfach gefordert, das NOK Russlands aus den Olympischen Spielen von Rio de Janeiro ausgeschlossen, wird damit ohne Zweifel all jenen russischen Athleten Unrecht zugefügt, die bis heute noch nie des Dopings überführt wurden. Da jede Athletin und jeder Athlet solange als sauber zu gelten hat, solange ein Dopingbetrug nicht nachgewiesen wurde, wäre ein Ausschluss aller russischen Athleten ein gravierender Verstoß gegen die olympische Fair-Play-Maxime. Ein alleiniger Ausschluss würde auch die Frage nahelegen, warum Indien, Türkei, Kenia, China, Weißrussland, Kasachstan, Usbekistan, Malaysia und Indonesien nicht ebenfalls ausgeschlossen werden. Diese und noch weitere Länder haben in den vergangenen Jahren nur sehr bedingt oder gar nicht den Nachweis erbracht, dass sie sich im Anti-Doping-Kampf engagieren.

Die seit mehreren Jahren bestehende WADA-Statistik zeigt sehr deutlich das Ausmaß des Dopingbetruges in den genannten Ländern, ohne dass man erkennen konnte, dass sich die Länder selbst gegen den Betrug engagieren. Die Befunde der WADA selbst machen schon seit längerer Zeit deutlich, dass nicht nur Russland und nicht nur die Leichtathletik vom Dopingproblem betroffen sind. Man muss vielmehr davon ausgehen, dass sich alle olympischen Sportarten in grundlegenderweise im Anti-Doping-Kampf auf eine völlig neue Weise zu engagieren haben, Verantwortung zu übernehmen haben, sich aktiv auf dem Gebiet der Prävention zu beteiligen haben und eigene finanzielle Mittel aufwenden müssen, um die künftige Glaubwürdigkeit des internationalen Hochleistungssport zu gewährleisten. Eine völlig neue Rolle müssen dabei auch die Athletinnen und Athleten selbst übernehmen. Als mündige Athleten haben sie Verantwortung für ihren Wettkampf, für ihr Handeln, für die gültige Ethik des Hochleistungssports und für den Erhalt des Prinzips des Fair Plays zu übernehmen.

In jeder Krise gibt es jedoch immer auch besondere Chancen. Das IOC mit seinem Präsidenten befindet sich ohne Zweifel in der größten Krise seiner Geschichte. Die kritische Öffentlichkeit, aber auch die Politik und die Wirtschaft erwarten vom IOC die Übernahme der vollen Verantwortung mit dem Ziel die Olympischen Sommer- und Winterspiele auch für zukünftige Generationen zu erhalten, ihre positive Entwicklung zu erhalten und ihre weitere Entwicklung auf gesunde Beine zu stellen. Mit der Agenda 2020 hat der Präsident des IOC für sich und sein Handeln, für das seiner Exekutive und für das seiner Mitglieder eine wichtige Basis geschaffen. Es gilt nun darauf aufzubauen. Dazu ist erstens erforderlich, dass der Exekutive des IOC und allen olympischen Mitgliedsverbänden klar gemacht wird, welche Dramatik die aktuelle Krise besitzt und durch welche umfassende Reichweite sie geprägt ist.

Zum Zweiten muss der Ausschluss aller des Dopingbetrugs überführten Athleten in allen olympischen Sportarten sofort gewährleistet werden. Sämtliche Sportverbände und NOKs, die aufgrund der Beobachtung der WADA als tatenlos und als dopingverseucht eingestuft werden, müssen eine offene Verwarnung durch das IOC mit dem Hinweis erhalten, dass sie aufgrund neuer Regeln, die ab sofort in der Charta und im WADA-Code verankert sind, bei den nächsten Olympischen Spielen nicht teilnehmen können, wenn sie sich nicht dem WADA Code unterwerfen.

Darüber hinaus sollte ein sehr viel weitreichenderer Schritt in dieser kritischen Situation erfolgen. Der Präsident des IOC sollte den Beschluss seiner Exekutive herbeiführen, dass das IOC für den Zeitraum einer Olympiade (4 Jahre) seine Einnahmen aus dem Verkauf der Fernsehrechte und aus dem Verkauf der Marketingrechte in einen internationalen Anti-Doping-Fonds investiert, mit dem gemeinsam mit der WADA und den neu einzurichtenden Anti-Doping-Institutionen der Anti-Doping-Kampf ganz wesentlich optimiert und verbessert werden kann. Auf die Mitglieder des IOC, auf die Nationalen Olympischen Komitees und die Internationalen Olympischen Verbände wird auf diese Weise ohne Zweifel eine schwierige 4-Jahres-Periode zukommen, in denen sie ihre Ausgaben erheblich zu reduzieren hätten. Vielleicht müssten sie auch auf die eine oder andere internationale Veranstaltung und auf liebgewonnene Gewohnheiten verzichten. Viele Kommissionen müssten verkleinert werden. Auch ihre Anzahl wäre ganz wesentlich zu reduzieren. Der Sache und der Entwicklung der jeweiligen Sportarten würde dies vermutlich eher nutzen als schaden. Kommt das IOC zu der Erkenntnis, dass einige olympische Sportarten zwingend auf die finanzielle Hilfe des IOC angewiesen sind, so könnte zu diesem Zweck aus einem Teil der Marketing- und Fernseheinnahmen ein Fonds investiert werden. Diesbezüglich wäre es wiederum äußerst wichtig, dass die Ausschüttung der Mittel einer genauen und transparenten Kontrolle unterliegen müsste. Für zukünftige Olympische Spiele sollte das IOC bereits heute ankündigen, dass nur noch dann die Zahlungen aus den Einnahmen des IOC an die NOKs und die olympischen Sportverbände erfolgen wird, wenn sich diese gemeinsam in einem international engagierten Anti-Doping-Kampf bewähren.

Der von mir unterbreitete Vorschlag hat ohne Zweifel eine gewisse Radikalität, das heißt, er trifft die Wurzeln der Olympischen Bewegung. Angesichts der Reichweite des umfassenden Betrugsskandals, in dem sich der internationale Hochleistungssport in diesen Tagen befindet, bedarf es jedoch genau dieser Radikalität. Die Zukunft der Olympischen Spiele steht in diesen Tagen auf dem Spiel. Der IOC-Präsident mit seiner Exekutive hat dabei die einmalige Chance seinen Mitgliedern, den Olympischen Verbänden, der Politik, der Wirtschaft, den Medien, allen Partnerorganisationen und der Welt zu zeigen, dass das IOC bereit ist zum Schutz der Zukunft der Olympischen Bewegung mehr zu tun, als dies jemals zuvor der Fall war.

Verfasst: 22.06.2016