„Roter Gaigel“ – Warum Sport pädagogisch wertvoll sein kann

Freitagabend, 21.30 Uhr, Gaststädte Lindenhof in Stuttgart-Möhringen. Schon lange ist es mir nicht mehr gelungen einen ganz besonderen Termin wahrzunehmen. Auslandsreisen, internationale Sportveranstaltungen, berufliche Verpflichtungen und private Notwendigkeiten haben es über mehrere Monate verhindert, dass ich an einem besonders eigenwilligen Ereignis habe teilnehmen können, das in Stuttgart-Möhringen jeden Freitagabend zur selben Stunde stattfindet und das nunmehr eine Lebensdauer von fast 50 Jahren aufweist. Freitagsabend um 21.30 Uhr treffen sich meist mehr als zehn Männer und versammeln sich an einem großen Tisch, eigens für sie reserviert in einer Möhringer Gaststätte, um sich in einem ganz besonderen Wettkampf zu messen. „Roter Gaigel“ heißt das Spiel, um das es dabei geht und dieses Spiel, das in Bezug auf dessen Regeln an Einfachheit kaum zu übertreffen ist, fasziniert die anwesenden Spieler nunmehr seit fünfzig Jahren. Je nach Spielerzahl gibt es pro Kopf vier bis acht Karten. An diesem Abend sollen es fünf bzw. vier sein, da die Spielerzahl während des Abends wechselte. Ein Spieler gibt die Karten, wobei das Geben selbst schon ein besonderes Ritual ist. Manche stellen sich dabei sehr geschickt an, andere setzen sich dem Gelächter der Mitspieler aus und provozieren ironische Kommentare. Der Spieler neben dem Geber muss als erster eine Karte anspielen, die von ihm gewählte Farbe ist zu bedienen oder die Farbe rot, eine „Herz-Karte“ also kann abgeworfen werden. Das Herz, die Farbe rot bedeutet „Feuer“. Jeder Spieler muss bemüht sein, möglichst wenige rote Karten zu erhalten. Allerdings kann sich das Ziel des Spiels auch in sein Gegenteil verkehren, schafft ein Spieler nach Ansage sämtliche zwölf rote Karten zu erreichen, dann spricht man von einem sogenannten „Durch“ und allen Mitspielern werden zwölf Negativpunkte angeschrieben. Ein Spieler ist der Schreiber. Seine Aufgabe ist es die Punkte anzuschreiben, um am Ende jeder Spielrunde Verlierer und Sieger zu definieren. Ganz zum Abschluss des Spielabends ist es auch die Aufgabe des Schreibers, die jeweiligen Geldbeträge festzulegen, die die beteiligten Spieler in die Mannschaftskasse zu bezahlen haben.

Ein Teil des Geheimnisses dieser Spielrunden ist damit gelüftet. Bei den Spielern handelt es sich um Handballspieler, die früher gemeinsam Feld- und Hallenhandball gespielt haben. Einige haben dabei höchsten internationalen Ansprüchen genügt – vier spielten in der Deutschen Nationalmannschaft, die besten Spieler spielten über viele Jahre in der Handballbundesliga. Andere haben „1b-Mannschaften“ verstärkt. Gemeinsame Erfolge im Handball, gemeinsames Training, die vielen gemeinsamen Spiele auf dem Feld und in der Halle haben diese Spieler in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zusammengefügt zu einer Gemeinschaft, die sich bis heute erhalten hat. Noch 1985 konnte im Feldhandball die Württembergische Meisterschaft errungen werden, wodurch eine Mannschaft mit einem Durchschnittsalter von mehr als 40 Jahren ihren vielen Meisterschaften und Titeln eine besondere letzte Auszeichnung hinzufügen konnte.

Heute Abend ist es also soweit, ich treffe vor dem Lindenhof Dieter, er ist der Älteste der Spielgemeinschaft, das 80. Lebensjahr hat er schon erreicht, eine schwere Krankheit hat er in den vergangenen Monaten überstehen müssen, doch von zu Hause ist er zu Fuß bis zum Lindenhof gegangen. Das Auto hat er bewusst in der Garage gelassen, da der Spielabend ja seine besondere Qualität auch dadurch gewinnt, dass jeder sich das eine oder andere Viertele gönnt. Der Nachhauseweg wird deshalb so organisiert, dass Führerscheine nicht gefährdet sind. Dieter war mein Trainer, als ich meine ersten Spiele für den SV Möhringen in der D- und C-Jugend machen durfte. Er war Abteilungsleiter, er war die Mutter der Kompanie, er war Mr. Handball des SV Möhringen. Er vertrat unseren Verein auch bei Versammlungen des Handballbundes. Von Beruf war er Schneider, später eröffnete er ein Sportgeschäft und seine Schneiderstube war ebenso wie sein Sportgeschäft der Begegnungsort für jeden Handballer unseres Dorfes. Dieter war und ist in gewisser Weise bis heute noch die Seele des Möhringer Handballs. Dieter und ich waren die ersten, die am Stammtisch Platz genommen hatten. Nur wenige Minuten später gesellte sich Bernd hinzu. Bernd ist Dieters jüngerer Bruder, Bernd ist in einer Person Hand und Kopf der Spielgemeinschaft. Selbstredend ist er der Anschreiber und führt die Mannschaftskasse, die für vieles verwendet werden kann. Es gibt zwar einen Jahresabschluss, bei dem am letzten Freitag vor Weihnachten alle Getränke von der Gaigelkasse übernommen werden, sie ist aber auch ein gutes Polster für die Ausgaben, die bei den Treffen mit den Reinickendorfer Füchsen von Berlin, den alten Widersachern aus Bundesligazeiten – entstehen. Diese Freundschaft hält nun fast 40 Jahre und ist vermutlich so einmalig wie die Möhringer Sportkameradschaft selbst. Bernd ist eine Führungspersönlichkeit, wie man sie ganz selten trifft und er ist seit mehr als sechzig Jahren in dieser Rolle. Als jugendliches Multitalent begann er seine Karriere, als Spielertrainer prägte er die Erfolge unserer Mannschaft, als Nationalspieler war er das große Vorbild für alle jugendlichen Handballspieler. Er überzeugte durch fachliche Autorität. Eine außergewöhnliche Intelligenz prägte seine Persönlichkeit, Eleganz und Stil sind weitere Merkmale, die sein Handeln kennzeichneten. In gewisser Weise war er immer auch ein Leitwolf, der von seinen Gefolgsleuten Willen und Disziplin abverlangte. Sein Wort hat früher gegolten und gilt auch heute noch. Sport ist sein Leben, im Sport weist er eine Kompetenz auf, die ihresgleichen sucht und die ihm auch in einer verantwortungsvollen beruflichen Führungsposition zugute kam.

Horst ist mittlerweile zu uns gestoßen, er gehört zur jüngeren Generation der Spielgemeinschaft. Leider ist auch er von einer Krankheit betroffen und unser Gespräch bezieht sich auf seine jüngsten Krankenhausaufenthalte und welche Untersuchungen ihm demnächst bevorstehen. Krankheiten aller Art sind längst ein Thema für den Stammtisch geworden, denn mit zunehmendem Alter werden auch die Langzeitschäden des Hochleistungssports bei den Mitgliedern der Spielgemeinschaft offensichtlich. Künstliche Hüftgelenke, Kniegelenksoperationen und Fußschäden haben schon früh zu Beeinträchtigungen geführt, doch keiner möchte seine aktive Zeit im Handballsport missen.

Nach weiteren zehn Minuten stößt eine ganze Gruppe von Spielern zu der bereits versammelten Gemeinschaft und damit wird ein weiterer Teil des Geheimnisses dieses besonderen Freitagabends gelüftet. 21.30 Uhr ist ja ein etwas ungewöhnlicher Zeitpunkt für den Beginn eine Stammtischrunde. Es gibt jedoch hierfür eine einfache Begründung: Zu jener Zeit, als der SV Möhringen noch in der Handballbundesliga spielte, war der Freitagabend Trainingsabend und bedeutete die letzte Vorbereitung vor dem bevorstehenden Spiel am Wochenende. Seriosität war deshalb angezeigt und nach dem Training hat man allenfalls noch in der Vereinsgaststätte etwas getrunken. Ausreichender Schlaf war jedoch geboten, um am Wochenende die besten Leistungen zu erbringen. „Roter Gaigel“ wurde deshalb immer nur nach den Wettkämpfen gespielt. Als die meisten Spieler ihre aktive Karriere in der ersten Mannschaft beendet hatten, wurde der Freitagabend als Trainingsabend beibehalten, doch er diente lediglich dem gemeinsamen Fußballspiel, das gegen 22 Uhr beendet wurde und nahtlos in einen „Rote Gaigel-Wettbewerb“ überführte, bei dem das eine oder andere Glas Bier oder Wein die Geselligkeit bereicherte. Anstelle des Fußballspiels trat später das Tennisspiel. Nachdem die Verletzungsgefahr beim Fußball zu groß geworden war, wurde und wird am Freitagabend Tennisdoppel gespielt und danach beginnt der „Rote Gaigel“-Abend. Gerd, Pille, Helm und Jochen haben heute das Doppel gespielt und sind deshalb jetzt, etwas verspätet im Lindenhof eingetroffen.

Benno war kurz zuvor zu der Runde gestoßen. Sowohl im Feld- als auch im Hallenhandball spielte er aus dem Rückraum bzw. im Sturm, war ein gefährlicher Torschütze und spielte später Tennis auf hohem Niveau. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann, hatte dann aber alle seine geschäftigen Interessen hinter sich gelassen, wurde Taxiunternehmer und im weitesten Sinne „Freund der schönen Dinge“, war und ist Freund vieler Frauen und er ist ohne Zweifel ein besonderes Faktotum in dieser Spielgemeinschaft. Gleiches gilt für Klaus, er ist noch nicht eingetroffen und man fragt, was könnte denn wohl die Ursache sein? Er ist ein „Schwarzer“, wie so viele in dieser Spielgemeinschaft, er ist dies jedoch offiziell und bekennend und seine Verspätung ist auf einen CDU-Neujahrsempfang zurückzuführen, auf dem er als Unternehmer anwesend sein musste. Doch der „Rote Gaigel“ ist ihm wichtig und so kommt er gerade noch rechtzeitig zu Spielbeginn.

Die Spielgemeinschaft ist nun nahezu vollständig und Bernd kann nach Small-Talk, Tratsch,  und Nachfragen und Erkunden über das gegenseitige Befinden das Signal zum Spielbeginn geben. Etwas verspätet kommt noch Roland, ein arbeitsgeplagter Handwerksmeister, zu unserer Spielrunde. Er war früher insbesondere in der Feldhandballmannschaft ein guter linker Verteidiger, in der Halle spielte er im Rückraum. Auch er gehört zum Grundinventar des SV Möhringen. Bodenständig, in Möhringen geboren, in Möhringen wohnhaft, wir nennen ihn das „Möhringer Tagblatt“. Roland weiß alles, wer mit wem und mit wem nicht lebt, liebt und zusammen oder auseinandergeht. Drei Spielrunden werden gespielt. Ich gehöre wie zu meist bei meinen viel zu seltenen Gastspielen zu den Verlierern. Dann sind es nur noch wenige Minuten bis kurz vor eins in der Frühe, der Wirt ist längst unruhig geworden. Der Spielabend kommt zu seinem Ende, alle verabschieden sich bis zum nächsten Mal und machen sich auf den Nachhauseweg.

Nicht alle Spieler des ehemaligen Bundesligakaders nehmen an diesem Freitagsereignis teil. Einige sind nur an diesem Freitag verhindert, so wie Peter, der in der Spielrunde üblicherweise eine stimmgewaltige Rolle einnimmt. In der Deckung spielte er vor allem im Feldhandball eine zentrale Rolle. Andere sind vor Jahren von Möhringen weggezogen und aufgrund der zu großen Entfernung schaffen sie es meist nur selten, sich mit ihren alten Spielkameraden zu treffen. Einmal im Jahr machen es jedoch alle möglich. Lothar kann an diesem Treffen nicht mehr teilnehmen. Zu früh ist er nach einer schweren Krankheit verstorben. Zuvor hat er wohl an keinem Freitagabend gefehlt und als Spieler war er die Verlässlichkeit in Person. Sein Spiel zeichnete sich durch Intelligenz und Eleganz aus und in der Abwehr war er unverzichtbar. Nach der aktiven Zeit war er zur Übernahme der verschiedensten Ehrenämter bereit. Gleiches gilt für Peter und Jochen. Der eine war mehrere Jahrzehnte als Trainer aktiv, der andere arbeitet seit 30 Jahren im Vorstand des Vereins.

Zweieinhalb Stunden wurde von zwölf Männern Roter Gaigel gespielt und man fragt sich, was dabei wohl das Besondere ist, dass diese Art des Spielens seit mehr als fünfzig Jahren anhält. Das Spiel selbst ist es gewiss nicht. Wohl gibt es auch hier Spieler mit Strategie, Spieler, die Raffinesse aufweisen, andere sind eher vorsichtig oder tölpelhaft, wie es bei mir nicht selten der Fall ist, und werden deshalb zum Gegenstand des Gelächters. Wenn einer reingelegt wird, löst dies bissige Kommentare aus. Spaß, Witz, Humor, Ironie ist das was die Kommunikation während des Spiels prägt. Dass bei einer Versammlung von zwölf Männern Sexualität eine besondere Rolle spielt, ist naheliegend. Benno und Klaus sind dabei die Gegenpole. Sex theoretisch und Sex praktisch scheint eine besondere Faszination auszuüben. VfB Stuttgart und Stuttgarter Kickers bilden einen weiteren Gegensatz, die einen sind die „Roten“, die anderen die „Blauen“. Keiner ist wirklich aktiver Anhänger des Fußballs, aber das Spiel der Fans wird gespielt und Fußballkompetenz haben alle aufzuweisen – die einen mehr, die anderen weniger. Politik ist immer auch ein beliebtes Gesprächsthema. Hier können unterschiedliche Meinungen aufeinander prallen, doch der wertkonservative Charakter der Runde ist nicht zu übersehen. Selbstredend wird die Entwicklung des nationalen und internationalen Handballs kommentiert und gibt immer wieder Anlass für kurze Debatten. Nach Beendigung der aktiven Bundesliga-Karrieren musste der SV Möhringen einen beispiellosen Niedergang erleben. Abstieg aus der Bundesliga, mittlerweile ist Handball als Sportart im Verein gefährdet, findet nur noch im Jugendbereich statt. Für alle Beteiligten ist dies Schande und Makel, die man eigentlich nicht verkraften kann. Sich darum zu bemühen, dass es zu einer Wiedergeburt des Handballs kommen könnte, dazu sind die Beteiligten zu resigniert und zu alt. Viele von ihnen haben mehr als dreißig Jahre nach ihrer Karriere noch als Übungsleiter, Trainer und als ehrenamtliche Führungskräfte im Verein mitgearbeitet, irgendwann musste man es Jüngeren überlassen und man hat sich damit abzufinden, dass die eigenen Erwartungen nicht mehr erfüllt sind.

Das Besondere dieser zweieinhalb Stunden ist wohl darin zu sehen, dass es eigentlich nichts Besonderes gibt. Zwölf Männer treffen sich in einer angenehmen Atmosphäre, die sich durch Freude, Spaß, Witz, Ironie, Kreativität und vor allem durch Freundschaft auszeichnet. Jeder ist jedem freundlich gesinnt und diese besondere Gesinnung wurde durch den Handballsport vor vielen Jahrzehnten gestiftet. Die besonderen Erlebnisse aus Training und Wettkampf waren und sind bis heute sinnstiftend für diese Spielgemeinschaft und es überrascht deshalb nicht, dass dieser Gemeinschaftssinn auch über den Spielabend hinaus fortgelebt wird. Immer wieder finden gemeinsame Wanderungen statt, Geburtstage sind Anlass für gegenseitige Einladungen, einige Gruppen der Spielgemeinschaft verbringen den Urlaub gemeinsam. Für diese Männer hat der Handballsport sozialen Sinn gestiftet und dieser Sinn wird lebendig bleiben, auch wenn ein natürliches Ende dieser Spielgemeinschaft vorhersehbar ist.

An diesem Freitagabend gewann Dieter Mühleisen, der im März 2017 leider verstorben ist. 

letzte Überarbeitung: 27.03.2018

Erstveröffentlichung: Digel, H. (2014). Gefährdeter Sport. Schorndorf: Hofmann.