Ist der Anti-Doping-Kampf glaubwürdig?

Die IAAF hatte im November 2016 eine Quartalsliste veröffentlicht, in der die jüngsten positiven Leichtathletikfälle ausgewiesen wurden. Es konnte dabei wohl kaum überraschen, dass Russland einmal mehr jenes Land war, das mit acht die meisten positiven Fälle aufzuweisen hatte. An zweiter Stelle folgte Indien mit sechs, dann kam Marokko mit fünf, Italien mit drei, USA und Südafrika mit zwei und Kanada, Katar und Frankreich jeweils mit einem positiven Fall. Diese Top-Ten-Liste zeichnet sich durch eine ganz besondere Qualität aus. Mit Ausnahme von Südafrika sind alle anderen Länder im Council der IAAF repräsentiert, haben Sitz und Stimme und entscheiden über die Anti-Doping-Politik der IAAF. Nun wäre es ganz gewiss unfair, Council-Mitglieder für Betrugshandlungen von Athleten verantwortlich zu machen, die mehr oder weniger zufällig der Nation des Council-Mitglieds angehören. Die Frage muss jedoch erlaubt sein, was jedes einzelne IAAF-Council-Mitglied in seinem Herkunftsland unternimmt, damit sein eigener Verband den hohen Ansprüchen genügt, die das IAAF-Council proklamiert hat und denen sämtliche Mitglieder des Councils zugestimmt haben. In welchen Herkunftsländern der Council-Mitglieder gibt es ein Anti-Doping-Gesetz? Kommt das „Where-About-System“ so zur Anwendung, wie es die WADA vorschreibt? Welche Aufklärungs- und Erziehungsprogramme gibt es? Verfügt das Herkunftsland über eine eigenständige und unabhängige Anti-Doping-Agentur? Bei all diesen Fragen müsste auch gefragt werden, welchen Beitrag das IAAF-Council-Mitglied leistet, damit es Fortschritte im Anti-Doping-Kampf gibt?

Der Anti-Doping-Kampf ist wie kaum ein anderes sportpolitisches Feld von einem intensiven Talk-Action-Phänomen geprägt. Es gibt viel „talk“, aber nur ganz selten „action“. Podiumsdiskussionen, Pressekonferenzen, Parlamentsdebatten, Presseberichte und Kommentare, Fernsehfeature über die Dopingprobleme des Hochleistungssports sind fester Bestandteil der öffentlichen und massenmedialen Tagesordnung. Was bereits vor mehr als drei Jahrzehnten diskutiert wurde, wird auch im vierten Jahrzehnt fortgesetzt. Redundanz ist das besondere Merkmal dieser Debatte. Menschliche Vergesslichkeit macht es möglich, dass längst Bekanntes immer wieder als Neuigkeit präsentiert werden kann. Viele Beschlüsse bleiben auch folgenlos, weil es kein Interesse gibt, ihre Umsetzung zu überprüfen. Ein Anti-Doping-Gesetz wird als großer Erfolg gefeiert, obgleich jeder verantwortungsvolle Politiker bei der dafür notwendigen Abstimmung im Parlament eigentlich hätte wissen müssen, dass mit der Verabschiedung eines Gesetzes lediglich eine Voraussetzung geschaffen wurde. Zwingende Folgehandlungen wären nun erforderlich. Doch diese hat es bis heute so gut wie nicht gegeben. So wird nun angeblich überraschend festgestellt, dass mit dem neuen Gesetz bislang so gut wie keine Dopingtäter des Hochleistungssports überführt werden konnten. Dass dies von Experten vorhergesagt wurde, wird dabei ebenso vergessen wie der angemahnte Sachverhalt, dass man mit Strafen allein dem Problem des Dopingbetruges nicht gerecht werden kann.

Jeder Experte weiß, dass die offiziellen Statistiken der WADA und der NADA nur eine äußerst geringe Aussagekraft besitzen. Angesichts des Ausmaßes der Dopingepidemie verbietet es sich, von den dort ausgewiesenen positiven Fällen auf die Reichweite des Dopingproblems zu schließen. Von Politikern und von verantwortlichen Funktionären des Sports wird dieses verschleiernde Argument jedoch ständig ideologisch propagiert. Jeder Experte weiß auch, dass die Testverfahren, die heute in den IOC-Laboren zur Anwendung kommen, ebenfalls nur eine begrenzte Reichweite haben. Pharmazeutische Forschung folgt ihrer eigenen Logik, was zur Folge hat, dass nahezu täglich neue Substanzen entwickelt werden. Dabei ist die Gefahr laufend gegeben, dass diese neuen Substanzen auch zur Manipulation sportlicher Leistungen herangezogen werden können. Von den Anti-Doping-Laboren kann der Nachweis dieser Substanzen notwendigerweise erst zu einem späteren Zeitpunkt gelingen, was längt zu einem kalkulierten Hase-Igel-Spiel geführt hat. Dennoch wird eine kostspielige Steigerung der Kontrollen gefordert, ohne dass die Argumente ausgeräumt werden, die gegen eine solche Steigerung sprechen. Der öffentliche Diskurs über den Dopingbetrug wird auch dadurch geprägt, dass die Athleten fast immer in einer Opferrolle wahrgenommen werden. Sie sind die armen Rädchen im bösen Funktionärsgetriebe. Die verführten Athleten werden demnach von ihrer bösen Umwelt zum Dopingbetrug genötigt. Der Staat fordert Medaillen, Sponsoren möchten eine Rendite für ihre sportliche Investition, die Funktionäre benötigen Reputation und die Medien brauchen Helden. Diese Annahmen werden immer häufiger auch von Wissenschaftlern geteilt, die es eigentlich besser wissen müssten. Wirkliche Experten des Anti-Doping-Kampfes wissen sehr genau, dass die Betrugshandlungen im Hochleistungssport nahezu ausschließlich von erwachsenen Athleten zu verantworten sind. Sie bedienen sich willentlich verbotener Substanzen, ihre angebliche Unkenntnis erweist sich fast immer als Schwindel. Um des Erfolges willen folgen sie zweifelhaften Ratschlägen ihrer Berater, weil man mittels medikamentöser Unterstützung seine Erfolge langfristig sichern kann, solange sie nicht aufgedeckt werden. Für betrügende Athleten wurde und wird der Dopingbetrug zu einem finanziellen Kalkül. Das Risiko entdeckt zu werden, ist relativ gering, vor allem dann, wenn man sich jener Substanzen bedient, die derzeit vom Kontrollsystem noch nicht erfasst werden können. Nachkontrollen zu einem späteren Zeitpunkt sind nicht abschreckend, denn selbst dann, wenn eine Medaille Jahre später aberkannt wird, wie dies in diesen Tagen des Öfteren der Fall ist, so hat sich der Medaillenerfolg längst rentiert.

Die Stilisierung des Athleten als Opfer ist Kernstück einer Ideologie, die sich dadurch auszeichnet, dass man den Dopingkampf nach außen hin aktiv propagiert, die Verhältnisse im Inneren jedoch unberührt bleiben. Doping ist auf diese Weise zur unendlichen Geschichte des Hochleistungssports geworden. Alle Beteiligten, die bei dieser Geschichte eine Rolle spielen, haben sich mit diesem Sachverhalt arrangiert. Ein sauberer Hochleistungssport ist deshalb in weiter Ferne. Der Schutz der sauberen Athleten ist eine Chimäre. Dabei wäre eine Lösung des Problems äußerst naheliegend. Aus Opfern müssten Täter werden. Solidarität mit Tätern muss sich selbst verbieten. Anstelle einer falschen Anteilnahme muss Ächtung treten und bei mehrmaligem Betrug muss lebenslanger Ausschluss die Folge sein. Fair Play muss sich auch unter materiellen Gesichtspunkten lohnen und der überführte Betrug muss einen erheblichen ökonomischen Schaden zur Folge haben. Wäre all dies der Fall, so könnte man einen drastischen Rückgang der positiven Fälle im internationalen Hochleistungssport prognostizieren.

Letzte Überarbeitung: 31.07.2017