Fußball WM 2022 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen – Eine Nachbetrachtung

Es sind vor allem die Berichterstattungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und in den Leitmedien der Presse, die durch ihre Abbildung bestimmter Themen und Diskurse eine spezifische Realität, d.h. vor allem eine öffentliche Meinung konstruieren, die insbesondere in der Auslandsberichterstattung prägend ist für die Vorstellungen der deutschen Gesellschaft von einer anderen Region bzw. von einer anderen Nation. Die Fokussierung auf bestimmte Themenbereiche, die Berücksichtigung bestimmter Informationen bei gleichzeitigem Weglassen anderer führen dabei zur Ausformung bestimmter Vorstellungen und Meinungen über eine Nation und deren Gesamtbild, die Rückwirkungen auf den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit dieser Nation haben. Kommt es dabei zur Ausbildung eines einseitigen Diskurses und zu stereotypischen Argumentationsmustern und werden diese unreflektiert und unkritisch von den Umweltsystemen der Medien wie z. B. dem Politiksystem oder dem Wirtschaftssystem übernommen, so können auf diese Weise Freund- oder Feindbilder der jeweils sich im Blickpunkt befindenden Nation oder Gesellschaft entstehen. Das gegenseitige Verständnis kann dadurch geschwächt werden und eine Konfliktorientierung in den wechselseitigen Beziehungen wird dadurch begünstigt. 

Bei einer etwas genaueren Betrachtung der Katar-Berichterstattung aus Anlass der Fußball -Weltmeisterschaft 2022 zeigt sich, dass viele Beiträge in den Leitmedien der Presse und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sich in stereotypisierender Form auf Katar beziehen und bestimmte Klischees über das Land unreflektiert kolportiert wurden. Normativ abwertende Filmberichte und Kommentare von Katar als „Unrechtsstaat“, als „Ausbeuter von Arbeitsmigranten“, „Unterdrücker von Frauen“, als „Klimasünder“ und als „Unterstützer von Schurkenstaaten“ prägen das massenmedial konstruierte Bild von Katar. Ein Hinterfragen dieses Bildes fand und findet so gut wie nicht statt. Es besteht vielmehr die Gefahr einer Verfestigung der zumeist extrem versimplifizierten und verkürzenden Klischees in der deutschen Öffentlichkeit durch die Menge an Beiträgen, die diese Eindrücke verbreiten.
In der Themenagenda dieser Berichterstattung gab es viele blinde Flecken, über die zu berichten es ohne Zweifel lohnenswert gewesen wäre. So wurden Bereiche wie Religion, Soziales, Bildung, Wissenschaft, Technik und Kultur fast vollständig ausgeklammert. Der wünschenswerte Blick auf die Dynamik in diesen Feldern, die in Katar in den vergangenen Jahrzehnten zu beobachten war und deren Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen von Katar zum Beispiel zur arabischen Welt, aber auch zu den USA und zu Europa blieben bei dieser Art von Berichterstattung nahezu vollkommen verstellt. Eine eurozentrische Perspektive war hingegen bei dieser Art von Berichterstattung kaum zu übersehen. Der massive Fokus auf die Menschenrechtssituation war dabei angesichts der gleichzeitigen Vernachlässigung der Analyse der ökonomischen und sozialen Entwicklungen in Qatar überdimensioniert. Hinzukommt, dass eine seit langem kritisierte Medienlogik dazu geführt hat, dass die Themenauswahl neben der Aktualität häufig durch die Nachrichtenfaktoren „Krisen und Krisensymptome“, „Konfliktträchtigkeit“, „Negativität“,  „Elite – Focus“ und „Personalisierung“ bestimmt waren. 
Die Titel der Sendungen von ARD und ZDF, wie sie nach wie vor noch in deren Mediathek zu finden sind, sprechen dabei ihre eigene Sprache: “Katar-die WM der Lügen“, „Die Skandal-WM“, „Geheimsache Katar“, „WM der Schande“, „Katar – warum nur?“, „Ab in die Wüste“, „Katar und die Mär von der klimaneutralen WM“, „Wie Katar die Gier des Fußballs nutzt“. Eine rühmliche Ausnahme bildete dabei lediglich eine ARD-Dokumentation „Katar Inside“ von Ute Brucker, die sich bei ihrer Reise nach Katar auf eine interkulturelle Begegnung eingelassen hatte und bereit war Neues zu erfahren, was sie zuvor nicht gewusst und gekannt hatte. Das Resultat ihrer Begegnung war ein interkulturelles Lernereignis, an dem sich manche ihrer Kollegen und Kolleginnen ein Beispiel nehmen könnten. 

Bei früheren sportlichen Großveranstaltungen zeichnete sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen immer auch dadurch aus, dass seinen Zuschauern ein „Parallel-Programm“ angeboten wurde, bei dem eigens dafür bestellte Journalisten mit ihren Kamerateams im Gastgeberland unterwegs waren und mit ihren Features, Interviews und „Bildgeschichten“ dessen Kultur im Blick hatten und damit möglich machten, dass sich der deutsche Zuschauer auf eine ihm fremde Kultur einlassen konnte. Von einer derartigen Parallel-Berichterstattung war während der Fußball WM in Katar so gut wie nichts zu spüren. Dabei hätten sich Berichte aus einem Vielvölkergemisch, wie es in Katar angetroffen werden kann, und vielfältige Darstellungen zu Land und Leuten und deren Kultur in kaum einem anderen Land so intensiv angeboten, wie dies in einem arabischen Emirat mit seiner islamischen Religion, mitten in einer Wüste gelegen, der Fall ist. 
Über unendlich vieles hätte dabei berichtet werden können: Über den Falken, der für jeden männlichen Angehörigen des Al Thani- Clans das wohl wichtigste Tier in seinem Haus ist, über Flugwettbewerbe mit Falken, die draußen in der Wüste nahezu an jedem Wochenende stattfinden, über Kamelrennen, die mittlerweile ohne Reiter sich ereignen und bei denen ihre Besitzer auf den zur Rennbahn der Kamele parallel verlaufenden Straßen nicht nur ihre SUVs präsentieren sondern auch einen Einblick in die weit fortgeschrittene Digitalisierung der Gesellschaft von Katar geben. Berichte über weitere Freizeitaktivitäten wie das Hochseeangeln oder die gefährlichen Sanddünen-Automobilwettbewerbe hätten von Interesse sein können. Das besondere Modebewusstsein der Frauenwelt von Katar wäre angesichts der sonst sehr einseitigen Darstellung zur Rolle der Frau in dieser Gesellschaft eine interessante Abwechslung gewesen. Die hoch modernen Bildungseinrichtungen, in denen in Katar wie selbstverständlich Frauen und Männer als gleichberechtigte Lehrende tätig sind und deren Schüler und Schülerinnen und Studierende aus allen gesellschaftlichen Gruppen und den unterschiedlichsten Geschlechtern kommen. Auch Besuche in den meist sehr schönen Moscheen von Katar und ein eine intensivere Beschäftigung mit der Frage, durch was sich in der islamischen Religion Schiiten von Sunniten unterscheiden und warum in Katar eher Schiiten und in Saudi-Arabien eher Sunniten anzutreffen sind. Katars besondere arabische Küche mit ihren vielfältigen Zutaten und Gewürzen hätten ebenso das Thema einer Sendung sein können wie die äußerst süßen Nachspeisen und Backkünste der Konditoren von Katar. Die Schönheit der Wüste wie sie sich uns in Abhängigkeit der Tageszeitung präsentiert wäre ein ganz besonderes wichtiges Feature gewesen. Auch ein Einblick in die Flora und Fauna von Katar wäre von Interesse gewesen. Man hätte sich aber auch ein Feature wünschen können, in denen man sich mit den architektonischen Leistungen der international renommierten Architekten auseinandersetzt, die mit ihren Bauwerken die Skyline von Katar bzw. Doha  prägen. 
Wären die Verantwortlichen der deutschen Berichterstattung über diese Fußball WM bereit gewesen, ihre Augen in Katar zu öffnen und sich auf eine ihnen fremde Kultur einzulassen, so hätten sie gewiss noch über weitere und auch viele schöne Beobachtungen parallel zur bloßen Sportberichterstattung „erzählen“ können. Katar ist ein Land des Orients und für uns Europäer war dieser Orient schon immer sehr geheimnisvoll. Was kann für uns interessanter sein als wenn Geheimnisse gelüftet werden. In der mehr als fünfwöchigen Fernsehberichterstattung von ARD und ZDF über die Fußball WM 2022 in Katar war dies leider so gut wie nicht der Fall. 

In grundsätzlicher Weise ist dabei durchaus zu würdigen, dass zu einer deutschen Medienberichterstattung insgesamt eine kritische und kritisch-reflektierende Herangehensweise an Politikereignisse und Akteure als deren wichtigster Baustein gehört. In Bezug auf die Katar-Berichterstattung war dabei jedoch auffällig, dass die konflikthafte „Kernagenda“ in starkem Maße von einer deutschen Selbstpositionierung gegenüber Katar bestimmt war. Teilweise wurde dabei die kritische Information zu Gunsten einer Art „Mission“ zurückgestellt. Anders lassen sich wohl die Auftritte der deutschen Bundesministerin des Innern vor und während der WM in Katar wohl kaum interpretieren. Außerdem verkam die Debatte über die deutschen Beziehungen zu Katar immer wieder zu einem „Schaulaufen“ deutscher Politiker, Sportfunktionäre, Sportexperten, Fußballstars und Trainern und zu einem Herausstellen deren Aussagen und Meinungen, ohne dass eine tatsächliche Analyse der Beziehungen in ihrer historischen und gegenwärtigen Ausgestaltung vorgenommen wurde. Ein Lerneffekt über Katars Rolle in den internationalen Beziehungen und ein adäquater Umgang mit diesem Land durch die Bereitstellung relevanten Wissens und relevanter Fakten und Sichtweisen konnte auf diese Weise so gut wie nicht erzeugt werden.
Dass sich die Medien westlicher Gesellschaften für die für sie besonders relevanten Konzepte wie „Demokratie“, „Liberalität“ und „Freiheit“ engagiert einsetzen und sie im Abgleich zu den Verhältnissen im Gastgeberland einer Fußball-Weltmeisterschaft diskutieren, ist naheliegend und angebracht. Verständlich ist auch der journalistisch- anwaltschaftliche Einsatz zu Gunsten der Opfer von Menschenrechtsverletzungen, wenn diese Problematik des Gastgeberlandes Katar zur Darstellung gebracht wurde. Problematisch erschien dabei jedoch die Einordnung dieser Thematik und die Orientierung an Dissidenten oder Aktivisten ohne die andersartigen Sichtweisen der Bürgerinnen und Bürger von Katar angemessen zu berücksichtigen. Auch solche Experten, insbesondere aus dem Bereich der Politikwissenschaften, die bei der Beurteilung der Menschenrechtssituation von Katar in Bezug auf das quantitative und qualitative Ausmaß der Verletzungen zu anderen Ergebnissen gekommen sind als die bevorzugt zur Darstellung gebrachten Erkenntnisse der Menschenrechtsorganisationen wurden in der medialen Berichterstattung nahezu ausgeklammert. Selbst deutsche Experten, die über viele Jahre an den Hochschuleinrichtungen von Katar in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen gelehrt haben, bzw. noch immer lehren, wurden so gut wie nicht gehört. 

Für Claus Kleber, dem ehemaligen Chef des „Heute-Journals“ ist das Fernsehen ein deutsches Kulturgut und er meinte, dass wir uns an diesen Sachverhalt erinnern sollten, wenn wir über das öffentlich-rechtliche Fernsehen urteilen. Betrachtet man die Diskussion über das deutsche Fernsehen, die in den vergangenen Jahren geführt wurde, so war von einem Kulturgut dabei allerdings nur selten die Rede. Die Semantik des Wortfeldes „Fernsehen“ war und ist vielmehr – folgt man einem großen Teil der öffentlichen Meinung über das Fernsehen – überwiegend negativ besetzt. Betrachtet man das mittlerweile üblich gewordene Sendeprogramm von ARD und ZDF so kann dies kaum überraschen. Ein Überangebot von Kriminalfilmen während der Hauptsendezeit, unzählige Telenovelas, Quiz-Serien, Kochshows, Comedy-Serien, Trödelshows, Krimi-Serien und Anwalt-Serien im Vorabendprogramm der Hauptprogramme, aber auch sämtlicher Dritten Programme: „Die Kirche bleibt im Dorf“, „Rosenheim Cops“, „Küchenschlacht“, „Servus Baby“, „Rote Rosen“, „Sturm der Liebe“, Dahoam is Dahoam“, „In aller Freundschaft – die jungen Ärzte“, „Inspektor Barnaby“, „Hubert und (ohne) Staller“, „Morden im Norden“, „WaPo-Bodensee“, „Großstadtrevier“, “Notruf Hafenkante“ “Die Kanzlei“, „Der Dicke“, “Bares für Rares“, “Gefragt-Gejagt“, “Wer weiß denn sowas?“. Allein die Titel machen deutlich wie sehr sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen mit seinem „Kulturbegriff“ den angeblichen Konkurrenten des privaten Fernsehens angenähert hat. Noch hinzu kommen eine ganze Reihe von Talkshows, deren Moderatoren nicht selten nur ihren eigenen Marktwert pflegen. Von einem sinnvollen Format der Wissensvermittlung kann dabei meist nicht gesprochen werden. Besonders ärgerlich sind dabei das mehrfache Wiederholen all der genannten Sendungen, aber auch auch die kaum noch zu übersehende Propagandaarbeit der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender zu Gunsten der Musikindustrie. Nahezu täglich werden die durch Agenturen vermittelten Sänger und Musikgruppen in den Morgen-Magazinen und in den Regionalprogrammen der Dritten Programme präsentiert. Die musikalische Qualität ist dabei meist völlig unzureichend und das eigentlich für ein öffentlich-rechtliches Fernsehen als verpönt zu geltende „Product Placement“ kommt einer billigen Verkaufsschau gleich. 

Das Fernsehen als Kulturgut zu betrachten, hat allerdings durchaus seine Berechtigung. Denn der Staatsvertrag für Rundfunk und Tele- Medien gibt dem Fernsehen diesen wichtigen und besonderen Auftrag mit auf den Weg: „Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben in ihren Angeboten der Bildung, Information, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Sie haben Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten“!  Betrachten wir diesen Auftrag und beobachten wir die Diskussion, die schon seit längerer Zeit und auch derzeit über das Fernsehen geführt wird, so stellt sich die Frage, wie es möglich geworden ist, dass der Sinn dieses Massenmediums nicht nur in der Zeit vor und während der Fußball Weltmeisterschaft 2022 ganz offensichtlich in Vergessenheit geraten ist. 

Wenn im Nachhinein einige Experten die Auffassung vertreten, dass das schlechte Abschneiden der deutschen Fußballnationalmannschaft nicht zuletzt auch auf die Berichterstattung von ARD und ZDF im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft zurückzuführen ist, so bedürfen derartige Meinungsäußerungen zumindest einer genaueren Überprüfung. Dass die ohnehin sehr kurze Vorbereitungszeit der deutschen Nationalmannschaft auf das WM-Turnier erheblich durch die politische Inanspruchnahme und Bevormundung durch Mitglieder der Bundesregierung, durch zahlreiche Bundestagsabgeordnete und durch einige verantwortungslos handelnde Funktionäre aus den Fußballorganisationen erheblich beeinträchtigt und gestört wurde, kann m.E. zu Recht beklagt werden. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen war dabei der entscheidende Mediator, durch den es gelang, eine selbstgerechte, besserwissende und belehrende deutsche Gesellschaft aus Anlass einer Fußball-Weltmeisterschaft international zur Darstellung zu bringen, was eine nahezu vollständige Isolierung Deutschlands in dieser Angelegenheit zur Folge hatte. Wenn nun in den gleichen journalistischen Formaten der Berichterstattung nahezu dieselben Personen in Talkshows und Magazinsendungen, aber auch in der Nachrichtenberichterstattung, die von ihnen zu verantwortenden Fehler dem DFB- Sportdirektor, dem Nationaltrainer, aber auch der gesamten Nationalmannschaft vorwerfen und Konsequenzen bis hin zur Entlassung von Personen fordern, als ob die Herren und Damen Talkmaster, Redakteure und Moderatoren von ARD und ZDF es schon immer besser gewusst haben, dann kann man dies nur als ein in seiner Unverschämtheit und Heuchelei  kaum zu überbietendes Ärgernis bezeichnen. 

¹ Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf „gendergerechte“ Sprachformen – männlich weiblich, divers – verzichtet. Bei allen Bezeichnungen, die personenbezogen sind, meint die gewählte Formulierung i.d.R. alle Geschlechter, auch wenn überwiegend die männliche Form steht.

Letze Bearbeitung: 21. 12. 2022